Briefe über den Yoga

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2. Kapitel
Integraler Yoga und andere Wege
I. Shankara und Mayavada

Ich stimme mit der Ansicht, die Welt sei eine Lüge, mithya, nicht überein. Brahman ist ebenso hier wie im überkosmischen Absoluten. Das zu Überwindende ist die Unwissenheit, die uns blind macht, die uns daran hindert, Brahman in der Welt und im Jenseits sowie die wahre Natur des Daseins zu erkennen.

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Shankaras Erkenntnis ist, wie dein Guru ausführte, nur eine Seite der Wahrheit; sie ist das Erkennen des Höchsten, wie er vom spiritualisierten Mental im statischen Schweigen des reinen Daseins erfahren wird. Da Shankara diesem Weg folgte, konnte er den Ursprung des Universums weder akzeptieren noch erklären, es sei denn als Illusion als eine Schöpfung der Maya. Man muss den Höchsten sowohl in seinem dynamischen als in seinem statischen Aspekt erkennen, sonst vermag man weder den wahren Ursprung der Dinge noch die ebenbürtige Wirklichkeit eines aktiven Brahman zu erfahren. Die Shakti, die Macht des Ewigen, wird dann lediglich zu einer Macht der Illusion, und die Welt wird unbegreiflich, ein Mysterium kosmischen Wahnsinns, ein ewiges Delirium des Ewigen. Welche verbale oder gedankliche Logik man auch immer anwendet, diese Art das Universum zu sehen führt zu keinerlei Verstehen; sie, wäre nichts als eine mentale Formulierung des Unerklärlichen. Nur wenn du dich dem Höchsten in seinem zweifachen Aspekt, nämlich dem des reinen Seins und dem der Bewusstseins-Kraft, Sat und Chit-Shakti, näherst – zweifach, doch untrennbar –, kann sich der inneren Erfahrung die gesamte Wahrheit der Dinge offenbaren. Diese andere Seite wurde von den Shakta-Tantrikern entwickelt. Beide zusammen, die Wahrheit des Vedanta und des Tantrismus, können zu einem integralen Wissen gelangen.

Darauf läuft die Lehre deines Gurus vom philosophischen Standpunkt hinaus, und sie enthält offensichtlich eine vollständigere Wahrheit und ein weiteres Wissen, als in der Darlegung des Shankara enthalten ist. Es wird bereits in der Lehre der Gita vom Purushottama und der Parashakti (Adya Shakti), die zum Jiva werden und das Universum aufrechterhalten, angedeutet. Es ist klar, dass Purushottama und Parashakti beide ewig sind, untrennbar und wesenseins; die Parashakti manifestiert das Universum, sie manifestiert ebenfalls das Göttliche im Universum als den Ishvara und erscheint an seiner Seite als Ishvari-Shakti. Wir können es aber auch so ausdrücken, dass es die Höchste Bewusste Macht des Höchsten ist, die sich manifestiert oder als Ishvara-Ishvari hervortritt, als Atma-Shakti als Purusha-Prakriti, als Jiva Jagat. Das ist die Wahrheit in ihrer Vollständigkeit, insoweit das Mental sie formulieren kann. Im Supramental erheben sich solche Fragen nicht, denn das Mental ist es, das Probleme schafft, indem es einen Gegensatz zwischen den Aspekten des Göttlichen errichtet, die tatsächlich keine Gegensätze sind, sondern eins und untrennbar.

