Kleine Frau im Mond

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Kleine Frau im Mond
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Stefan Boucher

Kleine Frau im Mond

Leben zwischen Traumfabrik und totalem Krieg

Stefan Boucher


Roman

Impressum

Copyright: Stefan Boucher

AM241221e

Stefan Boucher im Web: www.stefanboucher.de

Veröffentlicht von:

edition vi:jo - Stefan Boucher

c/o Contendo Media GmbH

St. Huberter Landstraße 21

47839 Krefeld

Vertrieb: Amazon Media EU S.á. r.l., Luxemburg

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung und Zueignung

Drehschluss in den Tobis-Ateliers

Es ist so trostlos in Zehlendorf-West

Fräulein Mara ist nicht bei der Sache

Dienstantritt in der Wehrmachtauskunftstelle

Sig-Runen auf der amerikanischen Tastatur?

Luftangriff: Wo steckt Manfred?

Olga Tschechowa inkognito

Maras erster Gefallenenbrief

Ein skurriler Auftritt unter Künstlern

Zwischen Stammlager und Tauentzienpalast

Dr. Hippler, Reichsfilmintendant in Ungnade

Alarm: Evakuiert die Dienststelle!

Wer observiert Bruno Balz und Michael Jary?

Versetzung an die Ostfront

Der Flakbunker am Zoo

Was wird in der Fasanenstraße gebaut?

Fräulein Appeltrath, die Verwandte des Gauleiters

Groschenhefte unter dem Ladentisch

Promis ganz privat

Auf Drehortsuche mit Michael Jarys Fotoapparat

Endlich: Ein Lebenszeichen von Manfred

Ein Wunder! Einladung in die UFA-Stadt Babelsberg

Vorbereitungen der »Gruppe Käutner«: Unter den Brücken

Simeon wird verhaftet

Das Kriegsgefangenenlager Stalag IIID

Geheime Botschaft ans Internationale Rote Kreuz

Ermordet im Spital Obrawalde?

Drehstart und ein Besuch vom Film-Kurier

»In Kassel läuft die Produktion«

Sprengstoff unter der Havelbrücke

Sommerfrische im Strandbad Plötzensee

Das ist enttäuschend, Herr Darburg!

Der längste Tag

Ein ganzes Wochenende für den Film

Eine niemals eingeschlagene Luftmine

Im Visier der Abwehr

Welches Spiel spielt Simeon?

Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte

Wer soll an Vergeltungswaffen glauben?

Truppenbetreuung im Fernsehsender Paul Nipkow

»Sie müssen hier verschwinden, Fräulein!«

Außendreh in Treptow, so steht es wirklich um die Ostfront

Verdrehte Wahrheiten in der Zeitung

Liebe in der Apokalypse

Treffer auf Stellung Dora: Wer hat Helmut gesehen?

Eine kleine Clique von verräterischen Offizieren?

Irgendjemand muss doch etwas wissen?

Mara als Faustpfand von Abwehr und Gestapo

Razzia in der Fasanenstraße 59

Simeon wird festgenommen

Ein kühles und dunkles Kellerloch

Das Versteck in der Fasanenstraße 59

Der letzte oder der erste Tag der Zukunft?

Anmerkungen und Danksagung

Literatur- und Medienliste

Vorbemerkung und Zueignung

Die zentrale Handlung dieses Romans ist fiktiv, bezieht sich jedoch auf reale Ereignisse. Einzelne Erlebnisse und Aussagen historischer Persönlichkeiten wurden aus dramaturgischen Gründen der Handlung angepasst.

Für Hildegard

1929-2021

»Es gibt für den menschlichen Geist kein Niemals,

höchstens ein Noch nicht.«

»Frau im Mond«, Thea von Harbou, 1929

Drehschluss in den Tobis-Ateliers

Freitag, 3. März 1944

Mit dem krachenden Zuschlagen der schweren Metalltür, von innen schwarz angestrichen, verebbte wie abgeschnitten der wohltuende Strom kalter Luft, die über Johannisthal lag, weit im Osten Berlins. Würziger Rauch hektischer Pausenzigaretten zerfaserte in der stickigen Wärme, während manche noch lautlos an ihren Platz huschten.

