Tasuta

Violet - Verletzt / Versprochen / Erinnert - Buch 1-3

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kapitel 14

Offensichtlich hat Jesse Nachrichten verschickt. Sie liegen zwar Wochen zurück, aber die letzte wurde erst kürzlich, vor zwei Tagen versendet. Vor zwei Tagen? Himmel, könnte mir mal bitte jemand erklären, wie man atmet. Vor zwei Tagen versendet, an Flavius. Mein Herz setzt wieder ein. Wie lange habe ich jetzt nichts mehr von meinen Freunden gehört? Von Jesse? Diese Zeilen hat er geschrieben.

Ich erinnere mich an Sektion 13.

Jesse und ich standen oft mit Flavius in Kontakt, wenn wir in den Zonen auf Patrouille waren.

Aber was hat Jesses Flex-Screen hier zu suchen? Bedeutet das wirklich, dass er nicht in Sektion 13 ist? Dass er hier ist? Hier war? Vor zwei Tagen?

Ich habe meine Beine ausgestreckt und halte das Flex-Screen in meiner zittrigen Hand. Ich falte es ganz auf, berühre die erste Nachricht mit zwei bebenden Fingern.

Sie leuchtet auf.

Öffnet sich. Ich erkenne sofort, dass es Jesses Worte sind, die ich lese.

Dass er es ist, der berichtet, wo er war, was er sah. Ich erinnere mich an seine Berührungen auf der Krankenstation. An den Wunsch in mir, ihn zu küssen, damals im Skygate. Ich streiche unwillkürlich über das Papier, das keines ist.

Gesendet: Di 100975 21:21

An: FGS, Sek 13

Wir haben gegen Mittag Zone 4 und 5 überflogen. Hier gibt es keine Bestien. Keinen Krieg. Sie haben uns belogen. Sie haben Raketen auf Flüchtlinge aus Sektion 13 geschossen und moderne Flugobjekte (ich denke Entwicklungen der Gesandten) haben die Überlebenden mit tödlichen Blitzen ermordet. Grausam.

Asha meint, wir standen die ganze Zeit auf der falschen Seite. Ich frage mich, was oder wer die andere Seite ist? Wir sind fast einen Tag lang geflogen, bis der Heli auf den Dächern von Industrieanlagen gelandet ist. Bestien werden wie Haustiere hinter Zäunen gehalten. Aber Neo und die anderen wurden in die Gebäude abgeführt. Andere Transporter kamen aus allen Himmelsrichtungen. Ich vermute, aus anderen Sektionen. Wir folgen ihnen ins Innere. Ich weiß nicht, ob ich von dort senden kann. Werde es versuchen, euch auf dem Laufenden zu halten. Asha ist ein tapferes Mädchen.

Asha?

Asha ist bei Jesse und sie waren hier?

Ich öffne die nächste Nachricht.

Bin aufgeregt.

Atemlos.

Gesendet: 130975 00:47

An: FGS, Sek 13

Bin an die Oberfläche gekrochen, um eine kurze Nachricht abzusenden. Unter der Erde, in den Lüftungsschächten, habe ich keinen Empfang. Es sind keine Industrieanlagen, sondern eine riesige Forschungseinrichtung. Die experimentieren mit Sehenden und mit Bestien. Die meisten der Kinder überleben das nicht. Viele der Bestien auch nicht. Die versuchen so etwas, wie neue Bestien oder Supermenschen zu erschaffen. Wir wollen den Sehenden so gerne helfen, aber es wäre aussichtslos. Wir hätten keine Chance. Es sind zu viele. Uns geht es körperlich gut. Aber Asha - sie weint unaufhörlich.

Gesendet: 160975 23:01

An: FGS, Sek 13

Wir haben Neo gefunden. Er lebt. Gemeinsam mit Neo haben wir uns tiefer in den Lüftungsschächten versteckt. Haben einen Raum gefunden, mit Decken und Matratze. Wir sind nicht die ersten, die sich hier verstecken. Neo ist anders, sagt Asha. Es ist schwer zu beschreiben, aber sie haben mit ihm etwas gemacht, dass seine Erinnerungen und Fähigkeiten beeinflusst. Sie bilden die Kinder zu Vollstreckern aus. Manche von ihnen.