Das supramentale Wissen wurde noch nicht erreicht, da das Supramental selbst noch nicht erreicht wurde; doch seine Spiegelung ist hier im intuitiven spirituellen Bewusstsein zu finden, und diese war es offensichtlich, die dein Guru in seiner Erfahrung verwirklichte und in dem zitierten Abschnitt ausdrückte. Es ist möglich, sich einer Erkenntnis zu nähern, indem man mit der Erfahrung der Auflösung im Einen beginnt, doch nur unter der Bedingung, dort nicht haltzumachen und dies als die höchste Wahrheit anzusehen, sondern weiterzugehen, um diesen selben Einen als die höchste Mutter, die Bewusstseins-Kraft des Ewigen zu erkennen. Wenn du dich andererseits über die Höchste Mutter annäherst, wird sie dir sowohl zur Befreiung im schweigenden Einen verhelfen als auch zur Verwirklichung des dynamischen Einen. Daher ist dieser Weg der einfachere, um zu jener Wahrheit zu gelangen, in welcher beide eins und untrennbar sind. Gleichzeitig wird die Kluft, die das Mental zwischen dem Höchsten und Seiner Schöpfung schafft, überbrückt, und es gibt keine Spaltung der Wahrheit mehr, die alles unverständlich macht. Wenn du das, was dich dein Guru lehrte, in diesem Lichte siehst, wirst du erkennen, dass es das gleiche in einer weniger metaphysischen Sprache ist.

Was den göttlichen Befehl, den adesa, anbelangt, so reden die Menschen darüber ohne zu unterscheiden, doch ist diese Unterscheidung notwendig. Das Göttliche spricht auf vielerlei Weise zu uns und nicht immer in Form eines befehlenden adesa. Und wenn, dann ist er eindeutig, ein Widerstand ist nicht möglich, das Mental hat zu gehorchen; die Frage, ob dieser Befehl den vorgefassten Ideen des mentalen Verstandes widerspricht, erhebt sich gar nicht. Einen solchen adesa erhielt ich als ich nach Pondicherry ging. Doch häufiger besteht er in einer Andeutung oder sogar in noch weniger, in einem bloßen Zeichen, dem das Mental unter Umständen nicht folgt, da es von seiner fordernden Unumgänglichkeit nicht beeindruckt ist. Es ist etwas, das angeboten, jedoch nicht auferlegt wird, vielleicht nicht einmal angeboten, sondern lediglich von der Wahrheit darüber vorgeschlagen.

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Wenn Shankaras Auffassung des unterschiedslosen, reinen Bewusstseins als Brahman deiner Vorstellung entspricht, dann solltest du diesen Yoga hier nicht wählen; denn hier ist die Verwirklichung des reinen Bewusstseins und Seins nur ein erster Schritt und nicht das Ziel. In einem unterschiedslosen Bewusstsein kann es ein inneres, schöpferisches Streben nicht geben, da alle Tätigkeit und Schöpfung ihm notwendigerweise fremd sein müssen. Ich gründe meinen Yoga nicht auf der unzureichenden Grundlage, dass das Selbst (nicht die Seele) ewig frei ist. Diese Behauptung führt zu nichts oder könnte, benutzt man sie als Ausgangspunkt, ebenso gut zu der Schlussfolgerung führen, dass Tat und Schöpfung weder Bedeutung noch Wert haben. Es erhebt sich jedoch die Frage nach der Bedeutung der Schöpfung, ob es einen Höchsten gibt, der nicht nur ein unterschiedsloses Bewusstsein und Sein ist“ sondern auch die Quelle und Stütze der dynamischen Energie in der Schöpfung, und ob das kosmische Dasein für Ihn Sinn und Wert hat. Diese Frage kann durch metaphysische Logik, die sich in Worten und Ideen ausdrückt, nicht gelöst werden, sondern allein durch spirituelle Erfahrung, die das Mental überschreitet und in spirituelle Wirklichkeiten eindringt. Jedes Mental findet in seinen eigenen Schlussfolgerungen Genüge, doch für spirituelle Zwecke haben diese keine Gültigkeit, es sei denn als Anzeichen dafür, wie weit und in welcher Richtung im Bereich spiritueller Erfahrung jeder zu gehen bereit ist. Wenn deine Schlussfolgerungen dich zu Shankaras Vorstellung des Höchsten führen, kann dies als Anzeichen dafür gelten, dass der Advaita Vedanta (Mayavada) dein Weg des Vorankommens ist.

