Mariedl

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5. Große Pulte für große Mädchen

„Also, das wird nix!“, meint die Lehrerin Rosalie Magd, eine hagere Dame mit hochgebundenem Knödel, und schiebt ihre Brille auf der Nasenspitze zurecht. Es ist der erste Schultag nach den Sommerferien.

Maria weiß nicht, wo sie hinsehen soll. Sie ist inzwischen zehn Jahre alt, aber aussehen tut sie nicht so, das weiß sie. Maria blickt schuldbewusst auf ihre viel zu langen Glieder.

„Ich fürchte, mein Kind“, säuselt die Lehrerin, und das Wort Kind klingt wie fremd in ihrem Mund, „wir müssen dir eine eigene Schulbank aufstellen.“

Mit zitterndem Blick sieht Maria um sich, findet schließlich einen Anknüpfungspunkt: Rosa. Klein, selbstbewusst und gerade sitzt die Schwester da auf ihrer Bank und sieht Maria zuversichtlich an. Wie ein spitzer Pfeil wirkt Rosa.

„Große Helden brauchen große Bänke“, platzt sie heraus, die Schwester in Schutz nehmend.

„Dich hat keiner g’fragt, Rosa!“, entgegnet die Lehrerin.

Maria sieht deren Gesicht an, in dem welk ein Mund liegt. Der Mund der Lehrerin ist ein vertrocknetes Blatt, denkt sie. Aber sie nickt nur und nickt. Steht sofort brav auf, der Lehrerin zu helfen. Das Heben der Schulbank stellt für sie kein Problem dar.

Mit eingezogenen Schultern, Schildkröte spielend, hievt Maria das Holzpult, das eigentlich für große, also erwachsene Menschen wie die Lehrerin gedacht ist, in den Raum. Platziert sich möglichst weit hinten, sodass sie nicht noch mehr auffällt. Das freilich entgeht der Lehrerin nicht. Sie lüpft ein wenig ihren viel zu langen, kartoffelsackähnlichen Rock und meint mit greller Stimme: „Nicht so weit im Eck, Maria. Wir wollen schon, dass du zu uns gehörst, oder?“

Die Riesin blickt sich zweifelnd um, schaut wieder in Rosas Gesicht, sieht ihr zuverlässiges Nicken. „Ja!“, meint sie dann flach.

Bald schon beginnt der Unterricht, und man ist zum Glück mit anderen Dingen beschäftigt. Mit Kreide gilt es, auf die Schiefertafeln zu malen, Rechenaufgaben zu lösen, über das Vieh auf der Weide zu lernen, die Buchstaben nachzumalen, die Rosalie Magd mit ihrer krakeligen Schrift auf die Tafel kritzelt. Maria zieht die Beine ein unterm Pult, macht sich winzig und kippt vornüber in ihre Bücher. Die Buchdeckel sind ein Schutz, ähnlich wie ein Panzer oder die Rüstungen, von denen Rosa mal erzählt hat – so was haben nämlich nur die Ritter! Kaum blickt die Riesin auf in diesen Stunden.

„Mutterl, geht’s heim?“, will später auf dem Heimweg auch noch dazu eine Frau wissen, als Rosa und Maria über die Äcker zurück zum Hof wandern.

In Maria kriecht die Schamesröte hoch. Sie spürt, wie ihre Wangen heiß werden. Mutterl! Sie nennt sie Mutterl, denkt, dass sie eine erwachsene Frau ist!

„Ich bin ja selber noch Schülerin!“, antwortet Maria da und bemüht sich, die tiefe raue Stimme möglichst frisch und hoch klingen zu lassen – vergebens! Wie sehnt sie sich danach, eine Stimme zu haben wie die anderen Mädchen, die mit ihren Brezelzöpfen. Piepsig sind sie, hell und klar, und wenn sie lachen, dann klingt es unschuldig und kitzelig.

