Violet - Die 7. Prophezeiung - Buch 1-7

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die Schmerzen kommen und gehen wie Ebbe und Flut. Das ist das einzig Positive. Ich weiß, wann es wieder soweit ist. Ich zähle die Minuten bis zur nächsten Explosion. Sieben, Sechs, Fünf, gleich geht es wieder los. Sie kommen etwa alle zehn Minuten, aber die Abstände zwischen den Schmerzwellen werden von Mal zu Mal kürzer. Ich halte den Atem an. Zählen, zählen, atmen, dann geht es vorüber und so ist es auch, bis zur nächsten Welle.

Er beobachtet mich, aber ich gestatte ihm keine Schwäche zu sehen, aber der Schweiß auf meiner Haut ist ein mieser Verräter. Vier, drei, zwei, jetzt geht es wieder los. Jetzt schon? Ich kann nicht mehr! Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, seit dem ich versuche, stark zu sein.

ICH KANN NICHT MEHR!

Ich klammere mich an den Sitz und schreie dagegen an. Gegen meine Schwäche und die Schmerzen. Brülle mir die Seele aus dem Leib, bis meine Stimme keine Stimme mehr ist, sondern nur noch ein ängstliches Wimmern.

Er sagt etwas zu mir, berührt meine Hand, aber die Worte und seine Berührung schaffen es nicht bis in meinem Verstand. Ich sehe ihn kaum, er sieht aufgeschreckt und verzweifelt aus. Sein Gesicht, seine Worte, seine Hände werden fortgerissen von der nächsten Schmerzwelle, die an mir bricht wie gezündetes Dynamit.

Noch etliche weitere schreckliche Anfälle schütteln mich durch und ich bekomme es gar nicht mit, als der Helikopter landet, bemerke nur in der kleinen, kurzen Verschnaufpause, wie still es plötzlich um mich herum geworden ist und dass ich ganz alleine bin. Er ist hinausgestürmt, nur der Schmerz ist noch bei mir geblieben und ich erwarte noch die nächste Welle, bevor er zurückkommt und sie, für die ich keine Namen habe und keine Gesichter kenne, mich endlich von diesen unmenschlichen Qualen befreien werden. Ich spüre, wie sich meine Gedärme zusammenziehen, auf die nächste Attacke vorbereiten und ich werde wieder schreien, so laut ich noch kann, weil das das Einzige ist, das ich tun kann.

Oh Gott, dieses Mal ist es anders, noch gewaltiger. Keine Welle! Schlimmer! Ich schreie… schreie… schreie. Wünsche mir, dass es aufhört. Ich bitte. Ich fluche. Bitte um Gnade. So wie die vielen Male zuvor. Bitte, es soll einfach aufhören. Es – tut – so – weh. Die Erkenntnis, dass ich hier ganz alleine sterben könnte, macht mir eine Höllenangst. Ich schreie meine Todesangst in das Inferno aus Schweiß, Schmerzen und Blut.

Blut?

Mir läuft es kalt über den Rücken und dann, plötzlich, ist es vorbei?

Plötzlich!?

Irgendwie?

Mir fehlt das richtige Wort.

Vielleicht: befreiend?!

Tränen steigen in meine Augen.

Ein Teil von mir ist gestorben, um zu leben. Ja, genauso fühlt es sich an.

Die Schmerzen sind noch da, aber sie fließen langsam ab. Ebbe. Ich schaue unter mein durchnässtes Shirt, will meine Wunde und das Blut sehen und bin sprachlos.

Da ist etwas. Ich habe ein neues Tattoo und seine Konturen leuchten weiß, als hätte jemand in mir ein kleines Licht angezündet. Ich lege vorsichtig meine Hand darauf. Draußen höre ich jetzt Stimmen. Seine Stimme ist auch dabei und die von anderen. Helfer, Mediziner, Unbekannte. Hoffentlich keine Vollstrecker.