Dieser Yoga anerkennt den Wert des kosmischen Daseins und betrachtet dieses als Realität; sein Ziel ist es, in ein höheres Wahrheits-Bewusstsein oder in ein Göttliches supramentales Bewusstsein einzutreten, in welchem Tat und Schöpfung nicht Ausdruck der Unwissenheit und Unvollkommenheit sind, sondern der Wahrheit, des Lichtes, des Göttlichen Ananda. Hierfür ist jedoch die Hingabe des vergänglichen Mentals, Lebens und Körpers an jenes Höhere Bewusstsein unerlässlich, da es für das sterbliche menschliche Wesen zu schwierig ist, durch die eigene Kraft zu einem supramentalen Bewusstsein jenseits des Mentals zu gelangen, in welchem die Dynamik nicht länger vom Mental geprägt wird, sondern von einer ganz anderen Macht herrührt. Nur jene, die dem Ruf zu solcher Veränderung Folge leisten können, sollten diesen Yoga annehmen.

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Ich weiß nicht, ob es dir viel nützt, wenn ich die Fragen deines Freundes beantworte. Ich kann lediglich meinen eigenen Standpunkt hinsichtlich dieser Dinge darlegen.

1. Shankaras Erklärung des Universums

Es ist heutzutage schwer zu sagen, welcher Art Shankaras Philosophie tatsächlich war, denn es gibt zahllose Exponenten und keiner stimmt mit dem anderen überein. Ich habe von vielen seiner Anhänger Berichte gelesen, und jeder folgte seiner eigenen Auffassung. Einige behaupten sogar, dass er, obwohl er immer als bedeutender Repräsentant der Maya-Theorie galt, gar kein Mayavadin gewesen ist, sondern vielmehr der größte Realist in der philosophischen Geschichte. Ein berühmter Anhänger Shankaras erklärte sogar, dass meine Philosophie und die von Shankara identisch seien, eine Behauptung, die mir beinahe den Atem nahm. Man ist gewöhnt, Shankaras Philosophie so zu verstehen, dass die Höchste Wirklichkeit ein raum- und zeitloses Absolutes ist (Parabrahman), jenseits von jedem Merkmal, jeder Eigenschaft, und dass die Welt eine Schöpfung der Maya ist, nicht absolut unwirklich, doch wirklich nur in der Zeit und solange man in der Zeit lebt; sind wir einmal zu einer Erkenntnis der Wirklichkeit gelangt, dann sehen wir, dass Maya und die Welt und alles in ihr ohne bleibendes oder wahres Dasein sind. Sie ist, wenn auch nicht unwirklich, so doch falsch, jaganmithya; sie ist ein Irrtum des Bewusstseins, sie ist und ist nicht; sie ist in ihrem Ursprung ein irrationales und unerklärliches Mysterium, obgleich wir ihr Geschehen wahrnehmen können oder zumindest die Art, wie dieses sich unserem Bewusstsein darbietet. Brahman wird in der Maya als Ishvara erkannt, der die Werke der Maya aufrechterhält, und die scheinbar individuelle Seele ist tatsächlich Brahman selbst. Letzten Endes jedoch scheint all dies hier eine Erfindung der Maya zu sein, mithya, und nichts ist wirklich wahr. Sollte dies Shankaras Philosophie sein, dann ist sie für mich unannehmbar und unglaubhaft, wie glanzvoll und sinnreich sie auch sein mag und wie kühn und nachdrücklich begründet; sie befriedigt weder meinen Verstand, noch stimmt sie mit meiner Erfahrung überein.

