Tasuta

Für Jetzt und Für Immer

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Märgi loetuks
Für Jetzt und Für Immer
Für Jetzt und Für Immer
Tasuta audioraamat
Loeb Birgit Arnold
Lisateave
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Emily und Daniel wechselten einen kurzen, verwirrten Blick.

„Aber es steht doch gar nicht zum Verkauf“, bemerkte Emily mit verdatterter Stimme. „Das ist das Haus meines Vaters. Ich habe es geerbt.“

„Haben Sie das?“, wollte Trevor wissen. Seine freundliche Stimme schien nicht zu seinen Worten zu passen. „Roy Mitchell ist nicht tot, oder?“

„Nun ja, nein, ich weiß es nicht. Er ist…“, stammelte Emily. „Es ist kompliziert.“

„Laut meinen Informationen ist er eine vermisste Person“, entgegnete Trevor. „Was bedeutet, dass sich das Haus in einer rechtlichen Grauzone befindet. Die Steuerrückstände wurden seit Jahren nicht mehr bezahlt. Damit ist so viel Bürokratie verbunden.“ Er gluckste. „Aus Ihrem leeren Gesichtsausdruck schließe ich, dass Sie davon nichts wussten.“

Emily schüttelte ihren Kopf, sie war durch Trevors Eindringen in ihre Leben gleichermaßen verwirrt und frustriert. Warum hatte er sich gerade diesen Abend, an dem der Brief ihres Vaters Löcher in ihre Hosentasche brannte, für sein Auftauchen ausgesucht? „Hören Sie, das Haus steht nicht zum Verkauf. Es gehörte meinem Vater und ich habe jeder Recht, hier zu sein.“

„Eigentlich“, widersprach Trevor, „haben Sie das nicht. Ich habe wohl vergessen zu erwähnen, dass ich dem Gremium angehöre, das über Grenzen und Grundstücke entscheidet. Ich, Karen und ein paar andere Leute, die nicht gerade erfreut von Ihrer Ankunft hier waren. Ich habe meine Pflicht als Nachbar wahrgenommen und Sie darüber informiert, dass das Haus aufgrund der fehlenden Steuerzahlungen eigentlich der Stadt gehört. Zudem wurde es von ein paar Jahren als unbewohnbar erklärt. Wenn Sie also weiterhin hier leben wollen, dann müssen Sie eine neue Bescheinigung über die Bewohnbarkeit vorlegen. Im Moment ist es illegal, hier zu leben, verstehen Sie das?“

Sie schaute ihn finster an. In jedem Bereich ihres Lebens hatte Emily festgestellt, dass es Menschen gab, die sie kleinhalten und ihr vorschreiben wollten, was sie nicht tun konnte – egal, ob es sich um Arbeitgeber, Lebenspartner oder unfreundliche Nachbarn handelte, sie alle waren gleich. Sie alle wollten über sie bestimmen, sie kleinhalten und sie daran hindern, ihre Träume wahr werden zu lassen.

Aber sie hatte genug davon, dass andere Menschen über sie bestimmten.

„Das mag vielleicht sein“, antwortete sie, „aber das heißt noch lange nicht, dass das Haus meines Vaters Ihnen gehört, nicht wahr?“ Auf ihrem Gesicht lag ebenfalls ein breites Lächeln, das nicht zu dem Gift in ihrer Stimme passte.

Schließlich ließ er seine Maske fallen, zusammen mit seinem Lächeln.

„Unsere Stadt kann Ihr Haus einfordern und es versteigern“, zischte er. „Dann kann ich es kaufen.“

„Warum tun Sie das dann nicht?“, schnappte sie.

Sein finsterer Blick vertiefte sich.

„Rechtlich gesehen“, sagte er und räusperte sich, „wäre es einfacher, es Ihnen abzukaufen. Diese rechtliche Lage könnte den ganzen Prozess noch jahrelang hinauszögern. Wie schon gesagt, es ist eine Grauzone. So etwas ist noch nie in unserer Stadt vorgekommen.“

„Was für ein Pech für Sie“, gab sie zurück.

Sprachlos starrte er sie an und Emily war stolz auf sich, dass sie sich gegen seine bestimmende Weise zur Wehr gesetzt hatte.