Rasch gehen Rosa und Maria weiter. Dass diese beschämende Begebenheit später eine beliebte Anekdote sein wird, weiß Maria jetzt noch nicht – und auch nicht, dass sie aus ihren vermeintlichen Schwächen bald schon Kapital schlagen wird. Denn: Alles kann verwandelt werden! Aber noch ist Maria bloß Kind, das von der Welt in einen zu großen Körper hineingeworfen wurde, die Seele winzig, krümmt sich zusammen in dem viel zu großen Raum, zieht sich zurück von allen und allem. Die Riesin Maria ist eine Schnecke. Nur die Musik tröstet und das Rauschen des Windes. So auch jetzt, als sie mit Rosa, den Lederranzen geschultert, neben dem Feldweg schlendert.

„Ob diese Frau wohl Gast beim Sonklarhof war?“, überlegt Rosa, die merkt, dass ihre Maria ein wenig zerknirscht aussieht.

In diesen Tagen nämlich ist der Sonklarhof, in dem immer wieder gern die Fremden einkehren, ein wichtiges Gebäude. Lang bereits steht er da, dieser Holzhof mit dem kleinen Erker und den ausladenden Hintergärten, hat der Vater einmal erzählt. Das ist lang, weiß auch Maria, denn sie kann die Jahre nicht an ihren Fingern abzählen!

Jetzt gehört der Gasthof der Anna Klotz, die sehr eingebildet ist. Vollbusig und leuchtend kennt jeder im Dorf diese rotwangige Anna mit den sinnlichen Lippen.

„Eingeheirat’ hat sie sich bei den Reichen!“, hat Theresia einmal abschätzig über sie gesagt. „Und sie denkt, sie weiß alles. Bloß weil der Mann Postmeister, Meisterschütze und ein fanatischer Alpinist ist!“, erinnert sich Maria an die Worte der Mutter.

„Na, was meinst?“, reißt Rosa Maria aus ihren Gedanken.

„Glaubst, war die ein Gast beim Sonklarhof?“

Maria zuckt nur mit den Schultern und sieht weiter auf den Weg.

Zum Glück kommen sie bald schon an einer Quelle vorbei. Maria hat die Quellen lieb, denn sie muss da immer an die Gottesmutter denken, die doch die Quelle des Lebens ist, wie alle sagen! So sieht sie verträumt dem Fluss des Wassers zu. Welle springt hier über Welle, überschlägt sich. Das Wasser hat seinen eigenen Rhythmus, einen Rhythmus des Friedens, der groß ist und gütig. Eine Art der Musik, die immer wieder sich selbst überspringt und die einen nach innen zieht, ganz hin zu sich selbst! Es braucht keine Worte, denkt Maria und blickt in die Sonne, die zwischen den Blätterdächern aufflammt. Ganz dünnhäutig ist ihr Zuhören. Das Wasser nichts als eine zerbrechliche Membran, die sich leicht zerdrücken ließe – und dann wieder doch nicht. So wie sie selbst irgendwie, denkt die Riesin: groß und grobschlächtig, aber innen ganz sanft, mit einem Herzen aus Glas. Sie sieht in die Wipfel, in den Himmel hinein, und der Blick wogt von Ferne zu Ferne. Das Ufer, die Lippe der Quelle, wispert geheimnisvoll.

„Was träumst denn schon wieder?“, murrt Rosa, während sie den elterlichen Hof erreichen.

„Ach nix“, entgegnet Maria, als sie die Küche betritt und ihren Ranzen ablegt.

Rosa natürlich kann ihren Mund nicht halten, und schon bald weiß es ein jeder. Freilich zuerst die Mutter, dann Hansl, Bernadette, Anna und Seppl, ja sogar der Vater hat’s gehört: „Eine eigene, größere Schulbank haben s’ aufgestellt, nur für die Moidl!“, ruft Rosa aus.

