Tasuta

Für Jetzt und Für Immer

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Märgi loetuks
Für Jetzt und Für Immer
Für Jetzt und Für Immer
Tasuta audioraamat
Loeb Birgit Arnold
Lisateave
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

In dem alten Zimmer ihrer Eltern zu liegen war gemütlich und tröstlich, was in Emily plötzlich die Erinnerung an sie als sehr junges Mädchen wachrief, das hereingekommen und sich zwischen seine Eltern gelegt hatte, um sich die Geschichten anzuhören, die ihr Vater ihr vorlas. Es war zu einer Gewohnheit geworden, eine Art, nahe bei ihren Eltern zu sein, die sich ihrer kindlichen Meinung nach zu sehr mit ihrer neuen Babyschwester Charlotte beschäftigten. Nur aus ihrer erwachsenen Sichtweise heraus erkannte Emily, dass sie weniger mit Charlotte beschäftigt waren, sondern ihrer zum Scheitern verurteilten Ehe ausweichen wollten.

Emily schüttelte den Kopf, sie wollte sich nicht erinnern, sie wollte diese Erinnerungen, die sie so viele Jahre lang verdrängt hatte, nicht aufleben lassen. Aber egal, wie sehr sie sich anstrengte, sie konnte nicht verhindern, dass sie in ihre Gedanken flossen. Das Zimmer, das Haus und die kleinen Gegenstände, die hier und dort herumstanden erinnerten sie an ihren Vater, das alles floss in ihrem Kopf zusammen und holte die schrecklichen Erinnerungen, die sie so sehr vergessen wollte, wieder hervor.

Erinnerungen daran, dass die Geschichten in dem großen Bett ihrer Eltern an einem tragischen Tag abrupt aufgehört hatten; der Tag, an dem sich Emilys Leben für immer verändert hatte, der Tag, an dem die Ehe ihrer Eltern ihren letzten, unbesiegbaren Schlag erhalten hatte.

Der Tag, an dem ihre Schwester gestorben war.

KAPITEL FÜNF

Nach einer traumreichen Nacht, wachte Emily mit einem warmen Gefühl auf ihrer Haut auf. Mittlerweile war es für sie so ungewohnt, nicht zu frieren, dass sie sich in plötzlicher Sorge schnell aufsetzte und sah, wie ein heller Sonnenstrahl durch einen Schlitz zwischen den Vorhängen fiel. Sie bedeckte ihre Augen, während sie aufstand und zu dem Fenster hinüberging. Als sie den Vorhang zurückzog, genoss Emily den Anblick vor ihren Augen. Die Sonne war aufgegangen und reflektierte hell auf dem Schnee, der schnell dahinschmolz. Emily sah, wie auf den Ästen der Bäume neben dem Fenster Wassertropfen von den Eiszapfen hinunterrollten. Das Sonnenlicht verwandelte sie in Regenbogentropfen. Der Anblick ließ sie nach Luft schnappen. Sie hatte noch nie etwas so Schönes gesehen.

Emily befand, dass er Schnee genug geschmolzen war, um in die Stadt zu gehen. Sie war so hungrig, als ob die Suppe, die Daniel ihr am Abend zuvor gebracht hatte, ihren Appetit wiedererweckt hätte, den sie durch das ganze Drama um ihre Trennung von Ben und die Kündigung ihres Jobs verloren hatte. Sie zog sich eine Jeans und ein T-Shirt an, darüber einen ihrer Blazer, denn es war das einzige Kleidungsstück, das entfernt einer Jacke ähnelte. Sie betrachtete ihre leicht sonderbare Kleiderwahl und wusste, dass die meisten Menschen die fremde Frau mit dem kaputten Wagen, der vor dem verlassenen Haus stand, sowieso anstarren würden, weshalb Kleider ihre geringste Sorge waren.

Emily ging die Treppe hinunter in den Flur, dann öffnete sie die Haustür und trat in die Welt hinaus. Wärme küsste ihre Haut und sie lächelte in sich hinein, denn sie wurde von einer Welle des Glücks erfasst.

Sie folgte dem Graben, den Daniel neben dem Weg geschaufelt hatte und ging die Straße Richtung Ozean entlang, denn sie erinnerte sich daran, dass es dort Läden gab.