Trevors Lippen verzogen sich zu einem müden Lächeln. „Ich gebe Ihnen ein wenig Zeit, darüber nachzudenken. Aber ernsthaft, ich weiß gar nicht, was es da noch zu überlegen gibt. Ich meine, was werden Sie mit diesem Haus machen? Wenn das Reiz des Neuen verflogen ist, werden Sie wieder verschwinden und über den Sommer zurückkehren, für zwei Monate pro Jahr. Oder wollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie vorhaben das ganze Jahr hier zu verbringen? Was würden Sie denn so lange tun? Seien Sie realistisch. Sie werden wie alle anderen auch im Herbst abreisen. Oder Ihnen wird das Geld ausgehen.“ Er zuckte mit den Schultern und stieß ein Lachen aus, als ob er sie nicht gerade bedroht und ihr Vermögen beleidigt hätte. „Es wäre das Beste für Sie, Ihr Land an mich zu verkaufen, solange das Angebot noch steht. Warum machen Sie uns beiden das Leben nicht einfacher und verkaufen mir Ihr Grundstück?“, drängte er. „Bevor ich die Polizei rufe, um Sie verhaften zu lassen?“ Er warf einen Blick auf Daniel. „Zusammen mit Ihrem Lebenspartner“, fügte er hinzu.

Daniels Augen glühten.

Sie blieb standhaft.

„Warum verschwinden Sie nicht endlich von meinem Land?“, forderte sie. „Und gehen zurück zu ihren hundert Morgen ohne jeglichen Ausblick, bevor ich die Polizei rufe und Sie wegen Hausfriedensbruch verhaften lasse?“

Er schaute aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht, drehte sich auf dem Absatz um und ging über den Rasen davon.

Emily knallte die Tür so hart zu, dass das ganze Haus vibrierte. Verloren und verwirrt schaute sie Daniel an und stellte fest, dass in seinen Augen genauso viel Sorge lag.

KAPITEL ZEHN

Emily stand wütend und mit klopfendem Herzen da. Trevor Mann hatte sie richtig aufgewühlt.

Doch sie konnte sich nicht lange auf ihren Ärger durch seinen Besuch konzentrieren, denn ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Brief in ihrer hinteren Hosentasche zurück.

Der Brief, den ihr Vater an sie geschrieben hatte.

Sie holte ihn hervor und schaute ihn bewundernd an.

„Was für ein Idiot“, begann Daniel. „Denkst du wirklich –“

Als er ihren Gesichtsausdruck sah, unterbrach er sich selbst.

„Was hast du denn da?“, fragte Daniel stirnrunzelnd. „Einen Brief?“

Emily blickte auf den Umschlag in ihren Händen. Einfach, weiß, Standardgröße. Er sah so harmlos aus und doch hatte sie Angst davor, was wohl darinstehen könnte. Das Geständnis eines Verbrechens? Die Enthüllung eines geheimen Lebens als Spion oder als Ehemann einer anderen Frau? Wie wäre es mit einem Abschiedsbrief vor dem Freitod? Sie war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn ihre letzte Vermutung zuträfe, und traute sich gar nicht daran zu denken, wie ihre Reaktion bei den zuvor genannten Szenarien ausfallen würde.

„Er ist von meinem Vater“, sagte Emily ruhig und schaute zu ihm auf. „Ich habe ihn weggeschlossen in seinen Sachen gefunden.“

„Oh“, antwortete Daniel. „Dann sollte ich vielleicht gehen. Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass –“

Doch Emily legte ihre Hand auf seinen Arm, um ihn am Weggehen zu hindern. „Bleib“, bat sie ihn. „Bitte? Ich will ihn nicht alleine lesen.“

Daniel nickte. „Wollen wir uns hinsetzen?“ Seine Stimme hatte einen weicheren und einfühlsameren Ton angenommen. Er deutete auf die Tür, die ins Wohnzimmer führte.

„Nein“, entgegnete Emily. „Hier entlang. Komm mit.“

Sie führte Daniel die Treppe hinauf und den Flur entlang, an dessen Ende das Arbeitszimmer ihres Vaters lag.

„Als Kind starrte ich häufig diese Tür an“, bemerkte Emily. „Ich durfte nie hineingehen. Aber schau.“ Sie drehte den Knauf und stieß die Tür auf. Mit einem kleinen Schulterzucken drehte sie sich zu Daniel um. „Sie war nicht einmal verschlossen.“

Daniel schenkte ihr ein einfühlsames Lächeln. Er schien auf Eierschalen zu gehen und sie konnte verstehen warum. Was auch immer in dem Brief stand, konnte explosiv sein. Es könnte in ihrem Gehirn gewissermaßen eine katastrophale Reaktion auslösen und sie in Verzweiflung stürzen.

