Briefe über den Yoga

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III. Die Gita

Es stimmt nicht, dass die Gita die ganze Grundlage der Botschaft Sri Aurobindos enthält, denn sie scheint der Beendigung des Geborenwerdens in der Welt als höchstem Ziel oder zumindest als letztem Höhepunkt des Yoga zuzustimmen; sie misst der Idee einer spirituellen Evolution keine Bedeutung bei, ebensowenig der Idee der höheren Ebenen und des supramentalen Wahrheits-Bewusstseins sowie seines Herabbringens als Mittler der vollständigen Umwandlung des Erdenlebens.

Die Idee des Supramentals, des Wahrheits-Bewusstseins, kommt gemäß Sri Aurobindos Interpretation bereits im Rig-Veda vor und an einer oder zwei Stellen der Upanishaden; doch in den Upanishaden findet man sie lediglich als Keim in der Auffassung des Erkenntnis-Wesens, vijnanamaya purusa, welches das mentale, vitale und physische Wesen übersteigt; im Rig-Veda ist die Idee zwar im Prinzip enthalten, jedoch nicht entwickelt, und in der hinduistischen Tradition ist selbst das Prinzip nicht mehr zu finden.

Dies ist unter anderem, verglichen mit der hinduistischen Tradition, das Neue in der Botschaft Sri Aurobindos, nämlich die Vorstellung, dass die Welt weder eine Schöpfung der Maya ist, noch lila, ein Spiel des Göttlichen, noch ein Geburtenkreislauf in der Unwissenheit, dem wir zu entkommen haben, sondern ein Bereich der Manifestation; in diesem findet eine fortschreitende Evolution der Seele und der Natur in der Materie statt und von der Materie durch Leben und Mental zu dem, was sich jenseits des Mentals befindet, bis sie die vollständige Enthüllung von Sachchidananda im Leben erreicht hat. Dies ist die Grundlage dieses Yoga, die dem Leben neuen Sinn gibt.

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Dies ist kein eigentlicher Widerspruch; die beiden Stellen8 weisen auf zwei verschiedene Bewegungen im Yogasystem der Gita hin, deren krönende Bewegung die vollständig Hingabe ist. Man hat zuerst die niedere Natur zu erobern, das Selbst der niederen Bewegung mit Hilfe des höheren Selbstes zu befreien, das sich in die göttliche Natur erhebt, gleichzeitig bringt man all sein Tun einschließlich des inneren Yoga-Wirkens dem Purushottama, dem transzendenten und immanenten Göttlichen, als Opfer dar. Sobald man sich in das höhere Selbst erhoben hat, sobald man das Wissen erlangt hat und frei ist, vollzieht man die vollständige Hingabe an das Göttliche, lässt jedes andere dharma hinter sich und lebt allein durch das göttliche Bewusstsein, den göttlichen Willen und die göttliche Kraft, den göttlichen Ananda.

Unser Yoga ist mit dem Yoga der Gita nicht identisch, obwohl er alles enthält, was im Yoga der Gita wesentlich ist. In unserem Yoga beginnen wir mit der Idee der vollständigen Hingabe und dem Willen und Streben danach; gleichzeitig müssen wir die niedere Natur zurückweisen, unser Bewusstsein von ihr befreien, das Selbst, das in die niedere Natur verstrickt ist, mit Hilfe jenes Selbstes befreien, das sich zur Freiheit in der höheren Natur erhebt. Wenn wir dieser doppelten Bewegung nicht folgen, laufen wir Gefahr, eine tamasische und damit unwirkliche Hingabe zu vollziehen, ohne Bemühung, ohne tapas und daher ohne Fortschritt; oder wir vollziehen eine rajasische Hingabe, und zwar nicht an das Göttliche, sondern an eine selbstgeformte, falsche Idee oder an ein Bildnis des Göttlichen, hinter dem sich unser rajasisches Ego verbirgt oder noch etwas Schlimmeres.

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Diese Welt ist, wie sie die Gita beschreibt, anityam asukham [vergänglich und leidvoll], solange wir im gegenwärtigen Weltbewusstsein leben; allein indem wir uns von ihr abkehren, uns dem Göttlichen zuwenden und in das Göttliche Bewusstsein eintreten, kann man das Ewige auch durch die Welt besitzen.

