Kleine Frau im Mond

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Sie würde gerne wieder einmal Weltraumschiff 1 startet sehen. Der war faszinierend. Es war einige Jahr her, Ende 1940 hatte sie ihn das erste Mal gesehen und sie würde niemals ihr Staunen vergessen. Was für ein Spektakel: Eine Reise mit einem großen silbernen Raumschiff ins Weltall und rund um den Mond. Leise seufzte sie. Ein Kulturfilm, halb Spielfilm und halb dokumentarisch. So etwas gab es nicht oft. Kulturfilme waren ein wenig Glückssache. Sie wurden selten angekündigt. Meistens liefen sie nach der Wochenschau und vor dem Hauptfilm. In großen Kinos und bei Filmen mit Jugendfreigabe konnte man Glück haben. Die hatten zwei, manchmal drei Vorstellungen am Tag und einen entsprechenden Bedarf an Kurzfilmen. Da half nur immer wieder ins Kino gehen. Aber Billetts waren teuer und als Fahrkartenmädchen bei der Reichsbahn konnte sie sich keine großen Sprünge erlauben – und kleine leider ebenso wenig.

»Nächster Halt Friedrichstraße«, rief der Schaffner an, der sie erst gar nicht kontrolliert hatte. Mittlerweile kannte sie so gut wie jeden bei der BVG.

Sie stand auf und verließ den Zug, schnell zum benachbarten Gleis wechselnd, wo die Linie 2 einfuhr.

Mit der S-Bahn zu fahren war ihr Spaß, ihre Leidenschaft, ihre Passion. Stundenlang saß sie manchmal in den Wagen, sah aus den Fenstern, ließ sich über die Streckenabschnitte der Ringbahn tragen. Von hier aus erreichte sie jeden Winkel der Stadt. Konnte alle Straßen sehen. Die prächtigen und die verwahrlosten, die großen Mietskasernen und Fabriken der Siemensstadt. Die einsamen Viertel des Grunewald, den quirligen und lebendigen, leicht chaotischen Alexanderplatz mit der weithin sichtbaren Roten Burg, dem gewaltigen Polizeipräsidium. Bis raus nach Potsdam ließ sich fahren und von dort Sanssouci erreichen, das legendäre Schloss des bedeutenden Preußenkönigs, der doch so bescheiden gewesen war. Das hatte sie jedenfalls in Der große König gesehen, dem Film von Veit Harlan. So entschieden stemmte sich der Alte Fritz der Kapitulation vor den Österreichern entgegen und war auch wirklich Sieger geblieben. Ein Vorbild, dachte sie bei sich. Auf dem Weg zu den Schlössern lag außerdem die S-Bahnstation Babelsberg-Ufastadt … wer hatte hier nicht alles den Boden betreten? Wessen Füße waren die Treppen hinuntergestiegen und auf der Straße gelandet, unter der Eisenbrücke hindurchgeschritten, von der herab es einem lange nach schweren Regengüssen noch in den Kragen tropfte, selbst wenn schon wieder die Sonne strahlte?! Babelsberg! Ufastadt! Klangvoll, berühmt und geheimnisvoll. Ein Begriff wie ein Gemälde, ein Juwel, ein Heiligtum. Babelsberg, die Filmstadt der UFA, unter deren Mantel seit 1942 die verstaatlichten Firmen der deutschen Filmproduktion versammelt waren.

Mara setzte sich aufrecht hin. Der Bahnhof Zoo kam in Sicht. Gleich war es soweit und sie hielt die Augen offen. Da, endlich!

Hoch überragten sie die Baumwipfel des Tiergartens: die Zwillingstürme der Luftverteidigung am Zoo. Erhoben sich über das Geschachtel der Dächer wie Burgriesen einer sagenhaften Zeit. Kastelle, an denen Sturm und Angriff anprallten, wie die Wochenschau sie beschrieb. Hinter ihren massiven Mauern fanden die Bewohner der Stadt Schutz. Von Ferne sichtbar war das metallene Rund einer schüsselförmigen Scheibe, nach innen gewölbt, von weitem Durchmesser und mehreren Metern Tiefe. Unwillkürlich streckte sie ihren Hals, als handelte es sich um eine Weltsensation, und das war es für sie auch. Eine mächtige Antenne, ausgerichtet auf die anfliegenden Feinde und in der Lage, sie hunderte, tausende Kilometer weit zu orten, lange bevor irgendein Spähposten sie mit seinen schwachen menschlichen Augen entdecken mochte. Was für eine Macht und Reichweite, schoss ihr immer wieder durch den Kopf, egal wie oft sie das Gerät sah. Man nannte die Schüssel den Würzburg-Riesen. Er thronte auf dem riesigen grauen Klotz aus Stahlbeton, der vor gerade einmal drei Jahren in den Tiergarten gepflanzt worden war. Dieser, mit modernster Technik vollgestopfte sogenannte L-Turm, war die Leitzentrale einer Stellung der Luftverteidigung. Er stand im Verbund mit dem G-Turm, auf dessen oberster Plattform Flugabwehrgeschütze installiert waren. Es handelte sich um die größten, die die Wehrmacht überhaupt besaß. Hatte sie zumindest gelesen. Unterhalb befanden sich rundherum Ausbuchtungen, genannt ›Nester‹, mit weiteren schweren Maschinengewehren. Die Bauwerke bildeten uneinnehmbare Festungen gegen die Wut der beinahe täglichen Luftangriffe.