Sie traten in die Dunkelheit des Arbeitszimmers und Emily setzte sich an den Schreibtisch ihres Vaters.

„Er hat mir diesen Brief genau hier geschrieben“, sagte sie. „Dann hat er die Schublade geöffnet, in hineingelegt und verschlossen. Anschließend versteckte er den Schlüssel in dem Tresor und ging für immer aus meinem Leben.“

Daniel zog einen Stuhl heraus und setzte sich neben sie. „Bist du bereit?“

Emily nickte. Verängstigt wie ein kleines Kind, das bei einem Gruselfilm die Hände vors Gesicht hielt und zwischen seinen Fingern hindurchlinste, schaffte Emily es kaum, den Brief aufzuheben und ihn aufzureißen. Sie zog das Papier aus dem Umschlag – es war lediglich ein einfach gefaltetes DIN-A5 Blatt. Als sie es aufklappte, begann ihr Herz, wild zu schlagen.

Liebe Emily Jane,

Ich weiß nicht, wie viel Zeit seit meinem Verschwinden vergangen sein wird, bis du diesen Brief liest. Ich hoffe nur, dass du bei deinen Gedanken an mich nicht zu sehr leidest.

Dich zu verlassen, wird mir großen Kummer bereiten, daran zweifele ich nicht. Aber ich konnte nicht bleiben. Ich hoffe, dass due das eines Tages akzeptieren wirst, auch wenn du mir nie verzeihen kannst.

Ich möchte dir nur zwei Dinge sagen. Als erstes, und das musst du mir glauben, war nichts deine Schuld. Weder das, was mit Charlotte geschehen ist, noch der Zustand meiner Ehe mit deiner Mutter.

Als zweites möchte ich dir sagen, dass ich dich liebe. Jeden Moment deines Lebens. Du und Charlotte waren mein wertvollster Beitrag zu dieser Welt. Wenn ich dir das nie gezeigt haben, dann kann ich mich nur entschuldigen, auch wenn eine Entschuldigung nicht ausreicht.

Ich hoffe, dass es dir gutgeht, wenn du diesen Brief liest, wann immer das auch sein wird.

In grenzenloser Liebe,

Dein Vater

Emily Kopf befand sich in einem Wechselbad der Gefühle. Sie hatte den Brief wieder und wieder gelesen und jedes Mal hatte sich ihr Griff verstärkt. Durch die Worte ihres Vaters auf dem Papier zu sehen und seine Stimme, an die sie sich noch nach über zwanzig Jahren erinnern konnte, in ihren Gedanken zu hören, erschien ihr seine Abwesenheit mächtiger als je zuvor.

 

Sie ließ den Brief aus ihren Fingern gleiten. Er landete auf dem Schreibtisch und fing ihre Tränen auf. Daniel griff nach ihrer Hand, als ob er sie darum bitten würde, ihren Schmerz mit ihm zu teilen, und in seinem Gesicht lag große Sorge, doch Emily brachte die Worte kaum heraus.

„Jahrelang bin ich davon ausgegangen, dass er mich verlassen hat, weil er mich nicht genug liebte“, stammelte sie. „Weil ich nicht Charlotte war.“

„Wer ist Charlotte?“, fragte Daniel höflich.

„Meine Schwester“, erklärte Emily. „Sie ist tot. Ich dachte immer, dass er mir die Schuld daran gab, doch das tat er gar nicht. So steht es in dem Brief. Er gab mir nicht die Schuld daran. Doch wenn das nicht der Grund für sein Verschwinden war, warum ist er dann überhaupt fortgegangen?“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte Daniel, der einen Arm um seine Schulter legte und sie an sich zog. „Ich glaube nicht, dass man die Absichten anderer Menschen oder die Gründe für ihr Handeln je komplett verstehen kann.“

„Manchmal frage ich mich, ob ich ihn überhaupt wirklich kannte“, murmelte Emily niedergeschlagen in seine Brust. All diese Geheimnisse. Der Ballsaal, die verdammte Dunkelkammer! Ich wusste ja nicht einmal, dass er gerne fotografierte.“

„Also eigentlich war ich das“, gab Daniel zu.