Als sie so vor sich hinlief, fühlte es sich fast so an, als würde sie in der Zeit zurückgehen. Der Ort hatte sich kein Stück verändert, die gleichen Geschäfte, die es schon vor zwanzig Jahren gegeben hatte, standen immer noch stolz da. Die Metzgerei, die Bäckerei, all das war genauso wie in ihrer Erinnerung. Die Zeit hatte sie verändert, aber nur ganz wenig – die Beschilderung war beispielsweise greller und die Produkte in den Geschäften waren modernisiert worden – aber trotzdem fühlte sich alles gleich an. Sie genoss die malerische Natur der Stadt.

Emily war so in dem Moment versunken, dass sie die Eisfläche auf den Gehweg vor ihr nicht bemerkte. Sie rutschte aus und fiel zu Boden.

Atemlos lag sie auf ihrem Rücken und stöhnte. Auf einmal tauchte über ihr ein altes und nettes Gesicht auf.

„Soll ich Ihnen aufhelfen?“, fragte der Mann, der ihr seine Hand entgegenstreckte.

„Danke“, erwiderte Emily und nahm sein nettes Angebot an.

Er zog sie wieder auf ihre Füße. „Haben Sie sich verletzt?“

Emily drehte ihren Kopf in alle Richtungen. Ihr tat zwar alles weh, aber sie wusste nicht, ob das von dem gestrigen Sturz von der Anrichte in der Vorratskammer oder ihrem Ausrutscher auf dem Eis herrührte. Sie verfluchte wieder einmal ihre Tollpatschigkeit.

„Es geht mir gut“, entgegnete sie.

Der Mann nickte. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie die Dame sind, die in dem alten Haus in der West Street fünfzehn wohnt?“

Emily fühlte sich auf einmal verlegen. Sie zog nicht gerne Aufmerksamkeit auf sich und war auch nur ungerne die Quelle für Kleinstadttratsch. „Ja, das stimmt.“

„Dann haben Sie Roy Mitchell das Haus abgekauft?“, fragte er.

Emily versteifte sich, als sie den Namen ihres Vaters hörte. Dass dieser Mann, der vor ihr stand, ihn gekannt hatte, erfüllte ihr Herz mit einem seltsamen Gefühl der Trauer und Hoffnung. Sie zögerte einen Moment, um sich zu orientieren und die Teile selbst wieder zusammenzusetzen.

„Nein, ich äh, bin seine Tochter“, stammelte sie schließlich.

Seine Augen weiteten sich. „Dann musst du Emily Jane sein“, schloss er.

Emily Jane. Der Name klang schrill in ihren Ohren. So war sie seit Jahren nicht mehr genannt worden. Ihr Vater hatte diesen Kosenamen für sie verwendet. Es war eine weitere Sache, die an dem Tag, an dem ihre Schwester starb, plötzlich aus ihrem Leben verschwand.

„Ich heiße nur noch Emily“, antwortete sie.

Der Mann musterte sie von oben bis unten. „Und jetzt bist du ganz erwachsen.“ Er stieß ein freundliches Lachen aus, doch Emily war immer noch steif, als ob die Fähigkeit zu fühlen, aus ihrem Körper verschwunden wäre und stattdessen ein dunkles Loch in ihrem Magen zurückgelassen hätte.

„Darf ich fragen, wer Sie sind?“, erkundigte sie sich. „Woher kannten Sie meinen Vater?“

Der Mann gluckste wieder. Er war freundlich, einer dieser Menschen, mit denen man schnell warm wurde. Emily schämte sich für ihre Steifheit, die New Yorker Verdrießlichkeit, die sie sich über die Jahre hinweg angeeignet hatte.

„Ich heiße Derek Hansen, der Bürgermeister. Dein Vater und ich standen uns nahe. Wir gingen zusammen fischen und spielten Karten. Ich war ein paar Mal bei euch zum Essen gewesen, aber ich bin mir sicher, dass du noch zu jung warst, um dich an mich zu erinnern.“

Er hatte Recht, Emily erinnerte sich nicht an ihn.

„Es freut mich, dich kennenzulernen“, sagte sie in einem plötzlichen Bedürfnis, das Gespräch zu beenden. Dass der Bürgermeister Erinnerungen an sie hatte, Erinnerungen, die sie nicht besaß, gab ihr seltsames Gefühl.