Ich spüre eine minimale Bewegung unter meiner Hand, auf meinem neuen Tattoo. Ich bin verblüfft. Es bewegt sich! Das Tattoo bewegt sich! Himmel!

Haben mich die Schmerzen jetzt doch in den Wahnsinn getrieben? Und die Wunde? Sie blutet nicht. Ich werde das überleben.

Gleich kommen sie zu mir in den Helikopter. Die Schmerzen sind noch immer da, aber ich kümmere mich nicht um sie, denn mich beflügelt ein Glücksgefühl, das nicht hierher passt. Sterbe ich jetzt doch noch? Ich blicke an mir hinab und betrachte erneut das Tattoo der Bestie auf meiner Haut, wie es sich zusammenringelt, einem kleinen Drachen ähnlich und nur noch sachte leuchtet. Fast so, als würde es sich auf mir Schlafen legen.

Es existiert, es atmet auf seine Weise und es ist ein Teil von mir. Und dann hört es ganz auf zu leuchten und liegt ganz ruhig da. Nicht zu spät, damit es mein Geheimnis bleibt, denn jetzt ist er zurückgekommen.

Kapitel 2.2

Ich sehe nichts. Die Nacht hat ihre Flügel über der Sektion 0 ausgebreitet und der Himmel ist rabenschwarz, sternenlos. Wie lange hat der Flug gedauert?

Ich liege auf dem Rücken, auf einer Trage mit Rädern und Ärzte in weißen Kitteln, so wie Asha, nur älter, rollen mit mir davon. Meine Hand ruht auf meinem Bauch, meinem Baby, meinem neuen lebendigen Tattoo.

Die Lichter des Helikopters verschwinden aus meinem Blickfeld und er, ist neben der Trage und erteilt Befehle. Und es, mein lebendes Tattoo, verhält sich ganz ruhig, aber mir scheint es, als könne ich das leise Flüstern seines Atems in mir hören.

Die Luft ist kühl, um einiges kälter als in Sektion 13. Die Trage rüttelt mich ganz schön durch, bis sie mich über eine Schwelle schieben. Eine Schwelle von kalt zu warm, von finster zu blendend hell, von natürlich zu künstlich, medizinisch rein.

Die Wände scheinen aus purem Licht zu bestehen, sind nicht linear, nicht massiv. Einer der Menschen in weiß, eine Frau mit glänzenden, blauen Haaren, die leuchten und sich bewegen wie Flammen, beugt sich über mich.

»Du wirst nichts spüren.« Dann schießt sie mit einer medizinischen Pistole in meinen Oberarm. Es tut kaum weh. Auf meiner ausgereizten Schmerzskala irgendwo im Nullkommanullnulleins Bereich. Die vollkommene Dunkelheit des Narkosemittels greift mit ihren Schwingen um sich und hüllt meine Sinne ein. Asha hat keine silberne Pistole, aus der sie Flüssigkeiten in Oberarme schießen kann, die die Sinne vernebeln. Das Einzige, das ich noch wahrnehme, sind seine Befehle.

»Lösche ihre Erinnerungen. Alle! Sie soll sich an nichts erinnern.« Ich höre seine Worte. Der Klang in seiner Stimme ist nicht wiederzuerkennen. Ich verstehe, was er sagt, aber ich kann mich nicht rühren, mich nicht zur Wehr setzen. Ich kann nur hoffen, dass ich mich erinnern werde an seine Worte. Dass ich mich an das Gesicht des Mannes erinnere, den ich für diese Befehle töten werde. Dass ich mich an seinen Geruch erinnern werde. Warum tut er mir das nur an?

Es ist nicht das erste Mal, dass sie mir alles nehmen. Smaragdgrüne Substanzen werden sie mir in den Kopf spritzen, um mich, um meine Erinnerungen zu löschen. Mir kommt ein schrecklicher Gedanke. Wie oft haben sie das schon mit mir gemacht? War er es? Erinnere ich mich aus diesem Grund an seinen Duft?