Emily hielt inne, dann löste sie sich aus seiner Umarmung. „Was meinst du damit, dass du das warst?“

„Die Dunkelkammer“, wiederholte Daniel. „Dein Vater richtete sie vor Jahren für mich ein.“

„Wirklich?“, fragte Emily, während sie ihre Tränen zurückschniefte. „Warum?“

Daniel seufzte und rückte ein Stück von ihr ab. „Als ich jünger war, erwischte mich dein Vater auf dem Grundstück. Ich war von Zuhause davongelaufen und ihr wart ja sowieso nur selten da. Ich dachte mir, dass ich mich in der Scheune verstecken und mich niemand bemerken würde. Doch dein Vater entdeckte mich. Aber anstatt mich von dem Grundstück zu verjagen, gab er mir etwas zu Essen und Bier“ – bei der Erinnerung sah er grinsend zu ihr auf – „Dann fragte er mich, vor was ich davonlief. Also erzählte ich ihm die ganze Teenager-Nummer. Dann meine Eltern mich nicht verstanden und dass sich unsere Vorstellungen für meine Zukunft stark unterschieden, weshalb wir nicht miteinander klarkamen. Zu dieser Zeit war ich am Entgleisen, ich schwänzte die Schule, bekam wegen dummen Aktionen Ärger mit der Polizei und solche Dinge. Doch er blieb ruhig und redete mit mir. Nein, er hörte mir zu. Sonst tat das ja niemand. Er wollte wissen, was mir Spaß machte. Es war mir peinlich, weißt du, ihm zu erzählen, dass ich gerne fotografierte. Welcher sechzehnjährige Junge gibt so etwas schon freiwillig zu? Aber ihm machte das nichts aus. Er erlaubte mir sogar, dass ich die Scheune als Dunkelkammer benutzen könnte, was ich dann auch getan habe.“

Emilys Gedanken kehrten zu den Fotos zurück, die sie in der Scheune gefunden hatte. Die schwarz-weiß Bilder, die die müde Seele ihres Fotografen widerspiegelten. Sie hätte nie gedacht, dass die Fotos von einem Kind, einem sechzehnjährigen Jungen, der Zuhause Schwierigkeiten hatte, stammten.

„Dein Vater legte mir Nahe, wieder nach Hause zu gehen“, fügte Daniel hinzu. „Doch als ich mich weigerte, schloss er mit mir einen Handel. Wenn ich die Schule beendete, würde er mich in dem Kutschenhaus wohnen lassen. Also kam ich ein ganzes Jahr lang hierher, dieser Ort wurde schnell zu meiner Zufluchtsstätte. Wegen deinem Vater machte ich meinen Abschluss. Ich freute mich darauf, ihn wieder zu sehen und ihm von all dem zu erzählen. Ich vergötterte ihn und wollte ihm zeigen, was ich geschafft und wie sehr er mir geholfen hatte, dass ich wegen ihm wieder auf die richtige Bahn geraten war.“ Dann schaute Daniel ihr direkt in die Augen. Die Intensität seines Blickes sandte kleine Blitze durch ihren ganzen Körper. „Doch er kam in jenem Sommer nicht zurück. Im nächsten auch nicht. Nie wieder.“

Die Bedeutung seiner Worte trafen Emily hart. Sie hätte nie gedacht, dass das Verschwinden ihres Vaters außer ihr noch einen anderen Menschen so zugesetzt haben könnte, doch Daniel schüttete ihr gerade sein Herz aus und zeigte ihr, dass er ihren Schmerz teilte. Auch Daniel verspürte die Ungewissheit, was passiert sein könnte und diese innere Leere.

„Ist das der Grund, warum du für das Grundstück sorgst?“, fragte Emily leise.

Daniel nickte. „Dein Vater gab mir eine zweite Chance, die einzige, die ich je hatte. Deshalb versuche ich, dieses Grundstück zu erhalten.“

Beide schwiegen. Dann schaute Emily zu ihm aus. Von allen Menschen in der Welt schien Daniel der einzige zu sein, der von dem Verschwinden ihres Vaters ebenso betroffen war wie sie. Das hatten sie gemeinsam. Und irgendetwas an dieser Verbindung sorgte dafür, dass sie sich mit ihm auf eine Weise verbunden fühlte, wie noch nie zuvor.

Daniels Augen wanderten über ihr Gesicht, sie schienen ihre Gedanken zu lesen. Dann legte er seine Hand an ihre Wange. Langsam zog er sie an sich und sie atmete seinen Geruch ein – Kiefern, frisch gemähtes Gras und Kaminholz.