„Ebenso“, gab der Bürgermeister zurück. „Wie geht es Roy denn?“

Emily versteifte sich. Dann wusste er also nicht, dass ihr Vater von heute auf morgen verschwunden war. Sie mussten wohl angenommen haben, dass sie ihre Ferien einfach nicht mehr in dem Haus verbrachten. Was hätten sie denn auch sonst denken sollen? Sogar ein guter Freund, wie Derek Hansen behauptete einer zu sein, würde nicht unbedingt auf den Gedanken kommen, dass ein Mensch einfach so auf nimmer wieder sehen verschwunden war. An so etwas dachte man nicht sofort. Sie hatte es auf jeden Fall nicht getan.

Emily zögerte, denn sie wusste nicht, wie sie die scheinbar harmlose und doch unglaublich emotionale Frage beantworten sollte. Sie bemerkte, dass sie anfing zu schwitzen. Der Bürgermeister schaute sei mit einer seltsameren Miene an.

„Er ist gestorben“, platzte sie plötzlich heraus, in der Hoffnung, dass er dadurch keine weiteren Fragen stellte.

Es funktionierte. Auf sein Gesicht legte sich ein trauriger Ausdruck.

„Das tut mir leid“, sagte er. „Er war ein großartiger Mann.“

„Das war er“, erwiderte Emily.

Doch in ihrem Kopf schwirrte die Frage herum: War er das denn wirklich? Er hatte sie und ihre Mutter zu einer Zeit verlassen, zu der sie ihn am meisten gebraucht hatten. Die ganze Familie hatte Charlottes Tod betrauert, doch er war derjenige gewesen, der sich dazu entschlossen hatte, von seinem Leben davonzulaufen. Emily konnte das Bedürfnis, vor seinen Gefühlen davonzulaufen, verstehen, was sie jedoch nicht verstehen konnte, war, seine eigene Familie im Stich zu lassen.

„Ich muss jetzt los“, sagte Emily. „Ich muss noch einkaufen.“

„Natürlich“, erwiderte der Bürgermeister. Sein Tonfall war jetzt viel ernster und Emily fühlte sich dafür verantwortlich, ihm die Freude genommen zu haben. „Pass auf dich auf, Emily. Ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen.“

Emily nickte zum Abschied und eilte davon. Ihr Treffen mit dem Bürgermeister hatte sie durcheinandergebracht und weitere Gedanken und Gefühle aufgewirbelt, die sie jahrelang verborgen gehalten hatte. Schnell betrat sie den kleinen Kramladen und schloss die Tür, wodurch sie die Welt aussperrte.

Sie griff nach einem Korb und begann, ihn mit Vorräten zu füllen – Batterien, Toilettenpapier, Shampoo und einer großen Menge an Dosensuppe. Dann ging sie zur Kasse, wo eine rundliche Frau stand.

„Hallo“, sagte sie und lächelte Emily an.

Emily fühlte sich durch ihr vorheriges Treffen immer noch unwohl. „Hi“, murmelte sie und schaffte es kaum, der Frau in die Augen zu schauen.

 

Als die Frau begann, ihre Waren über das Band zu ziehen und in Tüten zu stecken, warf sie Emily immer wieder Seitenblicke zu. Sofort wurde Emily klar, dass sie das tat, weil sie sie erkannte oder wusste, wer sie war. Das letzte, was Emily jetzt brauchte, war noch jemand, der nach ihrem Vater fragen wollte. Sie war sich nicht sicher, ob ihre zerbrechliches Herz das aushalten würde. Gerade einmal vier Gegenstände ihres übervollen Korbes waren erledigt. Sie würde hier noch eine Weile festsitzen.

„Du bist Roy Mitchells älteste Tochter, nicht wahr?“, fragte die Frau mit zusammengekniffenen Augen.

„Ja“, erwiderte Emily mit leiser Stimme.

Die Frau klatschte ihre Hände aufgeregt zusammen. „Ich wusste es! Ich würde diese Haarmähne überall erkennen. Du hast dich kein bisschen verändert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe!“

Emily konnte sich nicht an die Frau erinnern, doch sie musste als Jugendliche häufig hierhergekommen sein, um ihren Vorrat an Kaugummi und Zeitschriften aufzufüllen. Es war erstaunlich zu sehen, wie sehr sie sich von ihrer Vergangenheit getrennt hatte, wie vollständig sie ihr altes Wesen ausgelöscht hatte, um zu einem anderen Menschen zu werden.

„Nun ja, ich habe jetzt ein paar Falten mehr“, entgegnete Emily in dem Versuch, nette Konversation zu betreiben, doch sie scheitere auf ganzer Länge.