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Die Lehre der Gita scheint sich in vielen Fällen zu widersprechen, da sie offensichtlich zwei einander widersprechende Wahrheiten zulässt und versucht, diese miteinander in Einklang zu bringen. Sie stimmt dem Ideal der Abkehr vom samsara und der Hinwendung zu Brahman als einer Möglichkeit zu; gleichzeitig jedoch bestätigt sie die Möglichkeit, frei im Göttlichen zu leben (in Mir, wie es heißt) und in der Welt als Jivanmukta zu handeln. Auf diese letztere Lösung legt sie das größte Gewicht. Auch Ramakrishna stuft die „Göttlichen Seelen“ (Ishvarakoti), welche die Leiter sowohl herab- als auch hinaufsteigen können, höher ein als die Jiva (Jivakoti), die, wenn sie einmal den Aufstieg vollzogen haben, nicht die Kraft besitzen, für die göttliche Arbeit wieder herabzukommen. Die volle Wahrheit liegt im supramentalen Bewusstsein und in der Macht, von dort auf Leben und Materie einzuwirken.

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Die Gita kann man nicht als eine ausschließliche Lehre der Liebe bezeichnen. Was sie entwickelt, ist ein Yoga des Wissens, der Hingabe und der Werke, der sich auf einem spirituellen Bewusstsein gründet und auf der Verwirklichung des Einsseins mit dem Göttlichen und des Einsseins aller Wesen im Göttlichen. Bhakti, Hingabe und Liebe zu Gott, welche die Einung mit allen Wesen und die Liebe zu allen Wesen mit einbezieht, wird große Wichtigkeit beigemessen, doch immer in Verbindung mit Wissen und Werken.

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Du darfst nicht vergessen, dass die Gita von dem, der sie schrieb, nicht als Allegorie gedacht war – man könnte allerdings, wenn du so willst, sagen, dass wir jetzt das alte Kampf-Motiv fallen lassen sollten, indem wir es als eine Art Allegorie interpretieren. Die Gita ist Yoga – spirituelle Wahrheit angewandt im äußeren Tun und Leben –, doch dies bezieht jegliches Tun mit ein, nicht nur eines, das dem der Gita gleicht. Das Prinzip des im Tun verwirklichten spirituellen Bewusstseins ist es; das bewahrt werden muss – das besondere Beispiel der Gita kann als etwas angesehen werden, das einer vergangenen Welt angehört.

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Die Gita spricht nicht ausdrücklich von der Göttlichen Mutter; sie spricht immer von der Hingabe an den Purushottama – sie erwähnt sie lediglich als Para Prakriti, die zum Jiva wird, das heißt, die das Göttliche in der Vielheit manifestiert und durch die all diese Welten vom Höchsten erschaffen werden und in die er selbst als Avatar herabkommt. Die Gita folgt der Überlieferung des Vedanta, welcher sich gänzlich auf den Ishvara-Aspekt des Göttlichen stützt und wenig von der Göttlichen Mutter spricht, da es sein Ziel ist, sich von der Welt-Natur zurückzuziehen und zur höchsten Verwirklichung jenseits von ihr zu gelangen; die tantrische Tradition betont den Shakti- oder Ishvari-Aspekt und macht alles von der Göttlichen Mutter abhängig, da es ihr Ziel ist, die Welt-Natur zu besitzen und zu beherrschen und durch sie zur höchsten Verwirklichung zu gelangen. Dieser Yoga besteht auf beiden Aspekten; die Hingabe an die Göttliche Mutter ist wesentlich, denn ohne sie kann das Ziel des Yoga nicht erreicht werden.

Im Hinblick auf den Purushottama ist die Göttliche Mutter das höchste göttliche Bewusstsein und die höchste göttliche Macht über den Welten, Adya Shakti; sie trägt den Höchsten in sich und manifestiert das Göttliche in den Welten durch aksara und ksara, das Unveränderliche und das Veränderliche. Im Hinblick auf das aksara ist sie die gleiche Para Shakti, die den Purusha reglos in sich birgt, und auch sie ist reglos im Hintergrund aller Schöpfung in ihm. Im Hinblick auf das ksara ist sie die bewegte kosmische Energie, die alle Wesen und Kräfte manifestiert.