Mit Neo haben sie auch so etwas angestellt, aber Asha konnte ihn teilweise heilen. Asha hat jetzt ein Tattoo, so wie Freija. Es leuchtet, wenn sie etwas mit Neo macht. Aber Neo spricht fast kein Wort mehr. Wir wollen noch mehr Kinder außer Neo retten und aus den Fängen dieser Verrückten befreien. Falls wir hier lebend rauskommen, müssen wir das beenden. Wie auch immer.

Gebannt lese ich Jesses Zeilen, die er an Flavius gerichtet hat, als mich ein seltsames Gefühl beschleicht. Ein Gefühl, beobachtet zu werden. Ich blicke auf. Adam ist mit dem Laptop beschäftigt. Seine Finger fliegen über die Tastatur. Hope kramt Sachen zusammen. Ich bin mir sicher, sie gehören ihr.

Aber etwas scheint sie zu irritieren.

»Was hast du da?«, fragt Hope. Es fällt mir schwer das Flex-Screen, Jesses Worte zu ignorieren aber seit wir in dem Gebäude sind, habe ich nicht mehr viel mit Hope oder Adam gesprochen.

»Das ist ein Flex-Screen. Ein kleiner Computer, faltbar wie ein Stück Papier. Es gehört Jesse.«

Adam schaut von seinem Computer auf.

»Der Jesse aus Sektion 13? Dein Partner?«, fragt Hope. Ich nicke.

»Findest du mit dem Ding, mit dem Flex-Screen heraus, wie er herkommen ist?«

»Er hat Nachrichten an das Team geschickt. Also, ja, vielleicht.«

»Okay, dann versuche das. Ich muss mich in der Nähe umsehen, bin gleich wieder zurück. Wir können hier nicht lange bleiben«, meint Hope und verschwindet durch das Rohr, durch das wir hereingeschlüpft sind.

»Adam, wo sind wir hier?«, frage ich ihn.

»Der Komplex nennt sich FE Sektion 0. FE steht für Forschung und Entwicklung«, liest er von dem Monitor des Laptops ab. »Ich habe Zugriff auf die Datenbanken. Gib mir Zeit und ich kann dir mehr sagen. Warum hat mir Hope nie von diesem Ort erzählt?«

Ich widme mich wieder dem Flex-Screen. Widme mich Jesse und Asha.

Gesendet: 170975 22:07

An: FGS, Sek 13

Wir sind nur knapp den Vollstreckern entkommen. Sie wissen jetzt, dass wir da sind. Ich wollte mit Asha und der Handvoll Kinder, die wir mittlerweile befreit haben, fliehen. Irgendeinen Weg finden, um zu euch zurückzukommen. Aber Asha will bleiben und zurück in die Schächte kriechen. Sie meint es wäre wichtiger zu bleiben, um mehr herauszufinden, als sich aus dem Staub zu machen. Sie will, dass diese Ungerechtigkeit aufhört und alle die Wahrheit erfahren.

Sie wirkt müde.

Gesendet: 180975 21:06

An: FGS, Sek 13

Heute waren wir so tief in dem Komplex wie nie zuvor. Wir haben die Kinder bei Neo zurückgelassen. Es wäre zu gefährlich gewesen, sie mitzunehmen. Die verrückten Wissenschaftler versuchen, Klone herzustellen. Sie versuchen die Experimente, die sie an den Kindern durchführen, künstlich zu reproduzieren. Ich werde den Verdacht nicht los, dass sie so etwas wie Supersoldaten erschaffen wollen. Wir konnten auf Daten zugreifen, die diesen Verdacht bestätigen. Die Daten belegen, dass die Wissenschaftler bislang mit ihren Klon-Versuchen scheiterten. Asha meint, dass sie etwas übersehen.

Alle Experimente basieren auf bislang einem gelungenen Versuch. Asha hat herausgefunden, dass der erste Klon eines solchen Supermenschen hier erschaffen wurde. Sie hat mir ein Bild eines Mannes gezeigt. Der Typ hat faszinierende Augen. Irgend so ein Wissenschaftler glaube ich, aber ich spüre, dass Asha mir etwas verheimlicht. Sie sagt, sie weiß, warum die Versuche scheitern. Aber sie sagt auch ständig, dass es keine Zufälle gibt. Ich mache mir Sorgen um sie. Sie hat fürchterlich viel abgenommen, und egal, was ich für sie zum Essen auftreibe, scheint ihr Körper abzustoßen.