Alle Unruhe erstarrte augenblicklich in Konzentration und Anspannung. Simeon schwitzte und blinzelte. Hielt den Tonarm außerhalb des Kamerablickwinkels und fing doch jedes Timbre ein. Mühte sich, den brennenden Schein des 500 Watt Weinert-Strahlers zu ignorieren, der so ungünstig stand, dass er nicht nur die Szene ausleuchtete, sondern ihm direkt in die Augen stach. Viktor hatte die Position verlassen, obwohl alles haarklein abgesprochen war. Das tat er immer und man ließ es ihm durchgehen. Er war der Star und arbeitete entsprechend. Instinktiv folgte der Tonmeister mit halb geschlossenen Lidern der Handlung, die Dialoge kannte er bestens. Bewegte er sich, gäbe es Schwankungen in der Aufnahme und sie müssten von vorne beginnen. Es galt also auszuhalten und das passte in die Zeit. Standhaft sein, sich nicht rühren, unbeweglich und schweigsam jedes Ungemach erdulden. Unbeabsichtigt ließ er den Tonarm etwas sinken, noch während de Kowa die letzten Zeilen aufsagte.

Dann war es geschafft, der Dialog perfekt. Mit kaum jemand anderem hatte man in der Nachbearbeitung so wenige Schwierigkeiten wie mit Viktor de Kowa, dem erfahrenen Schauspielhasen, dessen Text stets ausdrucksstark und präzise sprudelte. Nur festbinden ließ er sich nicht auf der Bühne. Das musste es doch wohl gewesen sein?! Simeon täuschte sich nicht. Spielleiter Karl Anton klatschte laut in die Hände, freute sich und feixte.

 

»Drehschluss. Danke, Kinder. Wunderbar«, rief er. Es war vollbracht. Wieder ein Werk im Kasten. Peter Voß, der Millionendieb. Ein fulminantes Abenteuer, eine Hetzjagd rund um den Globus und der Regisseur war glücklich und zufrieden. Überall im Atelier 2 der Tobis-Film in Johannisthal herrschte Freude und Aufbruch und die Filmillusion wurde durchsichtig wie eine Seifenblase, bevor sie zerplatzt.

»Wer hilft mir mit den Rollen?«, rief Eduard Hoesch, der Kameramann. Er rappelte mit den Blechdosen, um sich zusätzlich Gehör zu verschaffen. Die mussten immer sofort in den Filmbunker gebracht werden, damit dem frischen Material nichts zustieße. Manche eilten in die Maske, die Garderobieren halfen den Stars aus den Kostümen, die Beleuchter bauten die Scheinwerfer ab. Urplötzlich verloren die Requisiten ihren silbrigen Glanz, wurden stumpf, alltäglich, Schatten krochen zurück, stahlen den Zauber aus der Kulissenwelt. Und Simeon suchte eine Kiste, lehnte sich an die schwarz gestrichene Wand hinter ihm und schloss seine Augen, die ein wenig eng über einer länglichen, leicht knolligen Nase standen. Hin und wieder fielen die wuscheligen Haare darüber und verdeckten sie.

Er liebte den Film. Fast sein ganzes Leben lang hatte er nichts anderes gewollt, als sich damit zu beschäftigen. Welten der Fantasie, der Leidenschaften, Abgründe der menschlichen Seele, Heldentaten. Als Tonmeister war er der Mann auch der leisen Töne. Alles fand sich für die Ewigkeit gebannt auf Nitrostreifen, hatte Beweiskraft und lebte doch nur auf, wenn das Licht des Projektors hindurch und das Bild dem Betrachter ins Auge fiele.

»Wer mag, kann in der Kantine noch feiern.« Eine sanfte, warme Stimme – Leon. Natürlich, wer sonst? Simeon hatte ihn längst bemerkt, wie er sich in der Nähe herumdrückte, fast beiläufig. Dabei wusste der eigentlich ganz genau, dass er die Minuten nach Drehschluss gerne alleine genoss.

»Kommst du? Mittag ist gerade vorbei. Wir brauchen dann nicht selbst …«

»Wenn du willst, geh nur. Ich bleibe hier.« Simeon hatte ebenfalls Hunger. Selbstverständlich. Aber gerade jetzt mochte er keine Gesellschaft. Seine schon gar nicht. Er öffnete kurz die Augen. Leon Miler lächelte ihn an, sein Blick dem seinen dennoch entweichend. Die schmalen Lippen freundlich geöffnet. Das etwas zu lange rote Haar von hinten erleuchtet durch einen der fest montierten Scheinwerfer, das Haupt wie in einen Strahlenkranz gehüllt. Für einen Moment empfand Simeon mehr als Mitleid ... aber dessen traurige grau-blaue Augen weckten gleichfalls Wut. Hatte er damit denn nicht allzu oft Erfolg gehabt? Immer und immer wieder?