Aber dieses Mal wird etwas zurückbleiben. Ein lebendiges Tattoo, das ich auf rätselhafte Weise in diese Welt geboren habe.

»An welche Sektion wird sie verkauft?«, höre ich nur noch leise die Stimme der Frau mit den blauen, flammenden Haaren.

»Keine. Ich will sie behalten«, sagt er.

»Wenn das die Gesandten erfahren, dann bist du geliefert!«

»Sie werden es nicht erfahren!«

Die Gesandten? Ich habe es gewusst! Er ist kein Gesandter. Aber wer ist er dann? Er kommt mir ganz nah, ich kann es riechen.

»Sie wird nicht verkauft, ich habe etwas anderes mit ihr vor«, höre ich ihn sagen, so nah, so nah…

So…

Kapitel 2.2

Ich fühle eine Berührung auf meiner Schulter, die mir eine Gänsehaut verursacht. Sanft und zärtlich. Ich höre Stimmen, die ganz nah sind, sich aber meilenweit entfernt anhören.

Eine unbekannte Frauenstimme: »Was machst du hier? Es ist dir nicht gestattet, hier zu sein.«

Eine unbekannte Männerstimme: »Ich frage mich, ob es richtig ist, was ich tue?«

Sie: »Von was sprichst du?«

Er: »Von ihr.«

Sie: »Wie du sie ansiehst!«

Er: »Kann sie uns hören?«

Ja, kann ich!

Sie: »Nein, sie ist narkotisiert.«

Er fragt: »Sie kann uns sicher nicht hören?«

»Schmerz- und Bewusstseinsausschaltung. Ihr Wahrnehmungsvermögen ist maximal gemindert, sie kann uns nicht hören. Todsicher!«

Doch, doch, ich höre jedes Wort.

»Ich will, dass du die Behandlung abbrichst.«

»Adam, dafür ist es zu spät.«

Über was sprechen die beiden?

»Ich will nicht, dass du ihre Erinnerungen löschst und ersetzt.«

»Das ist indiskutabel. Wir haben schon damit begonnen. Der Großteil ihrer Erinnerungen ist bereits unwiederbringlich gelöscht und der Prozess ist nicht mehr zu stoppen. Die Folgen könnten fatal für sie sein, wenn wir die Behandlung jetzt abbrechen.«

Folgen? Erinnerungen gelöscht?

Der Mann, dessen Name Adam ist, schweigt.

Sie spricht stattdessen weiter: »Adam, das ist eine wirklich komplizierte Sache. Sie hatte verdammtes Glück gehabt, dass sie überhaupt überlebt hat, bei so viel Blut, wie sie verloren hat.«

»Ich habe kein Blut gesehen?«

»Sie hatte innere Blutungen und das Gewebe ist stark beschädigt, aber wir bekommen das schon wieder hin. Zwei Wochen im künstlichen Koma werden ausreichen und sie ist wieder hergestellt. Es werden kaum Narben zurückbleiben, nur diese bizarren Tattoos.«

Sie kommt näher, ich spüre das und ich höre ihre Absätze auf dem Boden klacken.

»Ich würde diese Muster auf ihrer Haut gerne näher untersuchen. Sie sind anders. Ich habe schon von so etwas gehört. Menschen, die Tattoos bekommen, wenn sie Bestien töten. Das ist eine einmalige Chance, mehr darüber zu erfahren«, haucht sie. »Außerdem hätten wir auch endlich wieder mehr Zeit für uns. Ich habe dich wirklich sehr vermisst.«

»Lass das!«

»Was hast du? Sei doch nicht so schüchtern. Was hältst du von einer Willkommensparty – nur wir beide«, schnurrt sie.

 

»Das war einmal. Ich habe kein Interesse.«

»Du weist mich ab?«

»Weil zwischen uns Schluss ist!«

»Warum? Wegen ihr?«

»Kristen, lass es sein. Es hat nichts mit ihr zu tun. Zwischen uns war es schon aus, bevor ich sie gefunden habe.«

»Das hört sich an, als hättest du nach ihr gesucht.«

Adam sagt nichts. Ich höre, wie sich Kristen entfernt.