Maria schämt sich, aber die Mutter hat zum Glück anderes zu tun. „Ach ja?“, meint Theresia nur und knetet weiter ihre Knödel.

„Ich will auch eine eigene große Bank!“, ruft Seppl, der Letztgeborene, dessen rundes Gesicht ein heller Haarkranz umgibt, laut.

„Stimmt das wirklich?“, will Anna, die jüngste Schwester, mit ungläubigem Augenaufschlag von Maria wissen.

Diese aber schweigt bloß.

Rosa nickt und ihre hellen Locken wippen, die Wangen werden noch ein wenig rosiger dabei!

„Stellts euch vor“, wechselt der Vater, der zu merken scheint, dass Maria sich schämt, das Thema, „die Hallers erweitern ihr Anwesen um einen Speisesaal und um einen Trakt mit zwanzig Betten!“

Theresia verdreht die Augen. „Die können sich’s leisten“, meint sie lapidar.

Ein wenig scheint sie neidisch zu sein. Denn die Familie Haller hat viel Geld. Sie kann sich’s sogar leisten, den Hof nur in den Sommermonaten geöffnet zu haben. Achtzig Betten besitzt dieses Hotel, dazu jene zwanzig im Gästehaus! Und Strom haben sie auch, die Hallers, das ist etwas ganz Besonderes, weiß Maria Bescheid.

„Allerhand Komfort, ehrlich!“, meint Josef. „Die Reichen werden immer reicher.“

Theresia nickt und wäscht sich ihre Hände im Zuber, trocknet sie dann in der Schürze ab.

„Siebzehn Bergführer haben sie jetzt schon, die begleiten die Gäste. Wie der Haller das schafft, dabei auch noch die Teplitzer Hütte und das Kaiserin-Elisabeth-Schutzhaus zu betreiben?“, rutscht es der Magd Hedwig da heraus, die sich sofort auf die Lippen beißt und wieder den Knödeln zuwendet, als sie Theresias forschen Blick sieht.

Josef seufzt. „Manche sind eben mit Reichtum gesegnet!“

Maria überlegt. „Warum eigentlich wir nicht?“, will sie mit tiefem Ton wissen.

Die Mutter streicht ihr das Haar aus dem Gesicht und meint dann, den Topf für die Knödel auf den Herd hievend: „Weil der Herrgott was anderes will von uns!“

Josef verdreht nun die Augen: „Herrgott hin oder her. Wenn du viel lernst, über die Arbeit am Hof und übers Vieh und in der Schule, und hart arbeitest, dann mehrst auch das Geld!“

Maria begreift. Doch diese Idee gefällt ihr nicht. Sie lernt nicht gern. Die Worte im Schulbuch stechen wie Nadeln, Stecknadeln, zwicken ihr in ihren Blick. Sie sind ihr nicht weich genug; flirren und piksen ihre Augen noch, wenn sie sie längst geschlossen hält. Sie würde am liebsten nur liegen und träumen.

„Braucht man denn wirklich viel Geld, um glücklich zu sein?“, fragt Maria den Vater.

„Nein“, entgegnet Theresia. „Aber manches wird leichter!“

Maria überlegt wieder. Ob es ihr irgendwie gelingen könnte, die Eltern reich zu machen? Schließlich will sie, dass es die Familie gut hat.

Sie sieht die Mutter an, und für einen Moment wandert eine Wolke der Traurigkeit über ihren Kopf. Sie weiß selbst nicht warum! Aber dann wischt sie die dumpfen Gedanken ganz schnell weg und bemüht sich, guten Mutes zu sein.

„Soll ich dir bei den Krapfen helfen?“, will die Riesin von der Mutter wissen.

„Gutes Mädchen“, meint Theresia. „Ja, anpacken kannst! Deine eigene Bank, die hast dir verdient!“

Da wird die Riesin rot und greift rasch nach der Butter, um die Töpfe auszuschmieren.