»Bist du sicher?«, fragte Leon. Ganz der Zerrissene, dem Blick des Freundes noch immer ausweichend, wie es schien.

Simeon richtete sich ein wenig auf und hob sein Kinn. Eduard stand mitten in den Kulissenbauten und nestelte an der Kamera herum. »Da, siehst du den Hoesch? Hilf dem mal. Als Lichthelfer hast du ja nichts mehr zu tun.« Dann schaute er einen Moment auf seine Knie. Nein, das reichte nicht und er hob den Blick. »Leon, so geht das nicht. Du tust so, als sei überhaupt nichts passiert. Immer und immer wieder kommst du an und ich falle auf dich herein.«

»Was?«, jaulte er leise, aber Simeon ließ ihn nicht ausreden. Das konnte sonst lange dauern, das wusste er.

»Kein Was mehr. Eberhard, Jürgen. Und zuletzt Frieder. Alles immer nur Freunde? Und Zufälle? Und Gelegenheiten? Und nichts Ernstes? Lass das. Wenn ich dir zu alt bin …«

»Aber bitte, es ist doch gar nicht …«

Simeon platzte beinahe der Kragen. »Vergiss mal einen Moment wo wir sind und komm in der Realität an. Menschen haben Gefühle – nicht im Film. In echt! Und brauchen Beständigkeit. Die einzige Konstante bei uns ist, dass du zu mir kommst und ich für dich da bin. Im Gegenzug? Nüscht. Und jetzt hilf dem Eduard, verdammt.« Demonstrativ schloss er erneut die Augen und lehnte sich an die Wand. Die Luft im Atelier war warm von den Strahlern, die seit Stunden leuchteten. Aber die Mauer ließ doch die niedrigen Temperaturen draußen auf dem Gelände spüren. Der Kontrast an dieser Nahtstelle von innen und außen gefiel ihm. Wenige Augenblicke später hob er wieder die Lider. Leon war verschwunden, dafür schlenderte Viktor de Kowa heran und lächelte. In der Hand hielt er einen gut gefüllten Cognacschwenker. Balancierte ihn zwischen zwei Fingern wie die frisch gepflückte Blüte einer seltenen Blume, mutig aus einem verschlossenen Garten gestohlen.

»So versonnen, Herr Wehrstein?«

Simeons Gesicht entspannte sich. Sein Blick wanderte an dem Gegenüber entlang, hoch zur Decke weit über ihnen, wo letzte Scheinwerfer brannten. Viktor war nicht länger der draufgängerische Millionendieb Peter Voß. Abgeschminkt, nahezu farblos wirkte er, wieder total der blonde jungenhafte Lebemann, als der er oft besetzt wurde.

»Nicht versonnen«, schüttelte Simeon den Kopf. »Es ist … die ersten Minuten nach Drehschluss, wenn alles getan ist, jede Geschichte erzählt, jeder Konflikt ausgefochten …«

De Kowa nickte leicht und lächelte auf ihn herab. »Jeder Filmkuss geküsst wurde. Jeder Mord gerächt. Wenn die Klappe gefallen ist … das Jubeln der Filmleute verstummt und auch das Rascheln der Requisiteure endet, die letzten Türen zugefallen sind und die Traumwelt des Ateliers von der Stille der Realität übermalt wird?«

Simeon spürte eine Gänsehaut auf dem Rücken. »Ja, exakt das!«, hauchte er.

Der Schauspieler strahlte. Dann setzte er sich neben ihn und nippte an dem Cognac. Genüsslich verdrehte er die Augen. »Sie sind noch hier. Ich dachte, sie würden jetzt auch schon hastig die Sachen packen wie die anderen, um Montag pünktlich in Kolberg zu sein. Für die Aufnahmen am historischen Schauplatz.«

»Nein«, sagte Simeon etwas gedehnt. »Ich wurde nicht besetzt. Aber das macht nichts. Ich bin von Quassowski für eine neue Käutner-Produktion angefragt. Da ist noch einiges unklar, aber es muss wohl bald losgehen. Und Sie?«

»Ich soll mich bereithalten«, de Kowa strahlte. »Professor Liebeneiner hat mich eingeladen. Vielleicht geht es um eine Rolle. Er sagt nichts, wie immer alles geheim.«

»Der Liebeneiner ist schon wer. Der macht keine Kleinigkeiten«, erwiderte Simeon bewundernd.