»Nun, wir haben mit der retrograden Amnesie…«

»Sprich so mit mir, dass ich es verstehe«, unterbricht sie Adam.

Ich höre ihre unterdrückte Wut, als sie weiterspricht: »Wir leiten die letzte Phase, das Ausradieren aller Erinnerungen, beider Hippokampusregionen in ihrem Gehirn, morgen ein. Danach setzen wir ihr die neuen Erinnerungen ein.«

»Nein, das tust du nicht. Was haben wir für ein Recht, ihr alle Erinnerungen zu nehmen? Brich die Behandlung ab.«

Keiner von beiden spricht für eine Weile. Ich fühle mich jämmerlich, kann mich nicht bewegen, sondern nur wie ein Opfer ihren Stimmen lauschen.

»Wir haben das schon hunderte Male gemacht und damit ein Vermögen verdient. Wir machen das wie immer. Du bezahlst mich und die Gesandten bezahlen dich. Und ich gebe dir einen besonderen Rabatt«, schnurrt sie jetzt wieder wie eine Katze.

»Ich habe gesagt, du sollst das lassen! Zwischen uns ist es aus und Kunden gibt es dieses Mal auch keine.«

Kristen sagt, distanziert, gekränkt: »Du willst sie für dich behalten? Willst sie an keine der Sektionen verkaufen? Was hat sie, das ich dir nicht bieten kann?«

»Was redest du da für einen Schwachsinn? Du verstehst das einfach nicht.«

»Wenn das so ist, dann kostest Sie das Dreifache!«

»Einverstanden. Ich bezahle jeden Preis, aber ihre Erinnerungen werden nicht gelöscht und es gibt keine einprogrammierten neuen, falschen Erinnerungen. Ich will keinen Roboter in Menschengestalt.«

»Aber dafür ist es zu spät. Wir können an diesem Punkt nicht aufhören.«

»Jaja, ich habe das alles schon verstanden, aber ich glaube dir kein Wort. Du machst sie wieder gesund und gibst mir sofort Bescheid, wenn sie wach ist.«

Ich bin wach!

»Adam, du verstehst nicht. Man kann so eine Sache nicht einfach so abbrechen. Sie könnte einen völligen Verlust ihrer kognitiven Fähigkeiten erleiden«

»Mach es, ich bin mir sicher, dass es funktionieren wird.«

Ich höre, wie er den Raum verlässt.

»Wir haben das Serum für die neuen Erinnerungen schon auf ihre DNA katalysiert. Alle Vorbereitungen für die Löschung und…«

Adam, kaum noch zu hören: »Tu es einfach und hör auf jammern.«

»Adam?! Adam!«

Pause. Er ist schon weg.

Kristen flüstert. Zu wem? Zu mir?

Nein, sie führt ein Selbstgespräch: »Dieser Mistkerl. Dieser Schuft. Dieser miese Betrüger. Aber warte. Nicht mit mir. Das wird er noch bereuen, sich mit mir anzulegen. Dich mir vorzuziehen. Was bildet der Typ sich ein?«

Sie streicht mit ihren Fingern über meine Stirn.

»Eigentlich schade, da stecken bestimmt viele schöne Erinnerungen hinter deinem hübschen Gesicht.« Ich spüre ihre Hand auf meinem Bauch liegen. »Mich würde brennend interessieren, wo diese Tattoos herkommen. Bist du einer dieser Symbionten, vor denen alle solchen Schiss haben? Ich bin mir sicher, du weißt etwas darüber und ich werde es aus deinem Gehirn heraussaugen. Bevor - bevor ich dich lösche. Mir egal, was Adam will. Natürlich könnte ich es abbrechen. Adam kennt mich und meine Fähigkeiten nur zu gut. Aber warum sollte ich das tun?« Ihre Stimme wird eiskalt und böse und eine nie gekannte Angst kriecht durch meinen Körper. Panisch verfolge ich jedes Wort, das aus ihrem Mund gleitet.