Gesendet: 0701075 04:45

An: FGS, Sek 13

Ich sende euch im Anhang zwei verschlüsselte Nachrichten. Ich habe sie verschlüsselt, für den Fall, dass wir abgehört werden, was sehr wahrscheinlich ist. Das hätte ich schon viel früher machen sollen. Jetzt ist es egal. Die Nachrichten sind für Freija. Sie wird das geflügelte Passwort kennen. Flavius, ich bin mir sicher, du könntest es entschlüsseln, aber ich bitte dich, es nicht zu tun, sondern sie nur zu überreichen, für den Fall, dass du sie findest. Danke und lebt wohl Jesse.

Ich atme durch, blicke zu Adam, der mit dem Computer beschäftigt ist. Er bemerkt, dass ich ihn ansehe und lächelt. Es schenkt mir genügend Wärme, damit ich allen Mut zusammen nehmen kann. Ich streiche über das Flex-Screen, öffne Jesses Nachricht, die nur für mich bestimmt ist.

Codewort:

Ich tippe das Wort Engel ein und aus den Hieroglyphen werden Buchstaben, Wörter, Sätze. Ich betrachte einen lesbaren Text.

Freija, hier passieren unglaubliche Dinge, aber davon wird dir Asha berichten. Himmel, es ist so verflucht schwer, diese Worte zu schreiben und nicht einmal zu wissen, wo du bist, wie es dir geht, ob dich diese Nachricht jemals erreichen wird, oder ob sie dem Feind in die Hände fällt. Eines ist sicher. Es wird die letzte Nachricht sein, die ich auf diesem Weg versende, denn wir werden die Bestien befreien. Hört sich dramatisch an. Aber so ist es nun mal. Asha hat einen Weg gefunden, mit den Bestien zu kommunizieren. Wir sind jetzt im Krieg. Die letzten Wochen kommen mir wie Jahre vor. In der Nacht, in der Asha und du uns verlassen habt, ist etwas passiert, das diesen Stein ins Rollen gebracht hat. So kommt es mir vor. Asha sagt, es gibt keine Zufälle. Dann ist es kein Zufall, dass ich bei ihr bin und alle Fasern meines Körpers sagen, dass es richtig ist, mein Versprechen, das ich dir gegeben habe, einzulösen. Du erinnerst dich doch noch an das Versprechen?

Ich schließe meine Augen, erinnere mich an die Nacht in der Bibliothek. An Jesses aufmunternden Worte und an sein Versprechen. Ich lese weiter.

Es nützt niemanden, in der Vergangenheit zu verweilen und den Chancen, die es vermutlich nie gegeben hat, nachzutrauern. Meine Liebe zu dir hatte nie eine Chance. Die Zeit war nicht auf meiner Seite. Trotzdem sollst du wissen, dass du einen Platz in meinem Herzen hast, dass du Fußspuren in meinem Herzen hinterlassen hast und du mir Kraft gibst. Ich liebe dich Freija, auch wenn es eine Liebe ohne die Hoffnung auf Gegenliebe ist.

 

Ich beobachte gerade Asha. Sie sitzt mir gegenüber, in diesem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe. Ich glaube, dich zu sehen. Ihr seid euch so ähnlich. Heute ist ihr 14. Geburtstag. Ich habe ihr eine Rose aus Papier geschenkt. Sie ist ein junges Mädchen, aber in ihr schlummert die Weisheit von Jahrhunderten. Ich folge ihr, um sie zu beschützen, so wie ich es dir versprochen habe. Ihr Weg wird uns in den Krieg führen. Aber wir sind nicht allein. Wir haben eine Armee auf unserer Seite. Ein Armee, dessen Krieger ich vor Wochen noch gejagt und zur Strecke gebracht hätte. An deiner Seite Freija. Asha wirkt wieder kräftiger. Nicht mehr so müde. Ich hoffe, das bleibt so, und die Bestien sind jetzt unsere Verbündeten. Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages zu Friedenszeiten wieder. Was ich mir wünsche, ist ein Kuss. Nicht mehr. Nur der alten Hoffnungen und Wünsche wegen. Dein Jesse.