„Wohl kaum!“, widersprach die Frau. „Du bist so schön wie du es schon immer gewesen bist. Wir haben deine Familie seit Jahren nicht mehr gesehen. Wie lange ist es her?“

„Zwanzig.“

„Zwanzig Jahre? Unglaublich. Die Zeit vergeht wirklich wie im Flug, wenn man sich amüsiert!“

Sie zog einen weiteren Gegenstand über die Kasse. Emily bat sie innerlich darum, sich zu beeilen. Doch anstatt den Gegenstand in die Tüte zu stecken, hielt sie mit dem Milchkarton in der Hand inne. Emily schaute auf, nur, um zu bemerken, dass die andere Frau mit einem abgerückten Blick und einem Lächeln im Gesicht in die Ferne starrte. Emily wusste, was jetzt kam: eine Anekdote.

„Ich erinnere mich noch daran“, begann die Frau und Emily wappnete sich, „wie dein Vater dir zu deinem fünften Geburtstag ein neues Fahrrad baute. Es suchte in der ganzen Stadt nach Einzelteilen und handelte die besten Deals heraus. Er konnte jeden mit seinem Charme bezaubern, nicht wahr? Und er liebte private Flohmärkte.“

Jetzt strahlte sie Emily an und nickte auf eine Weise, als ob sie dadurch Emilys Erinnerung daran aktivieren könnte. Doch es funktionierte nicht. Ihr Kopf war leer, das Fahrrad nicht mehr als ein Phantom, das von den Worten der Frau erschaffen wurde.

„Wenn ich mich recht erinnere“, fuhr die Frau fort, während sie sich ans Kinn tippte, „schaffte er es, für das gesamte Fahrrad, inklusive der Klingel, der Ketten und allem, weniger als zehn Dollar auszugeben. Er verbrachte den ganzen Sommer damit, es zusammenzubasteln. Dabei holte er sich sogar einen heftigen Sonnenbrand.“ Sie fing an zu kichern und ihre Augen glänzten bei der Erinnerung. „Danach sahen wir dich durch die Stadt flitzen. Du warst so stolz darauf und hast jedem erzählt, dass dein Vater es für dich gebaut hätte.“

Emilys Magen drehte sich um und rumorte wie ein Vulkan der Gefühle. Wie konnte sie all diese schönen Erinnerungen vergessen haben? Wie konnte es sein, dass sie diese wertvollen Tage sorgloser Kindheit und Familienglücks nicht schätzte? Und wie hatte ihr Vater einfach sie einfach so verlassen können? Wann war er von dem netten Familienmann, der einen ganzen Sommer damit verbrachte, für seine Tochter ein Fahrrad zu bauen, zu dem Mann, der wegging und nie wieder zurückkehrte, geworden?

„Daran erinnere ich mich nicht“, sagte Emily mit harscher Stimme.

„Nicht?“, erwiderte die Frau. Ihr Lächeln begann zu verblassen, als ob es Risse bekommen würde. Nun sah es nicht mehr natürlich aus, sondern so, als hätte sie es aus reiner Freundlichkeit aufgesetzt.

„Könntest du…“, bemerkte Emily mit einem Nicken auf die Dose Mais, die die Frau in der Hand hielt. Sie wollte, dass die Frau mit ihrer Arbeit fortfuhr.

Fast schon erschrocken schaute die Frau nach unten, als ob sie vergessen hätte, warum sie hier war, als ob sie davon ausgegangen wäre, dass sie mit einer alten Bekannten sprach, anstatt sie zu bedienen.

„Ja, natürlich“, sagte sie. Ihr Lächeln war nun komplett verschwunden.

Emily kam mit ihren Gefühlen nicht zurecht. In dem Haus zu sein hatte sie glücklich und zufrieden gemacht, doch der Rest der Stadt löste schreckliche Gefühle in ihr aus. Es gab zu viele Erinnerungen, zu viele Menschen, die ihre Nasen in fremde Angelegenheiten steckten. Sie wollte so schnell wie möglich zurück zum Haus gehen.

„Also“, begann die Frau, unwillig oder unfähig, ihr Geplapper aufzuhalten, „wie lange hast du vor, zu bleiben?“

Emily konnte es nicht verhindern, zwischen den Zeilen zu lesen. Die Frau meinte, wie lange sie die Stadt mit ihrem mürrischen Gesicht und bissigen Verhalten nerven würde.