»Und ganz bestimmt fällt mir auch noch etwas für diesen Verräter Adam ein. Wie er dich angehimmelt hat? Wie er dich berührt hat? Zwischen ihm und mir ist es aus und das soll nichts mit dir zu tun haben? Dass ich nicht lache! Du bekommst eine Programmierung, ein Geschenk, von mir ganz persönlich. Nur für dich und für Adam. Ich bin gespannt, wie ihm die kleinen Korrekturen in deiner Persönlichkeit gefallen werden? Tut mir leid, Kleine. Sieh es realistisch. Jeder Augenblick im Leben ist nichts weiter, als ein Schritt näher zum Tode hin. Das ist eine unausweichliche Tatsache. Schade, dass deine und Adams letzten Schritte gezählt sind. Manchmal meint es das Leben einfach nicht gut«, flüstert sie böse in meinen Atem. Sie spricht nicht weiter. Sie macht mir solche Angst. Sie klingt wie eine Verrückte, von ihren eigenen Gedanken Besessene.

Kapitel 2.5

Etwas Warmes kitzelt mich an der…

An meiner…

An meiner Nase?

Ich habe eine Nase und ein…

Gesicht?

Meine Gedanken kriechen…

Ganz behutsam öffne ich meine…

Augen?

Schaue mich um. Ich erkenne das, was ich sehe, benötige aber Zeit, um zu wissen, wie man es nennt. Meine Gedanken sind zähflüssig wie…

Sirup.

Langsam kommen sie in Gang wie ein… mir fällt das Wort nicht ein. Wie ein? Wie bei einem Uhrwerk greifen die Zahnrädchen langsam ineinander wie ein Herz, das einen am Leben hält.

Tick…

Tick…

Tick, Tack.

Das Uhrwerk, mein Gehirn, mein Herz kommt in Schwung. Ich blicke mich um, erinnere mich an so etwas wie? Wörter.

Sehe ein Fenster.

Es ist riesig. Wieso auch immer. Denn es kommt mir vor wie das erste Fenster, das ich in meinem Leben sehe.

Goldenes Sonnenlicht hat mich an der Nasenspitze gekitzelt. Wie schön sich das angefühlt hat. Ich will die Sonne gleich noch einmal kitzeln lassen.

Ich sehe vier Wände, die an den Ecken verschmelzen. Ein normales Zimmer sollte vier Wände haben. Das hier hat nur eine fließende, durchgehende Fläche. Wunderschön!

Ein Bett, in dem ich liege, bis zum Hals zugedeckt, mit einer weißen Baumwolldecke.

Wo bin ich gelandet?

Wer hat mich hierher getragen? Ein Gedanke, der mich weiterdenken lässt. Mich beschäftigt eine Frage. Wo war ich zuvor? Mein Gehirn macht einen Flickflack. Einen Flickflack? Einen Handstützüberschlag rückwärts.

Oh shit. Wer bin ich überhaupt?

Ich bin ich, denke ich einfach und der Gedanke fühlt sich frei und gut an. Ich lebe, setze mich gerade in meinem Bett auf. Bin mit mir allein und weiß nicht, wie mein Name ist?

Wer bin ich? Macht diese Frage überhaupt Sinn, sie zu stellen?

Ich bin ein Mensch. Eine Frau. Bin jung. Eine junge Frau. Eindeutig, dazu muss ich mich nicht im Spiegel sehen. Die Zahnrädchen in meinem Kopf laufen jetzt auf Hochtouren und das macht Spaß. Langsam stehe ich auf.

Uff, meine Muskeln, jede einzelne Muskelkontraktion schmerzt, als hätte ich mich seit Wochen nicht bewegt.