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Es ist mir nicht bekannt, dass es ein Purushottama-Bewusstsein gibt, welches vom menschlichen Wesen erreicht oder für sich verwirklicht werden kann; denn in der Gita ist der Purushottama der Höchste Herr, das Höchste Wesen, der sich jenseits des Unveränderlichen und des Veränderlichen befindet und beides, den Einen und die Vielen, enthält. Der Mensch, sagt die Gita, kann das Brahman-Bewusstsein erlangen und sich als ewigen Teil des Purushottama verwirklichen und im Purushottama leben. Das Purushottama-Bewusstsein ist das Bewusstsein des Höchsten Wesens, und der Mensch kann in ihm durch Überwindung des Egos und Verwirklichung seiner wahren Essenz leben.

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Zur Zeit der rsis und sogar davor waren Sankya- und Vedanta-Elemente im spirituellen Denken Indiens immer verbunden. Die Sankya-Auffassung vom Aufbau des Wesens (Purusha, Prakriti, die Elemente, Indriyas, Buddhi usw.) wurde allgemein anerkannt, und Kapila wurde überall mit Verehrung erwähnt. In der Gita wird er als einer der großen vibhutis genannt; Krishna sagt: „Ich bin Kapila unter den Weisen“.

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IV. Tantrismus und Okkultismus

Veda und Vedanta sind eine Seite der Einen Wahrheit; der Tantra mit seiner Betonung der Shakti ist die andere; in diesem Yoga werden alle Seiten der Wahrheit aufgegriffen, nicht in der systematischen Art von früher, sondern in ihrer Essenz, und sie werden ihrem höchsten und vollsten Sinn zugeführt. Der Vedanta behandelt mehr die Prinzipien und Grundlagen göttlichen Wissens, und daher wurde ein Großteil seiner spirituellen Erkenntnis und Erfahrung als ganzes im Arya aufgenommen. Der Tantra behandelt mehr die Formen, Vorgänge und die gelenkten Mächte, doch konnte all dies nicht so übernommen werden wie es war, denn der integrale Yoga muss seine eigenen Formen und Vorgänge entwickeln; doch das Aufsteigen des Bewusstseins durch die Zentren und anderes tantrisches Wissen stehen hinter dem Vorgang der Umwandlung, dem ich so große werden kann, außer durch die Kraft der Mutter.

Der Vorgang des Aufsteigens der erwachten Kundalini durch die Zentren gehört ebenso wie die Läuterung dieser Zentren tantrischem Wissen an. In unserem Yoga gibt es keinen gewollten Prozess der Läuterung und Öffnung der Zentren und ebenfalls kein Aufsteigen der Kundalini mit Hilfe eines festgelegten Vorgangs. Eine andere Methode wird angewandt, doch gibt es den Aufstieg des Bewusstseins von den verschiedenen Ebenen und durch diese hindurch, um sich mit dem höheren Bewusstsein darüber zu verbinden; es gibt das Öffnen der Zentren und der Ebenen (mental, vital, physisch), die diese Zentren regieren; es gibt ebenfalls die Herabkunft, welche der hauptsächliche Schlüssel der spirituellen Umwandlung ist. Auf diese Weise steht, wie ich bereits sagte, tantrisches Wissen hinter dem Vorgang der Umwandlung in diesem Yoga.

 

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In unserem Yoga gibt es kein gewolltes Öffnen der cakra, diese öffnen sich von selbst durch das Herabkommen der Kraft. In den tantrischen Disziplinen öffnen sie sich von unten nach oben, zuerst das muladhara;in unserem Yoga öffnen sie sich von oben nach unten. Doch der Aufstieg der Kraft vom muladhara findet ebenfalls statt.

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Im Tantra werden durch einen besonderen Vorgang die Zentren geöffnet; die Kundalini wird erweckt und ihr Aufsteigen in der Wirbelsäule gefühlt. Hier [in diesem Yoga] ist es ein Druck der Kraft von oben, der die Kundalini weckt und die Zentren öffnet. Ein Aufsteigen des Bewusstseins findet statt, bis es sich mit dem höheren Bewusstsein darüber verbindet. Dies wiederholt sich (manchmal wird auch ein Herabkommen gefühlt), bis alle Zentren geöffnet sind und das Bewusstsein sich über den Körper erhebt. In einem späteren Stadium bleibt es darüber und weitet sich ins kosmische Bewusstsein und in das universale Selbst. Das ist der normale Verlauf, doch manchmal geht es schneller, und ein plötzliches und entscheidendes Öffnen darüber findet statt.