Ich schlucke, blättere zu Ashas Brief um.

Liebe Freija,

bitte nimm meine Worte auf in dein Herz und du wirst spüren, dass sie wahr sind, auch wenn es sich unglaublich anhört.

Ich lese Ashas Zeilen. Wir waren beide auf dem Weg der Wahrheit, an dessen Ende ein neuer Weg beginnt, der unausweichlich scheint. Nein, den wir schon gehen. Den Weg des Krieges. Asha erklärt die Natur der Bestien, so wie es mir Hope erklärt hat. So viele Parallelen, denke ich. So viele Parallelen. Es gibt keine Zufälle, lese ich immer wieder.

Asha schreibt über die Ursachen vor über 50 Jahren. Macht ist es, was die Menschen antreibt. Habe ich das nicht auch von Adam gelernt? Schon damals in Sektion 13 vermutet? Ich wundere mich nicht über Ashas neue Fähigkeiten. Fähigkeiten, die nur einen Schluss zulassen. Asha ist ein Symbiont, eine Alphabestie, so wie ich.

Aber da ist etwas, das mich nicht mehr loslässt. Sie trägt jetzt Tattoos. Etwas, das ich nie wollte. Aber bei ihr ist es anders. Meine Tattoos stammen ausschließlich von im Kampf besiegten Bestien. Ihre Tattoos erhält sie auch von Bestien, aber aus freien Stücken. Es ist so, als wären wir wie zwei Pole. Plus und Minus. Als würde uns etwas verbinden, einander anziehen.

Ich lese den letzten Abschnitt:

Freija, ich denke Jesse und ich haben so viel herausgefunden, aber alles nützt nichts, wenn wir die Menschen nicht von der Wahrheit in Kenntnis setzen. Es ist kein Krieg, es ist eine Revolution und jede Revolution braucht Zeichen und Hoffnung, an denen sich die Menschen festhalten und orientieren können. Ich werde die Bestien losschicken, die Grenzen zu Fall zu bringen. Manche haben gelernt zu fliegen. Auf sie baut meine ganze Hoffnung. Sie werden mir folgen. Aber das wird nicht ausreichen. Freija, wir sind miteinander verbunden. Ich weiß es seit jener Nacht. Wir sind eine Familie.

Deine, dich vermissende Schwester, Asha.

Ich blicke auf. Bin sprachlos.

Wie lange ist Hope schon weg? Wollte sie nicht gleich zurück sein? Adam hat sich zu mir aufs Bett gesetzt. So nah, dass sich unsere Beine berühren. Seltsames Gefühl, mich zwei Männern in diesem Moment so nah zu fühlen.

»Hast du etwas herausgefunden? Was machen die Vollstrecker hier?«, frage ich Adam.

»Was sie überall gemacht haben. Geforscht. Gezüchtet. Experimentiert. Getötet.«

»Getötet?«

»Vor dem Ausbruch befanden sich auf dieser Anlage über dreihundert Bestien«, liest er vor. Adam wischt sich mit dem Finger durch die Daten. Er scheint sich mit den verschiedenen Datenbanken und Funktionen gut auszukennen.

»Sie haben sieben neue Bestienarten gezüchtet. Dafür mussten 286 Sehende sterben«, sagt er und schluckt. Ich rutsche noch näher neben ihn. Unsere Unterarme berühren sich. Meine blonden Härchen stellen sich zu einer Gänsehaut auf. Ich kann nicht von ihm fern bleiben. Kriege eine Gänsehaut. Überall. Von der Neuigkeit, rede ich mir ein.

Ich weiß nicht, was ich tue, als ich plötzlich mit meinem Finger über den Screen des Computers streiche und ihm noch näher komme. Meine Haut glüht. Ich habe Angst zu verbrennen. Ich liebe es, ihm so nahe zu sein. Liebe es, wenn wir uns berühren. Was tue ich hier?

»Wer tut so etwas?«

»Ein kranker Geist. Eine kaputte Seele«, sagt Adam.