Emily Augen schlossen sich und sie beugte sich in der Erwartung, seine Lippen bald auf ihren zu spüren, weiter vor. Doch nichts geschah.

Sie öffnete ihre Augen im gleichen Moment als Daniel seine Arme von ihr löste.

„Was ist los?“, wollte Emily wissen.

Daniel stieß einen langen Atem aus. „Meine Mutter war zwar keine nette Frau, doch sie hat mir einen guten Rat gegeben. Man sollte niemals ein weinendes Mädchen küssen.“

Mit diesen Worten stand er auf und durchquerte langsam das Arbeitszimmer in Richtung Tür. Emily spürte, wie sie in sich zusammensackte. Leise schloss sie die Tür hinter ihm, bevor sie sie sich dagegen lehnte und auf den Boden rutschte. Dabei liefen immer mehr Tränen über ihre Wangen.

KAPITEL ELF

Am nächsten Morgen hatte Emily nicht einmal genug Zeit, ihren Schlafanzug gegen richtige Kleidung zu tauschen, als sie die Türklingel hörte. Während sie die Treppe hinuntereilte, kehrten ihre Gedanken zu dem vergangenen Abend zurück. Sie hatte sehr schlecht geschlafen und sich in den Schlaf geweint. Jetzt fühlte sie sich schrecklich und es war ihr ziemlich peinlich, dass sie Daniel ihrem Gefühlsausbruch ausgesetzt und ihn mit sich gezogen hatte. Und dann gab es ja auch noch diesen Kuss, der nie stattgefunden hatte. Sie wusste nicht, ob sie ihm noch in die Augen schauen konnte.

Sie erreichte die Tür und zog sie auf.

„Du bist früh dran“, bemerkte sie lächelnd in dem Versuch, sich normal zu verhalten.

„Ja“, antwortete Daniel, der vor der Tür von einem Fuß auf den anderen trat. Seine Hände waren tief in seinen Hosentaschen vergraben. „Ich dachte mir, dass wir vielleicht zusammen frühstücken könnten?“

„Na klar“, erwiderte sie und bedeutete ihm einzutreten.

„Nein, ich meinte… wir könnten zusammen frühstücken gehen?“ Er begann, mit seiner Hand nervös über seinen Nacken zu streichen.

Emily blinzelte und versuchte, aus seinen Worten schlau zu werden. Dann verstand sie plötzlich, was er ihr sagen wollte und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Du meinst, wie ein Date?“

„Äh, ja“, gab Daniel zurück, dem die Situation sichtlich unangenehm war.

Emily grinste. Ihrer Meinung nach sah Daniel unglaublich süß aus, wie er so schüchtern auf ihrer Türschwelle stand. „Du fragst mich aber nicht, weil du dich wegen dem Brief schlecht fühlst?“, wollte sie wissen.

Auf Daniels Gesicht legte sich ein entsetzter Ausdruck. „Nein! Überhaupt nicht. Ich frage dich, weil ich dich mag und ich –“ Er seufzte, die Worte schienen ihm im Hals stecken zu bleiben.

„Das ist nur ein Scherz“, erwiderte Emily. „Ich würde gerne mit dir auf ein Date gehen.“

Daniel lächelte und nickte, doch er stand weiterhin unbehaglich in der Tür.

„Meinst du jetzt gleich?“, fragte Emily überrascht.

„Wäre es dir später lieber?“, vergewisserte er sich schnell. „Wir können auch Mittagessen gehen. Oder am Freitagabend. Ist dir Freitagabend lieber?“ Daniel sah niedergeschlagen aus.

Emily schüttelte den Kopf. „Nein“, beruhigte sie ihn. „Frühstück ist in Ordnung. Du musst mir allerdings ein wenig Zeit lassen, damit ich mich schminken und meine Haare bürsten kann.“

„Du schaust wunderbar aus so wie du bist“, widersprach Daniel, der sofort errötete.

„Ich mag vielleicht eine aufgeschlossene Frau sein“, entgegnete Emily, „aber auf einem Date will ich nur ungern einen Schlafanzug tragen.“ Sie lächelte ihn verschmitzt an. „Ich brauche nicht lange.“

Dann drehte sie sich um und ging die Stufen mit neuem Elan hinauf.