»Und ob! Neben Veit Harlan immerhin der Mann des deutschen Films. Zuständig für die wichtigen Angelegenheiten.«

»So wichtig wie Kolberg?«, fragte Simeon. Die als kriegswichtig eingestufte Produktion verschlang Unsummen von Geld und Ressourcen und wurde nicht fertig. Das pfiffen die Spatzen von den Dächern der Ufastadt in Babelsberg und darüber hinaus.

De Kowa nickte entschieden. So heftig, dass die Kiste wackelte, auf der sie saßen. »Harlan ist seit einem halben Jahr mit Kolberg zugange. Wer soll es denn sonst machen? Nein, nein. An den Liebeneiner muss man sich ranhalten. Was der anpackt, kann hinter keiner Harlan-Produktion zurückstehen. Das würde er sich nicht bieten lassen. Wie man hört, will sich der Chef höchstpersönlich ein filmisches Denkmal setzen. Es fehlt nur noch der passende Stoff.«

Simeon sah ihn von der Seite an. »Etwa der Doktor

Der andere legte den Finger auf die Lippen. »Minister Goebbels. Genau. Beim ›Wunschkonzert‹ hat sich sein Einfluss doch bezahlt gemacht. Ist ein riesiger Erfolg gewesen. Mehr weiß ich aber nicht und wenn ich mehr wüsste und Ihnen das verriete …«

Er ließ den Rest ungesagt, aber Simeon kannte den bei Filmleuten beliebten Spruch: ... dann müsste ich Sie töten. Nicht witzig in diesen Tagen. Erst recht nicht nach der Affäre Selpin. Oder dem Trauerspiel um die Familie Gottschalk. Falls die Produktion seitens des Ministerbüros selbst befürwortet wurde, vielleicht sogar vom Schirmherren des deutschen Films erwünscht, würde es an nichts mangeln. Er wollte sich unbedingt erkundigen, wie er dort ebenfalls an Bord käme.

Der Schauspieler stand auf. »Jetzt ist erst einmal Wochenende. Am Mittwoch habe ich Geburtstag und gebe eine Gesellschaft. Ich werde vierzig. Wollen Sie auch kommen? Ich würde mich freuen.« Er zwinkerte. »Wolfgang Liebeneiner wird auch da sein ...«. Er lächelte vielsagend.

Simeon strahlte und nickte. Er hatte sein viertes Lebensjahrzehnt längst erreicht. Dort würde er sicher Verbindungen für dieses ominöse Großprojekt knüpfen können. Und es gäbe zu essen. Viel und gut. Das rettete schon die halbe Woche. »Gern. Sehr gerne.«

»Dann ist es abgemacht.« Sie reichten sich die Hände und Simeon schloss abermals die Augen. Das Leben ging weiter. Und so mochte er es wenigstens hin und wieder einmal genießen.

Es ist so trostlos in Zehlendorf-West

Psssch. Zischend entwich der Atem. Immer wieder fiel eine schwere Locke in Maras Gesicht und verdeckte den Text in dem Magazinheft. Sie ließ sich nicht vertreiben. Noch ein Versuch: Psssch. Keine Chance. Und was sie las, ärgerte sie außerdem:

Ich gestehe, dass ich nicht allzu erfreut darüber war, denn erstens gab es meiner Ansicht nach schon damals Raumfahrtromane genug. Das stand da tatsächlich. Die Locke rutschte gleich auf die Nase, ihr Blick schielte vorbei. Und zweitens, ein Raumfahrtroman, den eine Frau geschrieben hat …

»Frechheit«, flüsterte sie mitten in den Satz hinein.

»Watt ham se jesacht, Frollein? Stör ick vielleicht?«, schimpfte jemand.

Überrascht hob sie ihren Blick. Vor ihr stand ein altes Frauenzimmer in einem dunklen Mantel, über ihren Kopf ein altmodisches Kopftuch geschlungen.

»Watt is jetzte mit mein Billett?«, fragte die Oma auf der anderen Seite der Durchreiche.

Hastig schob das Mädchen die Illustrierte beiseite und griff nach den Fahrkarten, während ihr Gegenüber schon erwartungsvoll unter dem hochgezogenen Fensterchen hindurchschaute.