6. Maria und die Kühe

Die Sprache der Tiere ist besonders, so viel hat Maria früh gelernt. Bereits in jungen Jahren liebt sie sie. Hat eine Freude mit ihnen, und wie! Das Vieh auf die Weide treiben, das sagt der Riesin zu. Denn die Kühe sind ihr ähnlich: sind dankbar, groß und träge und wollen nichts als ein wenig Gras fressen. Dicht bewimpert und gut sind ihre Augen, blicken um sich, friedlich. Nichts geschieht, außer dass vielleicht einmal eine mit ihrem Schwanz in die Luft peitscht, gegen eine Fliege ausschlägt, die sich in der Hitze auf den trägen, fetten Leib gelegt hat.

 

Als Maria eines Tages zur Quelle am Felsen streift, um Wasser zu holen, erscheint wieder eine kleine Katze am Wegesrand. Ihre Augen sind gerötet, ein wenig müde sieht sie aus. Maria lächelt sie an. Mit einer vorsichtigen Bewegung hebt die Riesin das winzige Tier in die Höhe und trägt sie mit sich. Dabei stößt sie murrende Laute aus, die die Katze schließlich erwidert, nachdem sie ein wenig kläglich gemaunzt hat.

Die Riesin Maria kann brummen, kann Wesen in den Schlaf brummen, wenn sie will. Als die Katze einschläft, platziert Maria sie unter einem Baum auf der Heide und geht zu den Kühen zurück.

„Na, meine schönen Mädchen?“ Maria streicht über deren Flanken, klopft die gemütliche Haut der Tiere. Sie ist jetzt elf und verrichtet daher noch mehr Arbeit.

Die Tage sind dicht getaktet. Maria streift in den Hof, um Brennholz zu holen. Dann melkt sie die Kühe, fasst die Milch in einen Topf und karrt Brennholz und Milch zu ihrem Lager. Die Katze liegt inzwischen eingerollt in sich selbst da.

„Gleich kommt Rettung!“, ruft Maria ihr zu und beginnt ein Lied zu singen.

Dann hebt sie die Katze an ihren Bauch, beginnt zu summen. So hat es auch die Mutter mit ihr gemacht, als sie noch klein war. Zärtlich flößt Maria der Katze die Milch ein. Ein Maunzen dringt aus dem Tier.

„So eine Freude machst“, sagt die Riesin leise. Glücklich, dass die Katze trinkt.

Dann aber heißt es, wieder zur Hauptaufgabe zurückzukehren: Die Kühe warten! Und Maria macht ihre Aufgabe gewissenhaft. Sie kennt jedes Kalb, jede Kuh, sie kennt alle Flecken, alle Farbstrukturen auf den großen, kompakten Leibern. Bereits als sie klein war, haben die Kälber an ihren Fingern genuckelt wie an Fläschchen, sie eingesogen, als wären es Zitzen. Kitzelig war das, samtig und besonders hat es sich angefühlt, und die Riesin hat es geliebt. Sie sieht den Kühen in die großen, traurigen Augen, und denkt, wie schön sie diese Tiere doch findet.

In dem Moment kommt Josef des Weges. Er zieht einen Wagen mit sich.

„Auf, Moidl!“, ruft er.

„Ja, Vater?“ Maria wendet ihm gutmütig ihr Gesicht entgegen.

„Zeit ist’s Holz zu ziehen. Der Hermanndl hat eine Ladung bestellt.“

Die Riesin nickt. Der Hermanndl ist ein Müller, der nicht weit des Faßnauer-Hauses wohnt. Immer wieder spielt ihr Vater gern mit ihm Karten, man trinkt oder geht auf die Jagd. Ob der Hermanndl ein Freund ist, hat sie sich oft gefragt. Aber Freundschaft, das ist kein Wort, das ihr Vater benützen würde. Große Männer tun das nicht, weiß Maria inzwischen. Auch wenn sie in Wahrheit friedlich sind und eine leberfleckige Haut haben.