Die Türme, wie Mara sie sah, waren nicht bloß Verteidigungsbollwerke. Mit dieser Technik, so träumte sie, würde man einmal die Sterne anfunken. Bald sogar, wenn erst Frieden wäre. Und von einem Ort wie diesem, das stand für sie fest, würden dereinst Weltraumschiffe starten zu den Planetenräumen. Neben dem Zoo gab es Flaktürme noch in Friedrichshain und am Humboldthain. Eigentlich hätte ein vierter am Flughafen Tempelhof gebaut werden sollen, doch auf den war verzichtet worden, um den Flugverkehr nicht zu stören – so hieß es. Mara dachte weiter. Tempelhof … sicher hatte man Größeres vor – da steckte mehr dahinter – ein Turm für die Sterne vielleicht. Wäre das nicht logisch?

Als die S-Bahn näher an den Bahnhof heranrollte, erkannte sie die wahre Größe der Zwillingstürme. Die Höhe des G-Turms betrug sechsunddreißig, die Seitenlängen über siebzig Meter. Die vier Ecktürme alleine hatten Außenlängen von mehr als zwanzig Metern. Bis zu fünfunddreißigtausend Menschen konnten darin Platz und Schutz finden. Oben, so hatte sie gehört, befanden sich neben den Geschützbettungen sogar siebzig Tonnen schwere Kuppeln aus Panzerstahl und mehrere Aufzüge zum Transport von Munition und leeren Hülsen. Das alles für einen Krieg, der doch bald gewonnen sein würde? Das konnte sie nicht glauben.

Würde man nicht den kommenden Frieden nutzen, um in Tempelhof ein ungleich größeres Turmgespann zu errichten? Mit Flugschiffwerft und Raumhafen, so wie sie es auf Bildern in dem Sonderheft zu dem Mond-Film von Fritz Lang gesehen hatte? Zu gern hätte sie ihn einmal angeschaut, aber der durfte seit 1937 angeblich nicht mehr gezeigt werden. Warum, wusste niemand.

Leider, und es überraschte sie immer aufs Neue, wenn die Bahn auf die Zielgerade des Bahnhofes einschwenkte, gerieten die Türme plötzlich aus dem Blick und Mara war enttäuscht. Sie hatte sogar Personen ganz oben erkannt. Sie schienen so klein, verletzlich und waren doch sicher wie nirgendwo sonst in Berlin. Es musste großartig sein, dort Dienst zu tun … Mit diesem Gedanken erhob sie sich von ihrem Platz und reihte sich ein in die Menge der Menschen, die ebenfalls am Bahnhof Zoo aussteigen wollten.

Die kühle Luft floss durch den Spalt der sich öffnenden Türen. Der Bahnsteig, der sie empfing, war mindestens ebenso gedrängt wie zuvor die S-Bahn.

Sie schob sich nach unten. Schnell, vor den anderen. Aber die Treppe war verstopft und sie musste warten. Mancher sah sie interessiert an und musterte ihre Uniform. Doch nein, so wichtig erschien sie wohl nicht, denn niemand machte ihr Platz.

Unten in dem Durchgang sah es nicht besser aus. Von allen Richtungen her strömten die Menschen und Mara mit ihnen.

Es waren nur wenige Meter zurückzulegen, aber sie fühlte sich wie eine Sardine auf Bezugsschein. Viele trugen dicke Kleidung und wirkten dadurch breiter. Verständlich. Da man nicht wusste, wann der nächste Fliegeralarm käme und wie lange man in irgendeinem Bunker ausharren musste und wie kompliziert danach der Heimweg wäre, wollte man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Sie nutzte eine Lücke und warf sich voran. Den überraschten und wütenden Schrei von jemandem überhörte sie, denn sie war da! Wilhelm Darburgs Zeitungsladen!