»Einmal Lankwitz, bitte!« Die alte Frau war entschlossen.

Mara lächelte und riss die Karte ab. Die etwas gebückte Dame reihte die abgezählten Münzen säuberlich auf. Sie schob ihr im Gegenzug den Fahrschein hinüber und entschied sich für Freundlichkeit. »Da haben Sie aber ein Stückchen vor sich. Sie müssen nach Norden fahren und umsteigen. Yorckstraße zum Beispiel. Dann nehmen Sie die rote Linie 6, Fahrtrichtung Lichterfelde-Ost. Bloß nicht nach Velten, das ist die andere Richtung.«

»Danke«, knarrte die Alte. »Und übrijens, wundervolle rote Haare ham se. Hatt ick früher auch.« Mit diesen Worten zog sie ihr Kopftuch ein wenig zur Seite und enthüllte den Blick auf schlohweiße Strähnen. Mara strahlte. Die war ja doch nett. Aber keinesfalls wollte sie das Gespräch künstlich in die Länge ziehen und so trippelte die Kundin gut bedient davon. Einige Momente sah sie der Frau hinterher, dann zog sie ihren Kragen zurecht. Der Stoff der Uniformjacke war grob, zu kratzig für ihre zarte Haut.

Prüfend warf sie einen Blick in die runde Bahnhofshalle der Station Zehlendorf-West. Das Portal zu ihrer Linken wies auf den Vorplatz hinaus, gegenüber, rechts von ihr, erreichte man durch einen kleinen Tunnel Stufen, die zu den Bahnsteigen führten.

Zwei Frauen mit Kinderwagen unterhielten sich in Hörweite, eine Gruppe von Soldaten saß auf ihren Tornistern und verhielt sich wie zu groß geratene Schuljungen. Sie machten leise Witze und ihr Mienenspiel verriet, dass es wohl keine jugendfreien Scherze waren. Einer von ihnen sah immer wieder herüber. Von ihrem Fahrkartenschalter aus konnte sie gut die gesamte Halle des Bahnhofs überblicken. Er wurde von einer großen Kuppel überdacht, erst 1904 im Jugendstil errichtet. Ein Teil bestand aus gemustertem Glas. Durch dieses fiel stets ein ganz besonderes Licht.

Ein junger Soldat schien sich an dem Gespräch nicht zu beteiligen. Irgendetwas reichten die anderen herum. Vielleicht unzüchtige Fotografien?

Gegenüber, einige Meter entfernt, befanden sich die Diensträume des Bahnhofs. Durch den Türspalt drang leise Musik. Von Bahnhofsvorsteher Herbert Bommel drohte im Augenblick daher keine Gefahr.

Ihre Finger waren klamm, als sie das Heft wieder zu sich zog. Der gusseiserne Kohleofen in der Ecke verbreitete Wärme, aber das reichte kaum. Kohle gab es nicht mehr oft. Also brachte jeder zum Dienst mit, was er an Holz auf dem Weg fand: Trümmerholz, Bauholzreste, Splitter von Bäumen, die bei einem Angriff zerrissen worden waren. Sie las weiter.

Als ich dann einigen Aufnahmen zusah, in der riesigen Mondlandschaft, die man aufgebaut hatte im Atelier, im Raumschiff selbst und auf dem Abfahrtsgelände, wurde meine Stimmung schon ganz anders, mochten nun noch Fehler stehen im Buch, hier gab es keine mehr. Mara hob die Augen ein wenig und pustete gegen die garstige Locke: Pssch. Dann konzentrierte sie sich wieder auf den Text.

 

Es war schon spät, als ich mit dem Lesen anfing und ich hatte eigentlich die Absicht, recht bald schlafen zu gehen. Aber ich las die Nacht durch, - und als am nächsten Tage die letzte Seite erreicht war, fing ich von vorn an. Seitdem habe ich ihn viermal gelesen und habe viermal Abbitte geleistet für meine ….

»… schlechten Erwartungen zu Anfang, Fräulein Prager«.

Sie hielt inne. Irritiert, als erwache sie aus einem Nickerchen. Vor ihrem Fahrkartenschalter hatte sich Vorsteher Bommel aufgebaut. Wichtig, wie so oft. Aufgeplustert neben einer freundlichen schmächtigen Frau. Seine Glatze strahlte und sein perfekt rasiertes Gesicht war leicht gerötet durch die Kälte, die von außen in die Halle zog. Erschrocken schob sie die Hände unter ihr schmales Pult und verbarg hastig das alte Sonderheft des Film-Kurier zum Start des letzten großen Stummfilmes Frau im Mond Ende 1929. Es gelang nicht ganz. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Augenblicklich schrumpfte sie buchstäblich hinter der Durchreiche.

»Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sich um die Fahrgäste kümmern sollen. Stattdessen lesen Sie, lesen …«, feine Speicheltropfen trafen auf das hochgezogene Fensterchen. »Sowas da!«, er zeigte auf das Magazin und seine Finger reichten durch die Öffnung auf ihre Seite der Glasscheibe. »Was ist das überhaupt?«

Mara errötete, fast so rot wie ihre leuchtende Haarpracht.

»Ein Filmmagazin, ich habe es geliehen bekommen und …«

»Ist mir egal wo Sie es herhaben. Die Frau hier steht seit Minuten vor Ihrem Schalter und wird nicht bedient.«

Hätte sie was gesagt, dachte Mara, doch sie hütete sich, das zu erwähnen.

»Selbstverständlich, Herr Vorsteher Bommel, es tut mir leid, ich habe die Dame nicht bemerkt.«

»Ich habe Sie Ihrem Vater zuliebe eingestellt. Bruno und ich ... Menschenskinder. Sie sind bald sechzehn. Beinahe erwachsen.« Er sagte nichts weiter, vielleicht weil nach wie vor die Frau neben ihm stand. Natürlich kannte sie die vielen Kriegsgeschichten, als Bommel und ihr Paps den Argonnerwald fast alleine gegen die Franzmänner verteidigt hatten. »Aber ich hatte schlechte Erwartungen zu Beginn, schlechte Erwartungen!« Dann wandte er sich an die Kundin. »Es geht sofort weiter!« Mit diesen Worten verschwand er wieder humpelnd in seinem Büro, die Tür fiel laut klappernd in den Rahmen und die Musik begann von vorne.

»Nicht ärgern lassen«, flüsterte die Frau. »Ich hab‘s nicht eilig. Ich hätte gewartet, bis Sie mich bemerken.«

Mara lächelte dankbar, hörte das Fahrziel und riss eine entsprechende Fahrkarte ab. Mit leisem Dank nahm sie das Geld. »Sie müssen Linie 3 …«, begann sie, aber die Kundin winkte ab. Sie wusste Bescheid und ging.

Dann las sie weiter:

Denn »Frau im Mond« ist sicher der beste Raumfahrtroman, der bisher geschrieben worden ist. Und zu dem wahrscheinlich doch eine Frau die Feder ergreifen musste, damit er geschrieben wurde.

Das Mädchen lehnte sich zurück und blickte in die Ferne. Die Soldaten hatten sich erhoben, lautes Surren und Rattern drang vom Bahnsteig heran, Quietschen erfüllte die Halle. Die elektrische S-Bahn war da. Bommels Tür gegenüber flog auf und der Vorsteher hastete an ihnen vorbei, fast zusammenstoßend mit dem jungen blonden Kerl in Uniform, der sie nach wie vor ansah und sich anscheinend gar nicht losreißen mochte von ihr.

Mara beachtete ihn nicht, sondern streckte sich nur, als könne sie durch die Halle einen Blick auf die über ihr eingefahrene Bahn erhaschen. Sie liebte Züge, denn die durften die ganze Welt sehen. Natürlich würde diese S-Bahn niemals aus dem Großraum Berlin herauskommen, aber trotzdem! Sie selber sah tagein tagaus nur ihren Holzstuhl und die kleine Fahrkartenbude. Oder die Wohnung in der Fasanenstraße, die sie sich mit ihrem Vater teilte. Mit schnellen Schritten liefen die Soldaten zum Zug. Zuletzt der junge Blonde, der sich einen herrlich unpassenden Schal um den Hals warf und dabei gegen den Rahmen des Ausganges stieß, weil er nach wie vor den Blick nicht von ihr wenden wollte. Er kicherte und sie lächelte ihm hinterher.