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Das Aufsteigen und Herabkommen der Kraft vollzieht sich in diesem Yoga auf die ihm eigene Art und Weise, ohne irgendeine notwendige Nachahmung der in den tantrischen Büchern festgelegten Einzelheiten. Viele werden sich der Zentren bewusst, andere fühlen lediglich das Aufsteigen oder Herabkommen in allgemeiner Weise, aber eher von Ebene zu Ebene als von Zentrum zu Zentrum – d.h. sie fühlen die Kraft zuerst zum Kopf herabkommen, dann zum Herzen, dann zum Nabel und noch weiter abwärts. Es ist durchaus nicht notwendig, sich der Gottheiten in den Zentren bewusst zu werden, wie es im Tantra beschrieben wird, doch fühlen manche die Mutter in den verschiedenen Zentren. In diesen Dingen klammert sich unsere Sadhana nicht an Bücherwissen, sondern hält sich an die zentrale Wahrheit dahinter und verwirklicht diese unabhängig von den alten Formen und Symbolen. In unserem Yoga werden die Zentren anders gedeutet als in den tantrischen Büchern.

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Ja, Ziel unseres Yoga ist es, direkten Kontakt mit dem Göttlichen darüber herzustellen und das göttliche Bewusstsein von darüber in alle Zentren herabzubringen. Okkulte Mächte, die den mentalen, vitalen und feinstofflichen Ebenen angehören, sind nicht unser Ziel. Man kann auf dem Weg mit verschiedenen Göttlichen Kräften und Persönlichkeiten in Berührung kommen, es ist aber nicht notwendig, sie in den Zentren zu verankern, obwohl dies manchmal im Verlauf der Sadhana und über eine gewisse Zeitspanne hin automatisch geschieht (wie zum Beispiel mit den vier Personalitäten der Mutter). Dies ist aber nicht die Regel. Unser Yoga soll plastisch sein und allem notwendigen Wirken der Göttlichen Macht stattgeben in dem Maße, wie es die menschliche Natur erlaubt; dies kann jedoch in Einzelheiten und bei jedem einzelnen verschieden sein.

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Okkultismus ist das Wissen von den verborgenen Kräften der Natur und ihr rechter Gebrauch.

Okkulte Kräfte sind diejenigen, die nur erkannt werden können, indem man hinter den Schleier der scheinbaren Phänomene sieht – es sind besonders die Kräfte der feinstofflichen und überstofflichen Ebenen.

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Meist werden die mehr innerlichen und die anomalen psychologischen Erfahrungen mit „seelisch“ bezeichnet. Ich gebrauche das Wort „seelisch“ in Zusammenhang mit der Seele und zum Unterschied von Mental und Vital. Alle Regungen und Erfahrungen der Seele würden in diesem Sinne seelisch genannt werden, also jene, die sich aus dem seelischen Wesen erheben oder es direkt berühren; wo hingegen Mental und Vital das Übergewicht haben, würde man die Erfahrung als psychologisch bezeichnen (oberflächlich oder verborgen). „Spirituell“ bezieht sich nicht notwendigerweise auf das Absolute. Natürlich, die Erfahrung des Absoluten ist spirituell. Alle Kontakte mit dem Selbst, dem höheren Bewusstsein, dem Göttlichen darüber sind spirituell. Es gibt andere, die nicht so klar eingereiht oder gegeneinander abgegrenzt werden können.

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Die spirituelle Verwirklichung ist von vordringlicher Wichtigkeit und unumgänglich. Ich halte es für das beste, wenn die spirituelle und seelische Entwicklung zuerst stattfinden, und zwar voll und ganz, bevor man in die okkulten Bereiche eintritt. Jene, die dort zuerst eintreten, laufen Gefahr, ihre spirituelle Verwirklichung stark zu verzögern; andere geraten in die labyrinthischen Fallen des Okkulten und können sich in diesem Leben nicht daraus befreien; wiederum andere können ohne Zweifel beides, das Okkulte und das Spirituelle miteinander verbinden, damit diese sich gegenseitig stützen; doch der von mir vorgeschlagenen Weg ist sicherer.

Der Spirit und das seelische ‚Wesen, geeint mit dem Göttlichen, müssen für uns die entscheidenden Faktoren sein – okkulte Gesetze und Erscheinungen muss man kennen, doch nur als Mittel, nicht als leitendes Prinzip. Das Okkulte ist ein weites, verschlungenes Feld und nicht ohne Gefahren. Man braucht sich von ihm nicht abzuwenden, doch sollte ihm keine vorrangige Bedeutung beigemessen werden.