*

Das Material der Plastiknische stach von hinten in Emilys Beine. Sie rutschte in ihrem Sitz umher und strich mit den Händen über den Stoff ihres Rockes, was sie an den Abend vor ein paar Monaten erinnerte, an dem sie Ben in einem edlen New Yorker Restaurant gegenübergesessen und auf seinen Antrag gewartet hatte. Jetzt saß sie in Sunset Harbors neustem Diner, einem Restaurant mit dem Namen Joe’s gegenüber von Daniel, während Joe ihnen in ihre unangenehme Stille hinein ihr Frühstück auf den Tisch stellt.

„Also“, begann Emily, nachdem sie Joe ein dankendes Lächeln zugeworfen und ihren Blick wieder auf Daniel gerichtet hatte. „Jetzt sind wir hier.“

„Ja“, erwiderte Daniel, der in seine Tasse hinabschaute. „Über was willst du reden?“

Emily lachte. „Brauchen wir denn ein Thema?“

Das schien Daniel zu verwirren. „Ich meinte nicht, dass wir uns auf ein bestimmtes Thema festlegen müssen. Ich meinte, dass wir, du weißt schon, einfach reden sollten. Über irgendetwas.“

„Du meinst über etwas anderes als das Haus?“, fragte Emily mit einem Lächeln.

Daniel nickte. „Genau.“

„Okay“, begann Emily. „Wie wäre es, wenn du mir erzählst, wie lange du schon Gitarre spielst?“

„Ziemlich lange“, antwortete Daniel „Seit ich ein Kind war, ich glaube ich fing mit elf damit an.“

Emily hatte sich mittlerweile an Daniels Kommunikationsstil gewöhnt, er verwendete immer so wenige Worte wie nötig, um am meisten Informationen zu übermitteln. Wenn sie gemeinsam eine Wand anstarrten, die sie strichen, oder sich gegenseitig nach weiteren Nägeln fragten, machte es ihr normalerweise nichts aus. Doch als sie sich in dem Diner gegenübersaßen, war es ihr jedoch etwas unangenehm. Jetzt wusste Emily auch, warum Daniel das neue, billige Diner für ihr Date ausgewählt hatte, es war der informellste Ort auf der ganzen Welt. Sie konnte sich Daniel gar nicht in einem der edlen Restaurants vorstellen, in die Daniel sie ausgeführt hatte.

In diesem Moment kam Joe zum Tisch heran. „Ist mit dem Frühstück alles in Ordnung?“, fragte er.

„Ja, es passt alles“, entgegnete Emily mit einem höflichen Lächeln.

„Wollt ihr noch einen Kaffee?“, fügte er hinzu.

„Für mich nicht danke“, lehnte sie ab.

„Für mich auch nicht“, schloss sich Daniel an.

Doch anstatt die beiden alleine zu lassen, blieb Joe mit seiner Kaffeekanne wie angewurzelt stehen.

„Seid ihr Kinder auf einem Date?“, wollte er wissen.

Daniel machte den Eindruck, als ob er am liebsten im Erdboden versinken wollte und Emily schaffte es nicht, ein Kichern zu unterdrücken.

„Mehr ein Geschäftstreffen“, gab sie zurück, wobei sie sehr überzeugend klang.

„Oh, ach so, dann lass ich euch einmal alleine“, meinte Joe, bevor er mit seiner Kaffeekanne an einen anderen Tisch ging, um die Gäste dort zu nerven.

„Du machst den Eindruck, als würdest du am liebsten von hier verschwinden“, bemerkte Emily, als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Daniel richtete.

 

„Nicht wegen dir“, sagte Daniel schnell, denn es schien ihm peinlich zu sein.

„Mach dir keine Sorgen.“ Emily lachte. „Ich habe dich nur aufgezogen. Ich fühle mich hier drinnen auch etwas eingeengt.“ Sie warf einen Blick über ihre Schulter und sah, dass Joe immer noch in ihrer Nähe herumlungerte. „Wie wäre es mit einem Spaziergang?“

Er lächelte. „Gerne. Heute findet am Hafen ein Fest statt. Es ist ziemlich kitschig.“

„Ich mag es kitschig“, erwiderte Emily, die sein Zögern erkannte.