„Ich weiß es noch nicht“, antwortete Emily. „Ursprünglich sollte es nur ein langes Wochenende sein, aber jetzt denke ich darüber nach, eine Woche daraus zu machen. Vielleicht auch zwei.“

„Es muss schön sein,“, sagte die Frau, während sie den letzten Gegenstand über die Kasse zog „es sich leisten zu können, zwei Wochen Urlaub zu machen, wann immer man will.“

Emily versteifte sich. Am Anfang war die Frau noch nett und gut gelaunt gewesen, doch jetzt war sie einfach nur noch unfreundlich.

„Wie viel schulde ich Ihnen?“, fragte sie und ignorierte die Bemerkung.

Emily bezahlte und drückte sich ihre Taschen an die Brust, während sie so schnell es ging aus dem Laden stürmte. Sie wollte nicht länger in der Stadt sein, denn sie hatte das Gefühl zu ersticken. Sie beeilte sich, nach Hause zu kommen, und fragte sich, warum genau ihr Vater diesen Ort so sehr geliebt hatte.

*

Als Emily Zuhause ankam, stellte sie fest, dass ein Stromtruck draußen geparkt war. Schnell schob sie ihre Erlebnisse aus der Stadt und die negativen Gefühle zur Seite, genauso wie sie es als Kind gelernt hatte, und erlaubte sich, bei der Aussicht, ein weiteres großes Problem mit dem Haus ausgeräumt zu haben, aufgeregt und hoffnungsvoll zu sein.

Der Truck erwachte rumpelnd zum Leben und Emily erkannte, dass er gerade davonfahren wollte. Daniel musste den Mann in ihrem Namen ins Haus gelassen haben. Sie stellte ihre Taschen ab und lief ihm hinterher, wobei sie mit den Armen winkte, gerade als der Truck losfuhr. Doch der Fahrer hatte sie gesehen, weshalb er anhielt und das Fenster öffnete, aus dem er sich hinauslehnte.

„Sind Sie die Eigentümerin?“, fragte er.

„Nein. Nun ja, ein bisschen. Ich bleibe für eine Weile hier“, erwiderte sie schwer atmend. „Haben Sie es geschafft, den Strom anzuschließen?“

„Ja“, antwortete der Mann. „Herd, Kühlschrank, Lichter, wir haben alles überprüft und alles scheint jetzt zu funktionieren.“

„Das ist großartig!“, rief Emily überglücklich aus.

„Das Problem ist“, fuhr der Mann fort, „dass es eventuell Mäuse oder etwas Ähnliches geben könnte, die an den Kabeln nagen. Wann waren Sie das letzte Mal auf dem Dachboden?“

Emily zuckte mit den Schultern, ihre Begeisterung begann nachzulassen.

„Nun ja, vielleicht sollten Sie einmal einen Spezialisten hinaufschicken. Das Elektrosystem ist ziemlich veraltet. Um ehrlich zu sein ist es ein Wunder, dass wir es überhaupt zum Laufen gebracht haben.“

„Okay“, sagte Emily mit schwacher Stimme. „Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.“

Der Elektriker nickte. „Viel Glück“, erwiderte er, bevor er davonfuhr.

Er hatte es zwar nicht gesagt, aber Emily konnte den Rest seines Satzes in ihrem Kopf hören: Sie werden es brauchen.

KAPITEL SECHS

Am dritten Tag wachte Emily spät auf. Es kam ihr fast so vor, als ob ihr Körper wüsste, dass es Montagmorgen war, und dass sie normalerweise auf die Arbeit eilen, sich an Pendlern auf dem Weg zur U-Bahn vorbeidrängen und sich zwischen gelangweilte, halbwache, kaugummikauende Jugendliche und Geschäftsmänner quetschen würde, die ihre Ellbogen in alle Richtungen stießen, weil sie sich weigerten, ihre Zeitungen zu falten. All das schien ihr Körper erkannt und beschlossen zu haben, sie wohlverdient ausschlafen zu lassen. Als sich mit schwerem Kopf und müden Augen aus der Decke befreite, fragte sie sich, wann sie das letzte Mal länger als sieben Uhr morgens geschlafen hatte. Wahrscheinlich seit ihren Zwanzigern nicht mehr, bevor sie Ben kennengelernt hatte, zu einer Zeit, in der es für sie normal war mit Amy die Stadt unsicher zu machen.