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Eine Tätigkeit der astralen Ebene in Verbindung mit astralen Kräften, begleitet von einem Verlassen des Körpers, ist kein spirituelles Ziel, sondern gehört in den Bereich des Okkulten. Sie hat mit dem Yoga nichts zu tun. Auch Fasten ist im Ashram nicht erlaubt, da es dem spirituellen Bestreben häufig mehr schadet als nützt.

Das Ziel, das dir vorgeschlagen wurde, scheint dem Suchen nach okkulten Kräften anzugehören; ein derartiges Suchen wird jedoch von den meisten spirituellen Lehrern Indiens mit Missfallen betrachtet, da es auf einer niedrigeren Ebene steht und den Suchenden meist auf einen Pfad drängt, der ihn sehr weit vom Göttlichen fortführen kann. Besonders ein Kontakt mit Kräften und Wesen der astralen (oder, wie wir sie nennen, der vitalen) Ebene ist mit großen Gefahren verbunden. Die Wesen dieser Ebene stehen häufig dem wahren Ziel des spirituellen Lebens feindlich gegenüber; sie nehmen Kontakt mit dem Suchenden auf, bieten ihm Mächte und okkulte Erfahrungen an, doch nur, um ihn weit vom spirituellen Pfad fortzuführen oder ihre eigene Herrschaft über ihn zu gewinnen oder für ihre eigenen Zwecke von ihm Besitz zu ergreifen. Häufig stellen sie sich als göttliche Mächte dar, führen ihn durch falsche Beeinflussungen und Anregungen in die Irre und entstellen das innere Leben. Es gibt viele, die, angezogen von diesen Mächten und Wesen der vitalen Ebene, in einem endgültigen spirituellen Zusammenbruch oder in mentaler und physischer Verirrung und Zerrüttung endeten. Man kommt unweigerlich mit der vitalen Ebene in Berührung, man betritt sie in dem geweiteten Bewusstsein, das aus dem inneren Sich-Öffnen herrührt, doch sollte man sich nie in die Hände dieser Wesen und Kräfte geben oder sich von ihren Vorschlägen und Impulsen leiten lassen. Dies ist eine der Hauptgefahren des spirituellen Lebens, und vor ihr auf der Hut zu sein, ist für den Suchenden, der sein Ziel erreichen will, unbedingt erforderlich. Es ist richtig, viele überstoffliche oder übernatürliche Fähigkeiten stellen sich mit der Bewusstseinsausweitung im Yoga ein; es ist für einen Yogi etwas durchaus Übliches, sich aus dem Körperbewusstsein zu erheben oder mit Hilfe feinstofflicher Mittel auf der überphysischen Ebene zu wirken usw. Diese Fähigkeiten werden jedoch nicht gesucht, sondern kommen ganz natürlich und haben keinen astralen Charakter. Sie dürfen auch nur im ausschließlich spirituellen Bereich gebraucht werden, d. h. durch den Göttlichen Willen und die Göttliche Kraft, als ein Instrument, doch niemals als Handhabung für die Kräfte und Wesen der vitalen Ebene. Diese um Hilfe für derartige Fähigkeiten anzugehen, ist ein großer Fehler.

Anhaltendes Fasten kann zu einer Reizung des Nervensystems führen und wird oft von lebhaften Einbildungen und Halluzinationen begleitet, die man für wahre Erfahrungen hält. Ein solches Fasten wird häufig von vitalen Wesenheiten suggeriert, da es das Bewusstsein aus dem Gleichgewicht bringt, was ihren Plänen förderlich ist. Dies ist der Grund, weshalb wir es nicht gerne sehen. Die zu befolgende Regel ist in der Gita festgelegt und lautet: „Yoga taugt nicht für einen, der zu viel isst, oder für einen, der gar nicht isst“; das bedeutet also ein vernünftiges Maß an Essen, das ausreicht, um die Gesundheit und die Kraft des Körpers aufrechtzuerhalten.

Eine Bruderschaft in der Art, wie du sie beschreibst, gibt es in Indien nicht. Es gibt Yogis, die okkulte Mächte zu erlangen und anzuwenden suchen, doch sind es einzelne, die von einem bestimmten Meister unterwiesen werden. Okkulte Gemeinschaften, Logen, Bruderschaften, wie sie von europäischen Okkultisten beschrieben werden, sind in Asien nicht bekannt.