»Halt, was ist das!«, sagt Adam plötzlich. Er streicht über den Screen, nervös, schneller, als hätte er vergessen, was langsam ist. Text und Zahlen weichen einem Lageplan.

»Da!«, sagt er und zeigt auf einen Bereich des Gebäudekomplexes, der auf einer Ebene, tief in der Erde, liegen muss.

»Was ist das?«

»Ein Labor. Eine weitere unterirdische Forschungsstation. Sie haben hier noch nach etwas anderem geforscht.«

»Nach was?«, frage ich.

»Weiß nicht so genau, aber hier steht, das Experiment wurde abgebrochen. Objekte sind letal. Alle Objekte wurden gelöscht.«

»Was bedeutet das?«, frage ich und schaue auf den Screen. Plötzlich sehe ich meinen Namen.

Versuchsreihe Symbiont Freija (altnordisch »Herrin«)

Freia ist der Name der nordgermanischen Göttin der Liebe und der Ehe.

»Der letzte Eintrag war vor sechs Jahren. Isolation der Eigenschaften nicht zielführend. Anweisung des Obersten: Die Versuche werden eingestellt. Die Objekte werden gelöscht und an Feldversuche übergeben. Falls ungeeignet - getötet«, liest Adam vor.

»Wo ist das Labor? Ich muss da hin«, sage ich wie aus der Pistole geschossen.

»Freija, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«

»Ich will da hin.«

»Wahrscheinlich ist der Name nur purer Zufall. Es gibt bestimmt Tausende, die Freija heißen.«

Das kann tatsächlich sein, überlege ich. Aber, es gibt nichts, das ich mir sehnlicher wünsche und nichts, das ich mir zugleich mehr verbiete als die Liebe. Wurde ich darauf etwa programmiert?

»Adam, wenn ich dir etwas bedeute, dann bring mich an diesen Ort.«

Plötzlich habe ich wieder das Gefühl beobachtet zu werden. Dann sehe ich die Bewegung, oder fühle ich die fremde Nähe? Hinter Adam, hinter den Lüftungsschlitzen, an denen Adam mit dem Rücken lehnt. Ein Spiel von Licht und Schatten, oder ist es doch mehr?

Ich tue so, als würde ich weiter lesen. Tatsächlich aber beobachte ich die kleinen Schlitze, versuche zu erkennen, was, wer sich dahinter versteckt.

Da.

Wieder eine Bewegung. Kein Schattenspiel. Innerhalb einer Sekunde schubse ich Adam zur Seite, verankere meine Finger in den Schlitzen und ziehe an dem Metall. Es löst sich von der Wand. Ohne Kraftaufwand. Das Blech mit den Lüftungsschlitzen war nicht festgeschraubt. Dahinter ist ein kleiner Schacht. Höchstens einen Quadratmeter groß.

»Ein Kind«, flüstere ich. Als ich den schwarzen Jungen sehe, der mich und vor allem Adam ängstlich anblickt.

»Was?«, fragt Adam, zu mehr Worten ist er im Moment nicht fähig. Ich schon. Mein Gehirn kombiniert sehr schnell. Ich weiß sofort, wer er ist.

»Neo?«

Kapitel 15

Gesandter Halo befindet sich 60 Meter unter der Erde und faltet seinen Flex-Screen auf. Ein Computer, dünn wie Papier, faltbar wie Papier, mit einem gestochen scharfen Display. Er wischt über den Screen und öffnet die Nachricht, die er vor weniger als einer Minute erhalten hat. Es ist die Zusammensetzung, die Bedeutung, die Energie hinter den Vokalen, Konsonanten, Worten, Sätzen, die ihm die Schweißperlen auf die Stirn treiben.

Er dachte, er hätte seinen Kopf aus der Schusslinie gezogen, nachdem er die Situation wieder unter Kontrolle gebracht hat. Eine Krise, deren Ausläufer die Fundamente der Machtstrukturen der Gesandten erschütterte, wie ein Erdbeben der Stärke 10 auf der Richterskala.

Noch nie in der Geschichte der Sektionierung haben es Bestien geschafft, aus einer der Forschungsstationen zu entkommen. Unkontrolliert zu entkommen.

Noch nie hat es Bestien gegeben, die fliegen können. Bestien können nicht fliegen, hat er das nicht immer seinen Leuten eingetrichtert? Noch nie wurden die Grenzen angegriffen.