In der Küche im unteren Stockwerk verbrachte Emily viel Zeit damit, Kaffee in einer Kanne zu kochen und sich mithilfe der Zutaten, die sie im Laden gekauft hatte, Pfannkuchen zuzubereiten. Es erfüllte ihr Herz mit Freude, die vollen Küchenschränke zu sehen und das Summen des Kühlschrankes zu hören. Zum ersten Mal, seit sie New York verlassen hatte, hatte sie das Gefühl, sich unter Kontrolle zu haben, zumindest genug, um den Winter zu überstehen.

Sie genoss jeden Bissen ihres Pfannkuchens, jeden Schluck ihres Kaffees, des Gefühls, gut ausgeruht, warm und verjüngt zu sein. Anstelle des Lärms der Großstadt konnte Emily nur das entfernte Plätschern der Wellen des Ozeans sowie das sanfte, rhythmische und tropfende Geräusch des schmelzenden Eises hören. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte sie einen inneren Frieden.

Nach ihrem entspannenden Frühstück putze Emily die Küche von unten bis oben. Sie wischte alle Wandfließen ab, wodurch das elegante William Morris Design unter dem Schmutz zum Vorschein kam. Anschließend reinigte sie das Glas in den Schranktüren und brachte die Motive der Buntglasfenster zum Glänzen.

Begeistert, die Küche so toll hergerichtet zu haben, beschloss Emily, sich noch einen weiteren Raum vorzunehmen, einen, den sie bisher noch nicht betreten hatte, aus Angst, dass der Verfall ihre Gefühle aufwirbeln könnte. Dieser Raum war die Bücherei.

Als Kind war die Bücherei ihr Lieblingsraum gewesen. Sie mochte, dass sie durch eine weiße Holzschiebetür in zwei Hälften aufgeteilt war, sodass sie sich in einer Leseecke vergraben konnte. Und natürlich liebte sie all die Bücher darin. Emily Vater war nicht aufgeblasen gewesen, was seine Literatur betraf. Er war der Meinung, dass alle geschriebenen Texte es verdienten, gelesen zu werden, weshalb er ihr erlaubt hatte, die Regale mit Liebesromanen für Jugendliche und High School Dramen zu füllen, auf deren kitschigen Buchumschlägen Sonnenuntergänge sowie die Umrisse von muskulösen Männern zu sehen waren. Es brachte Emily zum Lachen, als sie den Staub von ihnen abwischte. Es kam ihr so vor, als ob ein seltsamer Teil ihrer Vergangenheit erhalten worden wäre. Wenn das Haus nicht so lange Zeit verlassen gewesen wäre, dann hätte sie sie bestimmt irgendwann im Laufe der vergangenen Jahre entsorgt. Doch wegen der Umstände waren sie geblieben und hatten stattdessen im Laufe der Jahre Staub gesammelt.

Als sie das Buch in ihren Händen zurück ins Regal stellte, überkam sie ein Gefühl der Melancholie.

Als nächstes entschied sich Emily dazu, den Rat des Elektrikers, auf den Dachboden zu gehen und die Leitungen zu überprüfen, zu befolgen. Wenn sie wirklich von Mäusen beschädigt waren, wüsste sie nicht, was sie als nächstes tun sollte – das nötige Geld für Reparaturen aufbringen oder einfach den Rest ihres Aufenthaltes durchstehen. Es schien ihr nicht sinnvoll, in ein Grundstück zu investieren, wenn sie sowieso nur höchstens zwei Wochen hierbleiben würde.

Sie klappte die ausziehbare Leiter auf und musste husten, als eine Staubwolke aus der Dunkelheit über ihr herunterregnete. Dann spähte sie durch das viereckige Loch, das sich geöffnet hatte. Der Dachboden jagte ihr nicht so viel Angst ein wie der Keller, doch der Gedanke an Spinnenweben und Schimmel lösten nicht gerade Begeisterungsstöße in ihr aus. Ganz zu schweigen von den Mäusen…

Langsam und vorsichtig stieg Emily die einzelnen Stufen hinauf, wobei sie der Öffnung zentimeterweise näherkam. Je höher sie stieg, desto mehr konnte sie von dem Dachboden sehen. Er war, wie sie erwartet hatte, komplett vollgestellt. Die Ausflüge ihres Vaters auf private Floh- und Antiquitätenmärkte erbrachten oftmals mehr Gegenstände, als sie im Haus ausstellen konnten, und ihre Mutter hatte die meisten der weniger ansehnlichen Dinge auf den Dachboden verbannt. Emily sah die dunkle, hölzerne Kommode, die so aussah, als wäre sie mindestens zweihundert Jahre alt, einen gepolsterten Hocker mit verblasstem grünen Leder, und einen Kaffeetisch aus Eiche, Eisen und Glas. Sie musste lachen, als sie sich den Gesichtsausdruck vorstellte, der auf dem Gesicht ihrer Mutter gelegen haben musste, als ihr Vater all diese Dinge nach Hause geschleppt hatte. Sie entsprachen so gar nicht ihrem Geschmack! Ihre Mutter mochte es modern, gepflegt und sauber.