Was die Geheimhaltung anbelangt, so ist ein gewisses Maß an Diskretion oder ein gewisses Stillschweigen über die Anweisungen des Gurus und die eigenen Erfahrungen ratsam, doch ist keinesfalls eine absolute Geheimhaltung oder Geheimnistuerei geboten. Ist einmal ein Guru gewählt, darf nichts vor ihm verborgen werden. Die Suggerierung der völligen Geheimhaltung ist jedoch oft ein Trick astraler Mächte, die das Suchen nach Erleuchtung und Beistand verhindern wollen.

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All diese deine „Experimente“ gründen in der vitalen Natur und dem Mental, das mit ihr in Verbindung steht; auf dieser Grundlage aber ist man vor Falschheit und elementarem Irrtum nicht sicher. Die sich entfaltenden Mächte – ob groß oder klein – sind keine Bürgschaft gegen eine Abkehr von der Wahrheit; und wenn du den Stolz, die Arroganz, das Zur-Schau-Stellen von Macht sich einschleichen und von dir Besitz ergreifen lässt, wirst du mit Sicherheit in die Irre gehen und der Macht der rajasischen Maya und Avidya zum Opfer fallen. Unser Ziel ist nicht, Mächte .zu erlangen, sondern zum göttlichen Wahrheits-Bewusstsein aufzusteigen und seine Wahrheit in die niederen Wesensteile herabzubringen. Mit der Wahrheit werden sich alle erforderlichen Mächte einstellen, nicht als eigene, sondern als die des Göttlichen. Der Kontakt mit der Wahrheit kann nicht durch rajasisch-mentale und vitale Selbstanmaßung wachsen, sondern allein durch seelische Reinheit und Hingabe.

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Die astasiddhis, die okkulten Mächte, wie sie im gewöhnlichen Yoga erlangt werden, sind vitale Mächte oder, wie im Raja-Yoga, mentale siddhis. Ihre Anwendung ist gewöhnlich unsicher und gefährlich, da sie von der Aufrechterhaltung des Vorganges abhängig sind, durch den sie erlangt wurden.

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Mit der „physischen Natur“ ist nicht allein der Körper gemeint; dieser Ausdruck umfasst vielmehr die Umwandlung des gesamten physischen Mentals, Vitals und der physischen Natur – nicht indem sie ihnen siddhis [außergewöhnliche oder okkulte Mächte] auferlegt, sondern indem sie eine neue physische Natur schafft, welche die Bleibe des supramentalen Wesens in einer neuen Evolution sein wird. Es ist mir nicht bekannt, dass dies durch einen Vorgang des Hatha-Yoga oder irgendeinen anderen Vorgang erreicht wurde. Mentale oder vitale okkulte Macht kann lediglich die siddhis der höheren Ebenen in das individuelle Leben herabbringen – so wie es das Beispiel des sannyasin zeigt, der Gift unbeschadet nehmen konnte, doch schließlich an einem Gift starb, als er vergaß, die Bedingungen der siddhis einzuhalten. Das Wirken der erwarteten supramentalen Macht besteht nicht in einem Einfluss auf den Körper, der ihm anomale Fähigkeiten verleiht, sondern darin, dass diese in ihn eindringt, ihn durchdringt, wodurch er ganz und gar in einen supramentalen Körper gewandelt wird. Ich entnahm diese Idee nicht dem Veda oder den Upanishaden und weiß auch nicht, ob es irgend etwas dieser Art dort gibt. Was ich über das Supramental empfing, war ein direktes, kein abgeleitetes Wissen; erst später fand ich gewisse bestätigende Enthüllungen in den Upanishaden und dem Veda.

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Es gibt viele Yogis der vedantischen Schule, die sowohl die siddhis als auch die letzte Befreiung anstreben – ich vermute, sie würden sagen, sie nehmen die siddhis mit auf den Weg zum nirvana. Die Harmonisierung liegt im Supramental – in der Göttlichen Wahrheit, die statisch und zugleich dynamisch ist, in einem Zurückweichen und Verlöschen der Unwissenheit, in einer neuen Schöpfung im Göttlichen Wissen.

 

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Ich habe das „Yoga Vasista“ nicht selbst gelesen, doch nach dem, was ich darüber hörte, muss es ein Buch sein, das jemand mit bemerkenswertem okkulten Wissen schrieb.

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