Grenzen, die von Drohnen beschützt werden. Grenzen, die dazu da sind Menschen einzusperren.

Bestien auszusperren.

Grenzen, die seit über einem halben Jahrhundert verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Aber vor vier Tagen wäre es fast dazu gekommen. Fast wären die Grenzen der Sektion 0 gefallen. Erst der Einsatzbefehl, die bemannten Kampfdrohnen von den angrenzenden Sektionen abzuziehen, hat die entscheidende Wende herbeigeführt.

Das war vor vier Tagen.

Seitdem eliminieren Halos Truppen die letzten herumstreifenden Bestien. Töten die auffälligen Bestien, draußen hinter den Zäunen. Verhaltensgestörte Bestien.

Ein finanzieller Schaden, in Milliardenhöhe.

Geld spielt eine wesentliche Rolle. Geld bedeutet Macht.

Und Halo strebt nach Macht.

Er liest die letzte Zeile erneut.

Der Oberste Gesandte will sich selbst ein Bild von der Lage machen. Bereiten Sie alles für seine Ankunft um 0.09 vor.

»Was, noch heute Nacht?«, schnaubt Halo.

Er will Violet sehen. Lebendig.

Unterzeichnet wurde die Nachricht von einer Person, die sich Trishtana Roven nennt, die Assistentin des Obersten Gesandten.

Er will Violet persönlich kennenlernen?, schwirren die Worte in Halos Schädel herum. Es ist ihm noch immer unergründlich, wie das alles passieren konnte.

Wie dieses Mädchen, diese Violet zu ihrer Geburtsstätte zurückgefunden hat. Warum sie nicht eine der 266 anderen Forschungsstationen auf der Welt aufgesucht hat.

266 Sektionen.

266 Forschungsstationen über die ganze Welt verteilt.

266 Sektionen auf den sieben großen tektonischen Platten.

Sieben Platten.

Sieben Gebote. Sieben ist eine mächtige Zahl.

Sieben Oberste Gesandte, die unter sich die Nordamerikanische Platte, Eurasische, Afrikanische, bis zur Pazifischen Platte aufgeteilt haben.

Ein dummer Zufall, dass sie hier ist, dass sie zurückgefunden hat. Mehr nicht. Und, falls der Oberste Gesandte von Nordamerika einen Schuldigen sucht, dann wird es dieser wahnsinnige Professor sein, der dran glauben muss. Im Grunde war es seine alleinige Schuld, überlegt Halo. Andererseits ist das die Chance, auf die ich immer gewartet habe.

Halo hätte das Mädchen ohne zu zögern exekutiert, so wie das Protokoll es vorschreibt. Unbefugtes Betreten oder Entdecken des Komplexes, bezahlt man mit dem Leben. Halo hätte sie auf seine Weise getötet. Hätte alle Regeln des uralten Rituals streng befolgt.

Aber dieser gottverdammte Hurensohn. Dieser Professor Arrow hat dieses unverhohlene Interesse an ihr gezeigt. Ist besessen von dem Mädchen mit den violetten Haaren.

Und dann hat er Versuche an ihr durchgeführt, von denen Halo nichts versteht. Es geht um die Kommunikation zwischen Bestien und Menschen. Das Mädchen hätte diese Experimente nicht überleben dürfen. Halo hätte sie unverzüglich vernichten müssen, als sich herausstellte, dass die Bestien sie nicht in Stücke reißen würden, sondern dass sie auf sie hören. Ihr folgen.

Und dann ist die ganze Situation eskaliert.

»Gesandter Halo, sind Sie da? Fischer hier.« Es ist Vollstrecker Fischer. Einer seiner besten Männer. Sein Sicherheitschef, der sich über das Flex-Screen in diesem Moment meldet.

»Sprechen Sie, Fischer.«

»Ich habe Informationen für Sie, die die Sicherheit des Komplexes betreffen. Äußerst kritische Informationen.«

»Sprechen Sie weiter.«

»Ich muss Ihnen die Aufnahmen zeigen. Persönlich.«

»Dann bewegen Sie ihren Arsch hier runter.«

Fünf Minuten später verfolgt Halo mit herumhuschenden Augen, was sich vor ihm auf dem Screen abspielt. Fischer zeigt ihm die Aufnahmen der Außenkameras, von der Nordseite des Komplexes, dort wo die elektromagnetischen Zäune vor vier Tagen von den ausgerasteten Bestien niedergerissen wurden.