Sicher Mutters Weihnachtsgeschenk, dachte sie belustigt und augenblicklich wurde sie traurig. Die Schokolade fiel ihr ein, die sie selbst neulich unter dem Weihnachtsbaum vorgefunden hatte. Die Schachtel war zwar hübsch gewesen, ansehnliche Friedensware, aber die Tafeln des Winters 1943 waren nicht mehr in Wachspapier eingewickelt oder durch Seidenpapier getrennt. Die Plättchen wirkten beinahe durchsichtig, lagen lose in der Packung aus grobem Karton und sie waren auch nicht braun wie früher, sondern mausgrau. Der Geschmack war spröde, sogar etwas sandig. Sie hatte sie dennoch tapfer gegessen, weil sie wusste, dass ihr Vater einen großen Umweg genommen haben musste, um an Schokolade zu kommen. Doch Mara wettete jeden Betrag, dass darin weder Milch noch überhaupt Kakaobohnen enthalten waren.

Als die Halle sich endlich geleert hatte, ließ sie sich zurück auf ihren Stuhl sinken. Die große Uhr im Wartesaal zeigte fünf vor zwei. Gleich würde Hulda kommen und sie ablösen. Dann wäre sie frei, gerade rechtzeitig, bevor es am Nachmittag wieder so richtig voll werden dürfte. Und in der Tat: Schuhsohlen klapperten auf den schwarz-weiß gemusterten Fliesen der Halle, die an vielen Stellen gesprungen und angebröselt waren. Wenn sie sich nicht täuschte, dann …

Und sie irrte sich keineswegs, Vorsteher Bommels Tür flog auf und mit perfekt sitzender Dienstuniform hüpfte der kahlköpfige Mann nahezu aus seinem Kabuff, soweit seine Kriegsverletzung einen Hüpfer gestattete. Er trug die Lesebrille, die er sonst nur im Büro brauchte. Er musste wohl hoffen, dass sie ihn schlauer aussehen ließ.

»Fräulein Hanisch! Gut, dass Sie kommen!«, balzte er das junge Mädchen an.

Mara nahm das Heft und schob es in ihre schmale Tasche. Dann warf sie einen Blick in den kleinen Spiegel an der Holzwand und musterte sich selbst: Sie streckte sich die Zunge raus und ihr herzchenförmiges Gesicht mit den kecken Sommersprossen auf und neben der Nase zwang sie, zu schmunzeln. Mit den Taschenriemen über der Schulter erhob sie sich.

»Tag Fräulein Hanisch«, grüßte sie ihre Ablösung und schritt an den beiden gurrenden Turteltäubchen vorbei. »Die Abrechnung liegt abgezeichnet auf dem Tisch. Es war ruhig heute.«

Vorsteher Bommel beachtete sie nicht, die Kollegin grinste unbeholfen. Geheuer schien ihr das Verhalten des Vorgesetzten wohl auch nicht zu sein… andererseits tat sie nichts, um das zu beenden, im Gegenteil.

Mit geübtem Griff schob Mara ihre Dienstmütze zurecht, so dass sie nicht wegflöge, falls draußen der Wind blies, doch es war bloß kalt. Eisig. Höchstens drei Grad. Bedächtig stieg sie zu den Gleisen hinauf. In den Ecken und zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Strecke lagen Reste von Schnee. Es war ruhig, fast schon still für einen frühen Freitagnachmittag in der Reichshauptstadt. Aber das kam hier manchmal vor, ihre Station lag nicht an einer der Hauptlinien, dadurch wurde der Tag oft langweilig und die Stunden zogen sich. Andererseits hatte sie Zeit zum Träumen, solange nicht Herr Bommel hin und wieder glaubte, er müsste sie kontrollieren. Wenn er selber beschäftigt war, einerlei ob mit seinen Schallplatten oder mit Fräulein Hanisch, konnte Mara nach Herzenslust lesen. Schmökern und Grübeln. Sie las, soviel sie konnte, aber am liebsten verschlang sie alles, was mit dem Weltraum zu tun hatte, mit Luftschiffen und Raketen.

Wie sie sich doch wünschte, eines Tages selber zu den Sternen zu fliegen. Dabei zu sein, wenn aus den Raketenträumen der Wissenschaftler und Pioniere irgendwann einmal ein Mondflug würde. Sie atmete tief die kalte Luft ein. Sie roch nach Holzbrand, dessen Qualm aus dem Schornstein der kleinen Bahnstation quoll und sich in der Windstille gemächlich herabsenkte.

Die Gleise glänzten im kühlen Sonnenlicht. Stahl, der von hier aus überall hin auf der Welt führte. Bis Kairo, China, nur nach Amerika natürlich nicht, dachte sie. Guter deutscher Stahl, doch zu schwer, als dass man damit fliegen könnte. Dafür wurde schon Duralumin benötigt, wie man es im Flugzeugbau verwendete. Sie kannte sich aus.