Josef nähert sich seiner Tochter, die gerade wie ein Baum in der Landschaft steht. Hier darf sie es, die Moidl. Denn sie vertraut ihm. Vertraut den Gräsern, Kühen und Bäumen, bewegt sich in ihnen wie in ihrem Element. Hier macht ihre Größe keine Angst, denn ihre Augen sind gütig und ihre Hände zart, sie wissen, wie man nimmt und gibt und wie man streichelt.

Nun gilt es, die Kuh einzuspannen. Resi, eine braun gescheckte mit einem weißen Fleck auf der Stirn – grad da, wo die magischen Einhörner, von der Rosa immer erzählt, ihr Horn tragen, ist dran.

Dann geht’s los über holprige Wege. Stets schreitet Maria schweigend neben dem Vater einher. Der ist kein Mann der großen Worte – und wozu auch? Die Natur summt ohnehin, hier ist alles bei sich, hier spricht alles für sich, es gilt nur, zu lauschen, gilt, seine Kraft aufzusparen für den Feldweg: einen Schritt nach dem anderen, und die Schritte müssen fest und bedacht gesetzt werden. Einatmen, ausatmen. In der Anstrengung kommt Maria zu sich und denkt an die heilige Gottesmutter und dass Opfer einen Menschen schön machen. Darum, sagen alle, hat ja auch der liebe Jesus sich geopfert, oder?

Hin und wieder ächzt der Wagen, die Räder rattern über den Kies. Steiler und steiler wird der Weg. Da merkt die Riesin, wie Resi müde wird. Sie hört das beleibte Tier hinter sich atmen, erst zaghaft, dann intensiver. Schließlich kommt sogar ein Schnauben aus der Kuh. Gleichzeitig sieht Maria ein Kreuz aus Stein: „Ludwig Messerschmied 1811“ steht daruntergeschrieben, und mit einem Mal wird der Riesin bang. Abgestürzt muss da einer sein! Mit leicht zittrigem Blick sieht Maria den Hang hinab und dann zu Josef hin, auf dessen geröteter Stirn sich ein Schweißfilm gebildet hat. Der Weg fällt schräg ab, Maria hechelt, kommt vor Angst außer Atem, und als spüre die Kuh ihre Unsicherheit, verweigert sie sich schließlich. Bleibt stehen. Scharrt aus, schlägt mit den Hufen gegen den Feldweg.

Josef dreht sich um, wird wütend. In seinem Hemd haben sich Schweißränder gebildet.

„Komm“, wispert die Riesin, aber die Kuh schnaubt wieder. Schüttelt den Kopf.

Josefs Hand, breit und kerbig, holt aus, will nach dem Leib des Tieres schlagen.

„Nicht!“, ruft die Riesin und fängt seine Hand gerade noch mit der ihren ab.

Josef stutzt. Wie stark seine Tochter ist! Gerade erst elf, weist sie schon mehr Kraft auf als er selbst! Er betrachtet die Tochter, wie sie da mit langgezogenem Gesicht, großen Kulleraugen und starkem Blick vor ihm steht, und muss mit einem Mal an seinen eigenen Vater denken. Auch der war ein Hüne gewesen. Ein großer, roter Riesiger. Ähnlich still und gutmütig wie seine Tochter, die sich da mit einem Mal so heldenhaft vor ihm aufbäumt.

„Geh, Vater, tu die Resi da weg, das ziehe ich hinauf“, hört er Maria nun sagen. Josef kann es kaum glauben. Aber dann nickt er, nickt und sieht, wie seine Tochter mit wackeren Schritten das Tier abschnallt und den Wagen über den knirschenden Kies zieht. Es knarrt und knattert.