„Cool, also, wir lassen die Boote auf Wasser, das geschieht jedes Jahr zur gleichen Zeit. Die Menschen hier haben es in eine Art Fest verwandelt, Ich weiß nicht, ob du dich von deinen Besuchen daran erinnerst?“

„Nein, nicht wirklich“, gab Emily zu. „Ich würde es mir gerne anschauen.“

Daniel wirkte etwas schüchtern. „Ich habe auch ein Boot, aber ich habe es schon lange nicht mehr verwendet. Es ist mittlerweile wahrscheinlich verrostet. Ich bin mir sicher, dass der Motor auch nicht mehr funktioniert.“

„Warum verwendest du es nicht mehr?“, wollte Emily wissen.

Daniel wandte seinen Blick ab. „Das ist eine Geschichte für einen anderen Tag“, war seine einzige Antwort.

Emily spürte, dass sie auf ein sensibles Thema gestoßen war, wodurch ihr seltsames Date noch ungemütlicher wurde.

„Lass uns auf das Fest gehen“, sagte sie.“

„Wirklich?“, vergewisserte sich Daniel. „Wir müssen nicht nur wegen mir dort hingehen.“

„Ich will es mich wirklich anschauen“, gab Emily zurück. Und das meinte sie auch. Trotz der langen Pausen und den heimlichen Seitenblicken, genoss sie Daniels Gesellschaft und wollte nicht, dass das Date schon vorüber war.

„Komm schon“, forderte sie ihn fröhlich auf und legte ein paar Geldscheine auf den Tisch. „Hey Joe, wir haben dir etwas Geld hiergelassen. Ich hoffe, das ist okay“, rief sie dem älteren Mann zu, bevor sie ihre Jacke von der Stuhllehne nahm und aufstand.

„Emily, es ist schon in Ordnung“, bemerkte er. „Du musst wirklich nicht mit mir auf ein langweiliges Fest gehen.“

„Ich will es aber“, versicherte sie ihm. „Wirklich.“

Dann ging sie zur Eingangstür und ließ Daniel keine andere Wahl, als ihr zu folgen.

Sobald sie auf der Straße waren, konnte Emily aus der Ferne die Girlanden und Luftballons im Hafen sehen. Die Sonne schien, doch eine dünne Wolkenschicht war aufgezogen und kühlte die Luft ab. Viele Menschen liefen die Straße hinunter in Richtung Hafen und Emily erkannte, dass das Zuwasserlassen der Boote in der Stadt anscheinend wirklich eine große Sache war. Sie und Daniel folgten der Menschenmenge bis zum Hafen, wo eine Blaskapelle Musik spielte. An der Straße entlang waren verschiedene Stände aufgebaut, die Zuckerwatte und Süßigkeiten verkauften.

„Soll ich dir etwas ausgeben?“, fragte Daniel lachend. „Das macht man doch auf einem Date, nicht wahr?“

„Gerne“, erwiderte Emily.

Sich kicherte laut, als sie beobachtete, wie sich Daniel durch die Menge seinen Weg zur Zuckerwattemaschine bahnte, die von lauter Kindern umgeben war. Dort kaufe er eine riesige, blaue Zuckerwolke für sie und trug sie vorsichtig durch den stetigen Menschenstrom, bevor er sie ihr mit einer Verbeugung überreichte.

„Was ist das für eine Geschmacksrichtung?“, fragte Emily lachend, als sie die neonblaue Farbe betrachtete. „Ich wusste gar nicht, dass man Zuckerwatte in solch einem funkelnden blau kaufen kann.“

„Ich glaube, es ist Traube“, erwiderte Daniel.

„Funkelndes blau“, ergänzte Emily.

Sie riss sich ein Stück Zuckerwatte ab. Es war bestimmt schon dreißig Jahre her, seit sie so etwas gegessen hatte, und als sie sich das grellblaue Zeug in den Mund steckte, stellte sie fest, dass es viel süßer schmeckte als sie sich vorgestellt hatte.

„Oh, davon bekommt man ja Zahnschmerzen!“, rief sie aus. „Jetzt bist du dran.“

Daniel nahm sich eine Handvoll des grellblauen Zeuges und steckte es sich in den Mund. Sofort legte sich ein angewiderter Ausdruck auf sein Gesicht.

„Oh Gott. Und sowas geben Eltern ihren Kindern?“, bemerkte er.

„Dein Munt ist ganz blau!“, stellte Emily vergnügt fest.

„Deiner auch“, gab Daniel zurück.