Die Schläuche, die in meinem Unterarm stecken, beseitige ich ohne Umwege. Tut nicht einmal weh und blutet kaum. Das Piepsen von dem Gerät, dessen Name ich nicht kenne, nervt mich nicht. Ich finde das Geräusch sogar interessant. Es sind nur ein paar Schritte zu dem Spiegel an der Wand. Nur ein paar Schritte, um mich zu sehen.

Ich schließe meine Augen, trete blind vor das Glas und atme tief ein und aus. Einmal. Zweimal und ein drittes Mal.

Es hört sich so verrückt an, aber ich werde mich gleich zum ersten Mal im Spiegel sehen. Wie das sein kann, interessiert mich im Moment nicht. Nicht mehr. Der Moment zählt!

Ich will dieser jungen Frau, die ich sein soll, in die Augen blicken. Ihr begegnen. Blitzschnell schlage ich meine Lider auf.

Sie sind blau und dicht bewimpert! Sie sind klar und funkeln mit den Sonnenstrahlen um die Wette. Wow. Die junge Frau im Spiegel legt den Kopf schief, lächelt mich neckisch an. Sie legt die blonden, glatten Haare über die halbnackte Schulter und zeigt mir ihre Kehle. Diese Stelle, wo das Blut unter der blassen Haut in ihrem Hals entlang strömt.

»Du kommst mir vertraut vor«, sage ich zu ihr. Zu mir. Ich mag mich spontan. Okay, vielleicht bin ich (oder ist es doch nur mein Spiegelbild) an den Armen und Beinen etwas dünn. Aber das bekommt man schon wieder hin. Mein Körper ist kurvig, weiblich und meine Bewegungen wirken selbstsicher. Plötzlich bemerke ich etwas. Etwas, das da aus dem Nachthemd guckt, nahe an meinem Halsansatz. Es sieht aus wie dünne Tinte auf blassem Pergament. Das Pergament ist meine helle Haut. Wie keltische Muster, wie kleine Drachen. Ein Tattoo! Ich knöpfe das Nachthemd ein Stück auf. Das Tattoo bedeckt ein Drittel meines Dekolletés. Ich schiebe das Nachthemd die Schulter hinab.

»Wow.«

Es ist sehr schön. Außergewöhnlich. Da? Da ist noch eins! Und noch eins und noch eins…

Ich ziehe das Nachthemd tiefer. Unter meiner linken Brust beginnt eine feine, hauchdünne, filigrane Form, sich auf die Rückseite meines Körpers zu winden!? Ich will mehr sehen, ziehe das Hemd ganz aus, bin sprachlos.

»Mach den Mund zu!«, sage ich zu dem Spiegelbild. Mein ganzer Oberkörper ist ein lebendes Kunstwerk. Unaufdringlich, bizarr, unbeschreiblich schön. Sehnen, Muskeln und Tattoos verschmelzen harmonisch miteinander. Ich schiebe die Baumwollhose an meinem linken Bein etwas höher. Auch dort? Ich bin verblüfft! Auf meinem Rücken, Beinen, Hüften, überall treffen sich unsere Blicke, die der Tattoos und meine. Wollen sie mir etwas über meine Vergangenheit sagen? Will ich das überhaupt wissen? Ja, unbedingt.

Ich kann mich nicht entscheiden, welches das Schönste von ihnen ist. Vielleicht das kleine Drachenwesen auf meinem Bauch, das dort so eingekringelt liegt, als würde es schlafen?

Die Tür geht auf und schneller, als ich es mir zugetraut hätte, bedecke ich meinen entblößten Oberkörper mit dem zerknitterten Nachthemd und meinen dürren Armen.

Kapitel 2.6

In den Raum, der keine Ecken hat, tritt eine Frau. Ich bin größer als sie, obwohl sie Stiefel anhat und ich den kühlen Boden unter meinen nackten Füßen spüre. Sie sieht älter als mein Spiegelbild aus. Da fällt mir ein, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie alt ich tatsächlich bin. Sechzehn? Siebzehn? Vielleicht auch achtzehn? Sie ist Mitte zwanzig, garantiert und hat eine Präsenz zum niederknien.