Das Holz biegt sich, die Räder wollen sich nur langsam drehen. Da begreift Josef, dass das Kind die Kuh liebt. Und die Kuh sie: Mit treuherzigem Blick schreitet Resi hinter seiner Tochter drein, die sich nicht aufregt, die nur atmet, ein und aus. Regelmäßig und bedacht. Josef folgt der Tochter und der Kuh, und er kommt sich mit einem Mal sehr klein vor.

Als sie die nächste weite Ebene erreicht haben, seufzt Maria kurz auf. „Ich muss mich hinsetzen!“

Josef nickt, wischt sich den Schweiß aus dem schütteren Haar und betrachtet die Tochter. Maria schimpft nicht, stöhnt nicht, sie setzt sich bloß bedächtig unter einen Baum und streichelt die Flanken der Kuh, die ihr die Nase gegen die Wange stupst, beinahe zärtlich. Josef kann es nicht fassen. Und dann kommen Worte aus ihm, dem schweigsamen Vater. Worte, die Maria nicht mehr vergessen wird: „Gut hast das g’macht, mein Mädchen!“

7. Im Volksblatt

So verstreichen die Tage, und mit knapp zwölf Jahren misst Maria bereits nahezu zwei Meter. Die größte Frauensperson des Bezirks ist sie jetzt, und das geht freilich an keinem im Dorf vorüber.

„Die Moidl ist im Tiroler Volksblatt!“ So erscheint Rosa eines Tages im Frühling, ein großes Blatt Papier in der Hand, und strahlt über das ganze Gesicht.

Theresia, die gerade dabei ist, die Milch fürs Frühstück zu wärmen, blickt nur kurz auf. „Na, das war klar, nach all den Fremden, die immer schauen kommen und dich Mutterl nennen“, meint sie lapidar zu Maria, die innerlich ganz klein wird.

„Ist die Moidl jetzt ein Held?“, will Hansl wissen, während er mit großen Augen das Faltblatt betrachtet. Lesen kann er zwar noch nicht, aber dass es was Besonderes ist, wenn über einen geschrieben wird, das ist auch ihm nicht entgangen.

Der Riesin Maria ist es peinlich. Sie betrachtet die Milchhaut, die in ihrer Schale schwimmt, und ihr Blick klappt mehr und mehr nach innen. Nur schnell trinken und das Frühstück hinunterwürgen!, sagt sie sich.

Maria ist traurig. Aber nicht nur wegen des Volksblatts. Ein wenig mag sie den Pepi, der vor ihr auf der Schulbank sitzt. Sie denkt an ihn. Der Pepi hat große braune Augen und eine helle Haut. Samtig ist er und ein wenig kompakt. Und vor allem ganz und gar nicht groß. Wie ein Monster wirkt sie neben ihm, das weiß sie. Und dass sie eingesperrt ist; gefangen in einem viel zu großen Körper, der die anderen Kinder um mehrere Köpfe überragt. Sie schämt sich dafür, und sie mag die Schule nicht. Auch wenn sie ihre eigene Bank hat und man sie in Ruhe lässt.

Unglücklich ist Maria. Wenn sie in der Schule ist, blickt sie aus dem Fenster, summt unmerklich das Klingen des Windes mit. Und sie wartet. Darauf, wieder nach Hause zu dürfen. Dann hilft die Arbeit, das Umherhieven der Kübel, das Füttern der Kitzlein, das Scheren der Schafe.

Wenn aber die Nacht herankriecht, wird es ihr oft wieder unendlich bang. Sie merkt, wie sie immer größer wird. Ihr ganzer Körper beginnt gleichzeitig, fühliger und fühliger zu werden. Die Augen sind Fühler. Sie wollen den Pepi betrachten, aber der ist zu schön und Maria ein hässliches, in sich gekrümmtes Ding. Sie darf das nicht. Sie verbietet es sich, ihn anzusehen. Nur aus dem Fenster sehen ist gut. Wenn der Baum hinterm Haus blüht, erinnert er anpink gefärbte Wolken. Wer leben will, muss gewisse Gedanken ausblenden, das lernt die Riesin jetzt. Sie muss vergessen. Muss den Pepi vergessen. Sie kann es sich nicht erlauben, zu viel an ihn zu denken. Stattdessen sucht sie Trost bei der Gottesmutter. Maria faltet die Hände, sie betet: „Liebe Mutter, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm’!“