 

Kein Wunder, dass sie geradewegs auf eine Scheidung zugegangen waren, dachte Emily trocken. Wenn sie sich nicht einmal bei der Einrichtung einigen konnten, welche Hoffnung bestand dann schon noch für alles andere!

Emily betrat den Dachboden vollständig und begann, sich nach Hinweisen für die Aktivität von Mäusen umzuschauen. Doch sie konnte weder ihre Hinterlassenschaften noch angeknabberte Leitungen finden. Es erschien ihr fast wie eine Wunder, dass auf dem Dachboden nach so viel Jahren der Vernachlässigung keine ganzen Mäusehorden hausten. Vielleicht zogen sie es vor, in den benachbarten Häusern zu leben, wo es einen nie endenden Vorrat an Krümeln gab.

Zufrieden, dass es auf dem Dachboden nichts Besorgniserregendes gab, machte sich Emily daran, wieder hinunterzugehen. Doch ihre Aufmerksamkeit wurde von einer alten Holztruhe angezogen, die eine Erinnerung aus den Tiefen ihres Gedächtnisses hervorholte. Sie öffnete den schweren Deckel der Truhe und schnappte beim Anblick des Inhaltes nach Luft. Juwelen, zwar keine echten, aber eine Kollektion an Plastikperlen und Edelsteinen, Perlen und Muscheln. Ihr Vater achtete immer darauf, etwas „Wertvolles“ für sie und Charlotte mitzubringen. Diese Dinge hatten sie dann in die Truhe, die sie ihre Schatzkiste nannten, gelegt. Es war das Herzstück für jedes Spiel der Kinder gewesen, das sie sich ausgedacht hatten.

Bei der lebendigen Erinnerung hämmerte ihr Herz, sodass Emily den Deckel schnell wieder schloss und aufstand. Plötzlich hatte sie keine Lust mehr zu erkunden.

*

Emily verbrachte den restlichen Tag damit sauber zu machen, wobei sie darauf achtete, keine Räume zu betreten, die eine melancholische Stimmung auslösen könnten. Sie wollte nicht die kurze Zeit, die ihr hierblieb, in der Vergangenheit verbringen und wenn das bedeutete, dass sie bestimmte Räume des Hauses vermied, dann sollte es so sein. Wenn sie es geschafft hatte, bestimmte Erinnerungen ihr ganzes Leben lang zu umgehen, dann könnte sie auch gewisse Räume ein paar Tage lang nicht betreten.

Emily hatte es endlich geschafft, ihr Handy aufzuladen und es auf den Tisch neben der Haustür gelegt – dem einzigen Ort, an dem sie Empfang hatte – um alle möglichen Nachrichten zu empfangen, die über das Wochenende nicht angekommen waren. Sie war etwas enttäuscht, nur zwei zu sehen: eine von ihrer Mutter, die sie dafür tadelte, New York ohne ein Wort verlassen zu haben und die andere von Amy, die sie bat, ihre Mutter anzurufen, da diese schon nach ihr gefragt hatte. Emily verdrehte die Augen und legte das Telefon wieder hin, danach ging sie ins Wohnzimmer, wo sie es schaffte, ein Feuer zu entzünden.

Sie setzte sich neben die Couch und blätterte durch den abgegriffenen Jugendliebesroman, den sie aus einem Regal in der Bücherei mitgenommen hatte. Lesen entspannte sie, vor allem wenn es nichts Anstrengendes war. Doch diesmal stellte sich nicht diese Wirkung ein. Das Liebesdrama des Jugendromans ließ ihre Gendanken immer wieder zu ihren eigenen zerbrochenen Beziehungen zurückwandern. Wenn sie nur als Kind, als sie diese Bücher zum ersten Mal gelesen hatte, erkannt hätte, dass das Leben nicht so war, wie es auf diesen Seiten dargestellt wurde.