 

Ich weiß nicht genau, was mit diesem yuktivada (logische Argumentation) gemeint ist. Wenn diese lediglich den Zweck hat, die Gegenpartei mit Argumenten zu besiegen, dann hat dieser Teil der Philosophie keine grundlegende Bedeutung; Shankaras Theorie macht sich selbst zunichte. Entweder er kann damit das Universum ausreichend erklären oder nicht; und wenn er dies kann, gibt es keinen Grund, sie als yuktivada zu verwerfen. Ich verstehe jene tiefschürfende Behauptung des Mayavadin, die ganze Frage bestünde nicht eigentlich zu Recht, da Maya und die Welt nicht wirklich seien; tatsächlich ist die Frage, wie die Welt entstand, lediglich ein Teil der Maya, sie ist wie die Maya, unwirklich und erhebt sich im Grunde nicht; doch wenn eine Erklärung abgegeben werden soll, muss es eine wirkliche, gültige und befriedigende Erklärung sein. Wenn es zwei Ebenen gibt und wir diese beiden Ebenen in der Fragestellung vermengen, kann ein Argument nur von Wert sein, wenn beide Ebenen eine Art Realität besitzen und Begründung und Erläuterung auf der niederen Ebene zutreffen, doch für ein Bewusstsein, das dieser nicht mehr angehört, keine Bedeutung mehr haben.

2. Advaita [Ein-Sein]

Die Menschen neigen zu der Annahme, der Advaita sei mit dem Mayavada Monismus identisch, was sie auch vom Vedanta annehmen; das ist nicht der Fall. Es gibt verschiedene Richtungen in der indischen Philosophie, die sich auf der Einen Wirklichkeit gründen, doch diese anerkennen ebenfalls die Wirklichkeit der Welt, die Wirklichkeit der Vielen, die Wirklichkeit der Verschiedenheit der Vielen sowie die Gleichheit des Einen (bheda-bheda). Doch die Vielen bestehen in dem Einen und durch den Einen und die Verschiedenheiten in der Manifestation sind nichts als Veränderungen dessen, das grundsätzlich immer gleich ist. Und dies sehe ich tatsächlich als das Universale Gesetz des Daseins an, nämlich das Einssein als Grundlage einer endlosen Vielheit und Verschiedenheit im Einssein; so gibt es zum Beispiel eine Menschheit, doch viele Arten von Menschen, es gibt etwas, das Blatt oder Blume genannt wird, doch viele Formen, Muster, Farben des Blattes oder der Blume. Und hierin können wir eines der grundlegenden Geheimnisse des Daseins erblicken, jenes Geheimnis, das in der einen Wirklichkeit selbst enthalten ist. Das Einssein des Unendlichen ist nicht etwas Begrenztes, an seine Einheit Gebundenes; es ist vielmehr einer unendlichen Vielfalt fähig. Die Höchste Wirklichkeit ist eine Absolutheit, weder durch das Einssein noch durch die Vielfalt begrenzt, sondern gleichzeitig beider fähig; denn beides sind ihre Aspekte, wobei das Einsseins grundlegend ist und die Vielfalt auf dem Einssein beruht.

Sowohl ein realistischer als auch ein illusionistischer Advaita ist möglich. Die Philosophie des „The Life Divine“ ist solch ein realistischer Advaita. Die Welt ist eine Manifestation des Wirklichen und ist daher selbst wirklich. Die Wirklichkeit ist das unendliche und ewige Göttliche, das unendliche und ewige Sein, die Bewusstseins-Kraft und Seligkeit. Dieses Göttliche hat durch seine Macht die Welt erschaffen oder besser gesagt sie in seinem eigenen, unendlichen Sein manifestiert. Doch hier in dieser stofflichen Welt oder an ihrem Grunde hat es sich in dem, was sein Gegenteil zu sein scheint, verborgen, im Nicht-Sein, in Unbewusstheit und Fühllosigkeit. Dies wird heutigentags das Unbewusste genannt, das durch seine unbewusste Energie das stoffliche Universum erschaffen zu haben scheint; doch dies scheint nur so, denn letzten Endes erkennen wir, dass alle Ordnung dieser Welt allein durch das Wirken einer höchsten geheimen Vernunft entstanden sein kann. Das Sein, verborgen in einer scheinbar unbewussten Leere, taucht auf Erden zuerst in der Materie auf, dann im Leben, dann im Mental und schließlich als Spirit. Die scheinbar unbewusste, erschaffende Energie ist tatsächlich die Bewusstseins-Kraft des Göttlichen; ihr Bewusstseins-Aspekt, in der Materie noch verborgen, beginnt im Leben aufzutauchen, gelangt zu einer weiteren Selbstfindung im Mental und findet schließlich ihr wirkliches Selbst in einem spirituellen und zuletzt einem supramentalen Bewusstsein; durch diese gelangen wir zur Wahrnehmung der Wirklichkeit, wir werden ihrer inne und werden eins mit ihr. Das ist es, was wir Evolution nennen, eine Evolution des Bewusstseins und eine Evolution des Spirits in den Dingen und nur äußerlich eine Evolution der Arten. Auf diese Weise also taucht die Wonne des Daseins aus der ursprünglichen Fühllosigkeit auf, zuerst in den gegensätzlichen Formen von Freude und Schmerz, um sich dann in der Seligkeit des Spirits zu finden oder, wie es in den Upanishaden heißt, in der Seligkeit des Brahman. Dies ist die zentrale Idee, die der Erklärung des Universums in dem Buch „The Life Divine“ zugrunde liegt.