Ihre Haare sind flammenblau und ihre Augen versprühen grüne Funken. Sie trägt ein schulterfreies, violettes Kleid bis zu den Knien und schwarze Stiefel mit hohen Absätzen, die ihre schmalen Beine großartig zur Geltung bringen.

»Wie ich sehe, habt ihr schon Bekanntschaft gemacht. Du und dein Spiegelbild. Und gefällst du dir als Pyjamakriegerin? Ich war so frei und habe dir die Haare etwas geschnitten. Sie sind kürzer und frecher als früher. Aber was rede ich da? Daran erinnerst du dich ja nicht.«

Sie tritt einen Schritt näher an mich heran. »Tut mir leid, wenn ich dich überfordere. Ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Ich bin Kristen.« Sie lacht. »Es ist jedes Mal ein Erlebnis. Tut mir leid, aber du solltest dein Gesicht sehen.« Ich blicke in den Spiegel und weiß sofort, von was sie spricht.

Ich mache meinen Mund zu und verscheuche den bescheuerten Gesichtsausdruck. Lächle sie auch an. »Du weißt, wer ich bin?«

»Natürlich weiß ich es.«

»Kannst du mir vielleicht sagen, wie mein Name ist?«

»Ich könnte dir sagen, wie dein Name war. Ja, das könnte ich. Aber ich werde es nicht tun?«

»Wieso nicht?«

»Weil? Sagen wir einmal, meine ärztliche Schweigepflicht es mir verbietet, mich in die Angelegenheiten meiner Kunden und meiner Patienten einzumischen. Weißt du, was ärztliche Schweigepflicht bedeutet?«

»Ich glaube ja.«

»Gut. Du bist hellwach. Viel aufgeweckter als die meisten anderen. Fühlt sich das seltsam an, sich an nichts zu erinnern und trotzdem alles zu wissen?«

»Alles?«

»Naja, vieles!«

»Was ist mit mir passiert? Was für eine Patientin bin ich? Warum kann ich mich an nichts erinnern?«

»So viele Fragen? Nun, du kannst dich doch erinnern. Du weißt, wie man spricht, wie man sich bewegt, wie man kommuniziert. Du kennst doch das Wort kommunizieren? Oder?«

»Ja. Es ist das Gegenteil von schweigen.«

»Siehst du. Du erinnerst dich.«

»Aber ich weiß nicht, wer ich bin?«

»Komm schon, Schätzchen. Wer weiß das schon. Das ist eine philosophische Frage.«

»Ich kenne meinen Namen nicht«, sage ich und setze mich auf das Bett, ziehe meine Beine hoch und umklammere sie und lege meinen Kopf auf meine Knie. Sind das alles Gesten, die schon früher zu mir gehörten?

 

Kristen beobachtet mich amüsiert und schlendert zu dem Gerät, dessen Name ich nicht kenne. Das Piepsen hört abrupt auf, als sie daran herumfummelt. »Du kannst neu anfangen. Sieh es positiv. Du sitzt hier. recht hübsch, aufgeweckt, gesund, sozusagen frisch geboren. Ach, wo wir gerade beim Thema sind. Du solltest dich frisch machen und du solltest dir etwas anderes anziehen, überhaupt mal etwas anziehen.« Sie grinst und ihr linkes Auge zwinkert mir zu. »Den Korridor entlang, dann links halten. Dort findest du alles, was du brauchst und ich habe ein paar hübsche Sachen besorgt. Such dir einfach etwas aus. Ist alles für dich. Und pass auf, du lagst eine ganze Weile im künstlichen Koma. Deine Muskeln brauchen ein paar Tage, bevor sie sich wieder an die Belastung gewöhnen«, sagt sie und ich nicke und stelle fest, dass man auch schweigend kommunizieren kann.