Fest hielt sie ihre Tasche gepackt und drehte sich langsam auf dem Bahnsteig. Kleine Wölkchen tauchten im Takt der Atemzüge vor ihrem Gesicht auf und verschwanden wieder. Es wurde Zeit, dass der Sommer käme … ja, der Sommer. Aber sie hatte keine Pläne und würde doch hier sitzen. Warum wollte sie überhaupt auf ihn warten?

Mit dem Herannahen der gelb-rot lackierten elektrischen Triebwagen vom Typ ET 169 verloren sich ihre trüben Gedanken. In zwanzig Minuten hätte die S-Bahn sie zum Bahnhof Zoo getragen. Zuvor an der Friedrichstraße umsteigen und ab da führte jede Linie in Richtung Westen. Am Zoo gäbe sie dann dem alten Darburg das Heft zurück und heimlich hoffte sie, dass sie ein neues geliehen bekäme.

Rappelnd kamen die Wagen zum Stehen und bewusst trat sie zur Seite. Deutlich neben die Türen, den Blick niederschlagend, damit man sie nicht für im Dienst befindlich hielt und nach dem Weg oder Preisen für Billetts fragte oder, schlimmer, sich über irgendwas beschweren wollte. Aber alles lief gut, die Menschen wanderten an ihr vorbei, einige Soldaten in Ausgehuniform drängten auf das Bahnsteighäuschen zu und jeder schien nur eines zu wollen: Heim.

Kurz bevor die Bahn anfuhr, schlüpfte Mara durch die sich schließenden Türen und nahm Platz. Der Wagen war nur halb gefüllt. Leise unterhielten sich die Leute über dieses und jenes. Sie hatte erst am Montag Dienst und das freie Wochenende kam ihr vor wie Ferien.

»Wenn ich Glück habe, geht Hermann mit mir in einen Film.«

Das weckte augenblicklich ihre Aufmerksamkeit. Kino … das wäre mal wieder etwas. Ihr gegenüber saßen drei Blitzmädels in Uniform. Wehrmachtshelferinnen, so genannt wegen des gelben Abzeichens an ihren Ärmeln und dem gleichfarbigen Streifen an ihrem Schiffchen, der Uniformmütze. Die anderen kicherten. »Kinooo«, jaulte eine Schwarzhaarige. »Wer‘s glaubt«.

»Aber hör mal«, beschwerte sich die Erste, eine lange dürre Bohnenstange. »Ich muss doch sehr bitten. Was unterstellst du mir da?«

»Nichts, was du mir nicht auch unterstellen würdest«, betonte die dritte, eine dickliche Brünette spitz.

»Tss, ihr könnt ja gar nicht mitreden.«

»Was für ein Kulturfilm soll‘s denn sein?«, fragte die Dicke schmeichlerisch.

»Kein Kulturfilm«, entgegnete die Erste und überhörte den Unterton. »Eine Parodie. Ein Film über Juwelenraub und einen schlauen Detektiv. Herr Sanders lebt gefährlich – gerade angelaufen.«

Die beiden lachten. »Und du magst Detektivfilme? Seit wann!«, johlte die Schwarzhaarige.

»Seit Paul Verhoeven mitspielt«, kicherte die Korpulente.

»Du bist bescheuert«, nölte die Bohnenstange. »Paul Henkels ist der Räuber.«

»Aber der sieht nicht aus wie Lutz. Der Verhoeven schon. Weiß Hermann das?«, gluckste wieder die Dicke mit einem Zwinkern zu den anderen.

»Untersteh dich, der Schuft Lutz kann mir gestohlen bleiben. Treulose Tomate.«

Verwirrende Namen, Mädchenprobleme. Mara schmunzelte und wandte sich ab, sie sah aus dem Fenster. Wenige Bäume, immer mehr Häuser zogen an ihnen vorbei, als es schnurgerade in die Mitte der Hauptstadt ging. Sie kannte den Film gar nicht. Angestrengt überlegte sie, ob sie denn mal davon gehört hatte. Der Titel kam ihr leicht bekannt vor: Herr Sanders … Vielleicht eine Schlagzeile im Filmkurier, den sie bisweilen am Zeitungsstand vom alten Darburg durchblättern durfte.