Der Puls hinter der Stirn ist wie ein Hammer, durchzuckt sie, scheint sie zu zersprengen, während sie sich in sich selbst hineinbiegen muss, innerlich. Sich ganz klein macht. Trotzdem ist ihr bang. In allem spürt sie ihre eigene Falschheit, spürt, dass sie einfach nicht richtig ist, nicht so wie die anderen.

Auf den Heimwegen von der Schule, weiß Maria, glänzen aber noch immer die Umrisse der Quelle, die hinter ihrem Haus liegt im frühen Licht. Wie damals, als sie klein war. Allein darin liegt der Friede. Sonst nichts.

8. Es geht weiter

Gar nichts tun kann Maria dagegen, dass es sich so aus ihr heraus wächst. Sie weiß, alle schauen. Sie weiß, alle wollen etwas von ihr, als gäbe ihr übergroßer Körper Antworten auf irgendwelche Fragen. Sie ist doch bloß ein Schulkind! Das singen will, träumen und ein wenig den Pepi lieben, so ganz geheim. Aber auch der hat irgendwie Angst vor ihr, betrachtet sie immer nur mit viel zu großen Augen.

Doch das macht ihr nichts mehr aus, nach außen hin. Denn das Leben geht weiter. Der Alltag. Die Arbeiten zu Hause und auf dem Feld, die Maria mit Geschick verrichtet; das brauchen die Eltern, weiß Maria Bescheid. Sie haben nämlich wenig Geld, und da heißt es, sie brav zu unterstützen! Auch das Lernen betreibt die Riesin weiterhin. Auch das muss so sein.

Zumindest gibt es im Winter einen Monat, der sie erfreut. Dezember heißt er. Denn da ist Nikolaus und auch Weihnachten.

Doch bevor es so weit ist, dürfen sie in diesem Jahr einmal ausnahmsweise Onkel Beppo besuchen, der Koch in der großen Stadt Wien ist. Und: Wien ist magisch. Das wurde ihr erzählt, und das darf sie jetzt selbst erleben. Denn überall stehen sie, diese besonderen Läden. Sowohl um St. Stephan herum als auch in den Vorstädten. Es sind Zelte von Zauberern.

Und als sie ankommen in der großen Stadt, schimmert es bereits überall in scharlachroter Glut, im Zittern der flackernden Kienspäne im Licht. Blasse, offene Kerzen. Backwerk duftet Maria entgegen, ja, es türmt sich hier in diesen Bretterbuden auf, ist Gebirge, das man in den buntesten schillernden Farben verziert hat.

„Gefallen dir die Lebzelten?“, fragt Theresia, und Maria nickt.

Gierig saugt sie den Geruch von zarten Gewürzen ein, wieder und wieder. Der Anblick von verkleideten Nikoläusen, die mit Rauschebärten umherstreifen, vermischt sich mit denen von Wachslichtern und Tannenbäumen, und die Welt ist vermengt mit Staunen.

Abends, wenn Maria die Petroleumlampe an ihrem Bett anzündet, schimmert dieses Staunen noch weiter, und in Maria gehen dann Welten auf. Die Sehnsucht beginnt in ihr zu flammen, sie denkt kurz an die weite Welt, an das Singen, und ob es nicht vielleicht doch noch etwas zu entdecken gibt!

 

Doch bald wird sie wieder zu Hause sein, der Ausflug in die Stadt ist kurz und der Alltag hat mehr Gewicht, weiß die Riesin, und sie schiebt ihre Sehnsüchte wieder fort, genau wie die Gedanken an den Pepi. Denn alles geht irgendwie weiter.

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