In dem Moment hörte Emily ein Klopfen an der Haustür. Sofort wusste sie, dass es Daniel sein würde, denn sie hatte niemanden bestellt, der vorbeikommen sollte, kein Schreiner oder Verputzer und schon gar keinen Lieferservice. Sie sprang auf und ging in den Flur hinaus, dann öffnete sie die Tür für ihn.

Er stand dort auf der Stufe, von hinten durch eine Laterne erleuchtet, Motten schwirrten um ihn herum durch die Luft.

„Der Strom geht“, sagte er und deutete auf das Licht.

„Ja“, erwiderte sie grinsend, stolz, dass sie etwas geschafft hatte, von dem er fest ausgegangen war, dass sie es nicht könnte.

„Ich nehme an, das bedeutet, dass es nicht mehr nötig sein wird, dir Suppe vor die Tür zu stellen“, sagte er.

Emily konnte an seinem Tonfall nicht erkennen, ob er freundlich mit ihr scherzte oder die Situation für einen weiteren Tadel nutzen wollte.

„Nein“, antwortete sie. Ihre Hand legte sich auf die Tür, als ob sie sie gleich schließen wollte. „Gibt es sonst noch was?“

Daniel schien noch nicht gehen zu wollen, als ob ihm noch etwas auf der Seele liegen würde, Worte, von denen er nicht wusste, wie er sie aussprechen sollte. Emily kniff ihre Augen zusammen, scheinbar instinktiv ahnend, dass ihr seine Worte nicht gefallen würden.

„Also?“, fragte sie noch einmal.

Daniel rieb sich über die Seite seines Halses. „Eigentlich, ja. Ich, äh, habe heute Karen getroffen, aus dem Gesamtwarenladen. Sie, nun ja, ist nicht wirklich gut auf dich zu sprechen.“

„Und du bist hier, um mir das zu sagen?“, wollte Emily wissen, ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. „Dass mich Karen aus dem Laden nicht mag?“

„Nein“, antwortete Daniel defensiv. „Eigentlich wollte ich fragen, wann du wieder weggehst.“

„Oh, und das ist so viel besser, nicht wahr?“, zischte Emily sarkastisch. Sie konnte nicht glauben, was für ein Idiot Daniel war, dass er herkam, um ihr zu sagen, dass niemand sie mochte und um herauszufinden, wann sie wieder ging.

„So meinte ich das nicht“, erwiderte Daniel verzweifelt. „Ich muss wissen, wie lange du bleibst, weil es an meine Aufgabe sein wird, das Haus über den Winter in Stand zu halten. Ich muss die Rohre ablassen, den Boiler abstellen und noch andere Dinge tun. Ich meine, ist dir überhaupt klar, wie viel es kosten würde, das Haus den ganzen Winter lang zu heizen?“ Daniel betrachtete ihren Gesichtsausdruck, der ihm die Antwort verriet. „Das dachte ich mir schon.“

„Ich hatte einfach nicht daran gedacht“, entgegnete Emily, um seinem anklagenden Blick zu entkommen.

„Natürlich hast du das nicht“, antwortete Daniel „Du bleibst einfach nur ein paar Tage in der Stadt, beschädigst das Anwesen und überlässt es dann mir, die Scherben aufzuheben.“

Emily ärgerte sich und wenn sie von jemandem herausgefordert und bedroht fühlte oder für dumm erklärt wurde, verspürte sie immer den Dran, sich verteidigen zu müssen. „Ach ja“, sagte sie mit lauter werdender Stimme, „vielleicht gehe ich in ein paar Tagen ja gar nicht weg. Vielleicht bleibe ich den ganzen Winter lang hier.“

Schnell schloss sie ihren Mund, geschockt, welche Worte aus ihrem Mund kamen. Sie hatte noch nicht einmal die Zeit gehabt, darüber nachzudenken, bevor sie herausgeplatzt waren. Ihr Mund ging mit ihr durch.

Daniel sah beunruhigt aus. „Du wirst in diesem Haus niemals überleben“, stammelte er, genauso geschockt wie Emily von der Vorstellung, sie für längere Zeit in Sunset Harbor zu haben. „Es würde dich auffressen. Außer du bist reich. Und du schaust nicht wirklich reich aus.“

Emily zuckte bei dem spöttischen Grinsen auf seinem Gesicht zurück. Noch nie hatte jemand sie so beleidigt. „Du weißt gar nichts über mich!“, schrie sie, ihre Gefühle waren endgültig in echte Wut umgeschlagen.

„Du hast Recht“, erwiderte Daniel „Und dabei sollte es auch bleiben.“