3. Nirguna und Saguna [Das Unpersönliche und das Persönliche]

In einem realistischen Advaita ist es nicht notwendig, das Persönliche, saguna, als eine Schöpfung des Unpersönlichen, nirguna, zu betrachten oder gar als zweitrangig oder ihm untergeordnet: beide sind gleichartige Aspekte der einen Wirklichkeit sowohl in ihrem Zustand des Schweigens und der Ruhe als auch in ihrem Zustand der Tat und dynamischen Kraft; das Schweigen einer ewigen Ruhe und eines ewigen Friedens ist die Grundlage einer ewigen Tat und Bewegung. Die eine Wirklichkeit, das Göttliche Wesen, ist durch keinen gebunden, da es durch nichts begrenzt ist; es besitzt beide. Es gibt nichts Unvereinbares zwischen den beiden, ebensowenig wie zwischen den Vielen und dem Einen, der Gleichheit und der Verschiedenheit. Alle sind die ewigen Aspekte des Universums, das nicht bestehen könnte, wenn einer von ihnen eliminiert würde; es ist daher anzunehmen, dass beide von der gleichen Wirklichkeit, die das Universum manifestierte, stammen und dass beide wirklich sind. Von dem scheinbaren Widerspruch – der kein echter Widerspruch ist, sondern lediglich ein natürliches Nebeneinanderbestehen – kann man sich erst dann befreien, wenn man einen von beiden als Illusion betrachtet. Doch wir können kaum annehmen, dass die ewige Wirklichkeit das Dasein einer ewigen Illusion zulässt, mit der sie nichts zu tun hat, oder aber, dass sie dem Sein eine leere kosmische Illusion auferlegt und diese stütze, ohne die Macht für ein anderes oder reales Wirken zu haben. Die Kraft des Göttlichen ist immer vorhanden sowohl im Schweigen als auch in der Tat, passiv im Schweigen, aktiv in der Schöpfung. Es ist kaum vorstellbar, dass die Göttliche Wirklichkeit keine Macht oder Kraft besitzt oder dass ihre einzige Macht darin besteht, eine universale Täuschung zu schaffen, eine kosmische Lüge – mithya.