Emily lachte und hängte ihren Arm bei seinem ein. Während sie langsam zum Wasser hinunterliefen, gab die Musik den Takt ihrer Schritte vor. Als sie schließlich dabei zusahen, wie die Boote zu Wasser gelassen wurden, legte Emily ihren Kopf auf Daniels Schulter. Sie konnte die Ausgelassenheit der Stadtbewohner spüren, was sie wieder daran erinnerte, warum sie sich so in diesen Ort verliebt hatte. Wo auch immer sie hinschaute, überall erblickte sie lachende Gesichter und Kinder, die sorglos und zufrieden herumrannten. Vor langer Zeit war auch sie einmal genauso gewesen, doch das war, bevor die dunklen Ereignisse ihres Lebens sie für immer veränderten.

„Es tut mir leid, das ist dämlich“, bemerkte Daniel. „Ich hätte dich nicht hierherbringen sollen. Wenn du willst, können wir gehen.“

„Warum denkst du, dass ich gehen will?“, entgegnete Emily.

„Du schaust so traurig aus“, sagte Daniel, während er seine Hände in die Hosentaschen steckte.

„Ich bin nicht traurig“, erwiderte Emily wehmütig. „Ich denke nur gerade über mein Leben nach, über meine Vergangenheit.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Und über meinen Vater.“

Daniel nickte und ließ seinen Blick wieder über das Wasser schweifen. „Hast du das gefunden, weswegen du hergekommen bist? Sind deine Fragen nun beantwortet?“

„Als ich herkam, wusste ich nicht einmal, auf welche Fragen ich eine Antwort suchte“, erwiderte sie, ohne ihn anzuschauen. „Aber es fühlt sich so an, als ob dieser Brief sie auf eine Weise beantwortet hätte.“

Lange Zeit herrschte Schweigen, bevor Daniel wieder anfing zu reden. „Heißt das, dass du jetzt wieder weggehst?“

Sein Gesichtsausdruck war ernst. Zum ersten Mal meinte Emily, in seinen Augen etwas lesen zu können. Sehnsucht. Sehnsucht nach ihr? „Ich hatte nie vor, hier zu bleiben“, gab sie leise zu.

Daniel wandte seinen Blick ab. „Das weiß ich, aber es hätte ja sein können, dass du deine Meinung geändert hast.“

„Darum geht es nicht“, meint Emily. „Es geht darum, ob ich es mir leisten kann. Ich lebe schon seit drei Monaten von meinen Ersparnissen. Und wenn Trevor Mann sich durchsetzen kann, dann werde ich den Rest für Anwaltskosten und Steuerrückzahlungen aufbringen müssen.“

„Das werde ich nicht zulassen“, bestimmt Daniel.

Sie hielt inne und musterte sein Gesicht. „Warum ist dir das so wichtig?“

„Weil ich rechtlich gesehen auch keinen Wohnanspruch habe“, antwortete Daniel, der sie überrascht ansah, als ob er nicht glauben könnte, dass sie nicht von alleine darauf gekommen war. „Wenn du gehst, muss ich auch gehen.“

„Oh“, erwiderte Emily ernüchtert. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass der Verlust des Hauses nicht nur für sie selbst, sondern auch für Daniel einen Umbruch bedeuten würde. Sie hatte gehofft, dass ihm das Haus ihretwegen wichtig war, doch anscheinend hatte sie die Situation falsch gedeutet. Sie fragte sich, ob Daniel einen Ort hatte, an den er gehen könnte.

Plötzlich erblickt Emily den Bürgermeister in der Menschenmenge. Ihre Augen weiteten sich verschmitzt. Sie wandte sich von Daniel ab und verschwand in der Menge.

„Emily, wo gehst du hin?“, fragte er verzweifelt, als er merkte, dass sie davonlief.

„Komm mit!“, rief sie und bedeutete ihm, ihr zu folgen.

Emily bahnte sich ihren Weg durch die Menschenmenge, doch der Bürgermeister verschwand in den Gesamtwarenladen. Als Emily nach ihm hereinstürmte, ertönte die Klingel über der Tür und kurze Zeit darauf noch einmal, als auch Daniel hereinplatzte. Der Bürgermeister drehte sich um und musterte die beiden.

„Hi!“, sagte sie fröhlich, als sich der Bürgermeister schon wieder abwenden wollte. „Erinnern Sie sich an mich? Emily Mitchell. Emily Jane.“

„Oh ja, ja“, antwortete der Bürgermeister. „Gefällt Ihnen das Fest?“

„Ja, das tut es“, erwiderte Emily. „Ich bin froh, dass ich Sie hier treffe.“