Allein diese Tatsache, diese Erinnerung treibt Halo wieder die Zornesröte ins Gesicht. Solange nicht geklärt ist, wie die Bestien sich den Zäunen nähern konnten, sie zerstören konnten, wird er die Vollstrecker im Außenbereich nicht abziehen. Halo hat angeordnet, dass jede Bestie und ihr ganzes Rudel ohne zu zögern getötet wird, falls sie sich bis auf drei Meter den Zäunen nähern.

 

»Ich sehe nichts«, sagt Halo, der auf den Screen starrt. »Fischer, was wollen Sie mir zeigen? Gespenster?«

»Nah dran«, sagt Fischer. Dann stellt er die visuelle Aufnahme auf astrale Indifferenzfeldanalyse um. Die Kameras verfügen über Sensoren, die magnetische Energiewellen aussenden, und die Reflektion auffangen. Eine todsichere Methode, um astrale Energiefelder, also Bestien, aufzuspüren.

Plötzlich kann Halo dort, wo eben nur die eingerissenen Zäune zu sehen waren, drei Gestalten ausmachen. Menschliche Gestalten. Zwei Weibliche und ein männlicher Eindringling.

Verfluchte Scheiße.

»Was ist das?«, fragt Halo mit einer Spur von Wahnsinn in seiner Stimme.

»Laut Diagnose handelt es sich um Menschen, aber diese zwei hier.« Fischer zeigt auf die zwei Frauen. »Bei ihnen haben wir die gleichen Energieresonanzen empfangen, die wir auch vor vier Tagen aufgenommen haben.«

»So wie bei ihr?«

»Identisch.«

»Halb Bestie. Halb Mensch. Und die hier können sich unsichtbar machen? Oder ist das nur ein billiger Trick?«, fragt Halo.

»Nein, offensichtlich nicht. Ich weiß nicht wie, aber sie sind für die visuellen Kameras tatsächlich unsichtbar.«

Halo verfolgt die Bewegungen der drei Gestalten, die sich als violette, leuchtende Masse von der Umgebung abheben. Dann verschwinden sie aus dem Blickfeld der Kamera. Er schaut auf die Datumsanzeige im Bildausschnitt rechts oben. Die Aufzeichnung ist fast eine Stunde alt.

»Verdammt noch mal. Warum informieren Sie mich erst jetzt?«, spuckt Halo.

»Tut mir leid, Sir. Die Sicherheitsprotokolle sind nach dem Angriff noch nicht vollständig angepasst. Mir ist es bei einer manuellen Prüfung aufgefallen. War ein glücklicher Zufall.«

»Glück? Zufall? Fischer, sind sie wahnsinnig? Soll ich Sie auf der Stelle erschießen?«

Fischer sagt nichts. Ein Schweißtropfen perlt von seiner Stirn.

»Heute Nacht erwarten wir Besuch. Hohen Besuch. Nehmen Sie sich ihre besten Männer. Die Frauen will ich lebend. Hören Sie? Lebend. Den Mann töten Sie, wenn es sein muss. Ich will keine weiteren Zwischenfälle auf meinem Gelände. Ist das klar?« Halo wartet nicht auf eine Antwort. »Sie haben eine Stunde Zeit. Und jetzt bewegen Sie ihren gottverdammten Arsch hier raus.«

»Verdammt«, flucht Halo. Als hätte er nicht schon genug Probleme. Am liebsten würde er gleich jetzt in der Forschungsabteilung aufkreuzen und dieser Missgeburt von einem Mädchen das Messer in die Brust rammen und dem senilen Professor eine Kugel zwischen die Augen jagen. Aber der Oberste will sie sehen, und Halo hat sich an die Gebote zu halten.

Noch ist meine Zeit nicht gekommen.

Zweites Gebot: Du sollst dich vor mir niederwerfen und dich mir verpflichten, mir zu dienen. Denn, ich bin der Oberste Gesandte. Nicht mehr lange, denkt Halo.