4. Verbindung und Desintegration

Kein Zweifel, alle Verbindungen, die in sich nicht vollständig sind, sondern Integrationen, können sich auflösen. Auch für das Leben, obwohl es keine physische Verbindung ist, trifft zu, dass es einer Kurve der Geburt oder Integration folgt und, nachdem es einen gewissen Punkt erreicht hat, einer Kurve der Desintegration, des Verfalls oder Todes. Doch können solche Ideen oder dieses Gesetz des Daseins nicht mit Sicherheit auf die Dinge als solche angewendet werden. Die Seele ist keine Verbindung, sondern ein Ganzes, etwas in sich; sie löst sich nicht auf, sondern tritt bestenfalls in die Manifestation ein und verlässt diese wieder. Dies trifft sogar auf Formen zu, die keine konstruierten physischen Formen oder konstruierten Lebensformen sind; sie lösen sich nicht auf, sondern kommen und gehen oder verschwinden aus der Manifestation. Das Mental selbst, im Gegensatz zu bestimmten Gedanken, ist etwas Essentielles und Dauerndes, es ist eine Macht des Göttlichen Bewusstseins; desgleichen das Leben im Gegensatz zu den geformten lebenden Körpern; ich glaube also, dass das, was wir die stoffliche Energie nennen – in Wirklichkeit die Kraft einer essentiellen Substanz in Bewegung –, eine Macht des Spirits ist. Gedanken, Leben, stoffliche Gegenstände sind Gestaltungen dieser Energie, zusammengefügt oder lediglich manifestiert nach Art des Spiels der betreffenden Energien. Was nun die Elemente anbelangt, was ist der reine, natürliche Zustand eines Elementes? Der modernen Wissenschaft zufolge erwiesen sich die sogenannten Elemente als eine Verbindung, und der reine, natürliche Zustand – insofern es diesen überhaupt gibt – muss ein Zustand reiner Energie sein; dieser reine Zustand ist es, in den sich Verbindungen einschließlich dessen, was wir Elemente nennen, auflösen müssen, wenn sie durch Desintegration in den nirvana-Zustand übergehen.

5. Nirvana

Was aber ist nirvana? Im orthodoxen Buddhismus bedeutet es Desintegration, nicht der Seele – denn das gibt es nicht sondern einer mentalen Verbindung oder eines Stroms von Assoziationen oder samskara, die wir fälschlicherweise als unser Selbst ansehen. Im illusionistischen Vedanta hat es nicht die Bedeutung einer Desintegration, sondern vielmehr die der Auflösung eines falschen und unwirklichen individuellen Selbst in dem einen wirklichen Selbst oder Brahman; auf diese Weise schwindet die Vorstellung und Erfahrung einer Individualität – wir können es auch so formulieren: ein falsches Licht wird im wahren Licht ausgelöscht (nirvana). In spiritueller Erfahrung verliert sich manchmal jedes Gefühl der Individualität in einem grenzenlosen kosmischen Bewusstsein; das, was die Individualität war, bleibt lediglich als Zentrum oder Kanal für den Strom eines kosmischen Bewusstseins, einer kosmischen Kraft und Tat bestehen. Oder aber es [nirvana] kann die Erfahrung des Verlustes der Individualität in einem transzendenten Sein und Bewusstsein bedeuten, in dem sowohl die Wahrnehmung des Kosmos als auch der Individualität schwindet. Oder es kann in einer Transzendenz stattfinden, die sich des kosmischen Wirkens bewusst ist und dieses stützt. Doch was meinen wir mit Individualität? Das, was wir meist so bezeichnen, ist das natürliche Ego, ein Entwurf der Natur, der ihr Wirken in Mental und Körper zusammenhält. Dieses Ego muss ausgelöscht werden, da sonst keine vollständige Befreiung möglich ist; doch das individuelle Selbst oder die Seele sind nicht dieses Ego. Die individuelle Seele ist das spirituelle Wesen, das manchmal als ein ewiger Teil des Göttlichen beschrieben wird, aber ebenso als das Göttliche selbst beschrieben werden kann, das seine Manifestation als die Vielen aufrechterhält. Dies ist die echte spirituelle Individualität, die in ihrer vollkommenen Wahrheit erscheint, sobald wir uns vom Ego befreien, von unserem falschen, trennenden Gefühl der Individualität, wenn wir unser Einssein mit der Transzendenz und dem kosmischen Göttlichen und mit allen Wesen verwirklichen. Dadurch wird das Göttliche Leben möglich. Nirvana ist ein Schritt in dieser Richtung: das Verschwinden der falschen, trennenden Individualität ist eine notwendige Voraussetzung, um unser wahres, ewiges Wesen zu verwirklichen und darin zu leben, um göttlich im Göttlichen zu leben. Doch dies können wir in der Welt und im Leben tun.