Nur ein kleiner Verkaufsraum am Südausgang der breiten Fußgängerpassage des Bahnhofes unterhalb der Bahnsteige. Aber wie man das Geschäft auch nennen mochte, hierher kam Mara gern. Der Inhaber war ein alter und höflicher Mann. Schweigsam, doch immer auskunftsfreudig, wenn sie fragte. Und vor allem gab es nichts, was er nicht hatte oder besorgen konnte.

Er bot all die großen Tageszeitungen feil. Sie hingen vor dem Schaufenster. Durch dieses fiel fahles Licht, geputzt wurde es so gut wie nie. Draußen hatte er bloß Schnüre gespannt, die ganze Wand entlang. Und darüber die Zeitungen ausgebreitet. Aber der billige Aushang war effektvoll, denn die meisten Menschen fanden dort vor der Tür, was sie brauchten und hielten sich im Inneren nicht lange auf.

In seinem Zeitschriftenladen gab es aber viel mehr. Bücher, Abenteuerromane, Reiseberichte. Echte und fiktive. Hier hatte ihr Vater für Mara das erste Buch von Jules Verne gekauft – als Mutter noch lebte. Und weil er selbst gerne phantastische Geschichten las.

Hier fand sie aber vor allem die Groschenhefte, die sie auf ihren Bahnfahrten verschlang. Ein buntes Kaleidoskop der Welten und Schicksale. Sie bekam nicht genug davon. Der Zeitungsstand war wie eine Kraftquelle für sie, als wirkte von hier aus eine Energie, die sie anzog und gestärkt wieder entließ.

Herr Darburg war da, aber doch nicht da. Er unterhielt sich angestrengt mit einem Herrn. Für dieses Gespräch hatte er sich in den rückwärtigen Teil des kleinen Kabuffs zurückgezogen und obwohl sie kaum einige Meter von den beiden Männern entfernt stand, konnte sie nicht hören, was besprochen wurde. Sie schienen erfahren darin, sich für andere unhörbar zu unterhalten. Aber so ganz blieben ihr die Inhalte nicht verborgen. Auch sie hatte Übung in gewissen Dingen.

»In Wien? Was will denn von Weichs in Wien? Hält der nicht die Stellung in Belgrad?«, fragte der Händler den Unbekannten plötzlich laut und erschrocken, während Mara die Hefte durchblätterte. Sie wollte nicht stören, daher hielt sie ihre Tasche mit dem ausgeliehenen Magazin fest im Arm. Die beiden älteren Herren bemerkten sie und ihr blieb nicht verborgen, dass bei ihrem Anblick ein schmales Lächeln über die Lippen des Zeitungsverkäufers huschte, aber sofort kümmerte er sich wieder um seinen Gast.

 

Unter den Tageszeitungen und Journalen fand sie nichts, was sie interessierte. Unschlüssig beobachtete sie einen Jungen, der sich auffällig unauffällig direkt gegenüber an einem Stand vor dem Laden von Obsthändler Bramme herumdrückte. Plötzlich griff er sich einen Apfel und rannte davon. Der dicke Inhaber war gar nicht weit entfernt, aber er schaute hilflos, blies seine Backen rund und ließ die Luft ab, als pumpe er seinen Kopf auf und gleichzeitig lief er rot an. Mara konnte ein lautes Lachen nicht unterdrücken.

Neugierig unterbrachen die Herren ihr Gespräch. »Kann ich helfen?«, fragte der alte Darburg freundlich, er trug einen gezwirbelten Schnauzbart wie sein Gegenüber und beider Haltung war ähnlich. So wie Wilhelm Darburg stand der andere hoch aufgerichtet, als seien sie es gewöhnt, sich repräsentativ zu bewegen – wie von hohem Rang.

Mara schüttelte ihren Kopf, dass die rote Mähne nur so flog und ihre Dienstmütze beinahe hinterher, noch immer grinsend. »Ich möchte nur das Heft zurückbringen.«

Der Händler nickte, als wollte er ihr bedeuten, einen Moment zu warten.

Der Fremde legte vertraut einen Arm um Darburgs Schulter. »Um Ungarn geht´s doch. Der Generalfeldmarschall soll sich in Wien bereit halten …«, hörte sie den Mann sagen. Langsam arbeitete sie sich zu den Wochenmagazinen vor. Er sprach weiter. »… zum Verzweifeln. Als redete man gegen eine Wand! Schlimmer als damals in Moskau.«

»Ich weiß, Friedrich-Werner, ich weiß.«

»Aber das Unglaublichste ist, dass alle bei uns ratlos sind. Wenn …«, der ›Friedrich-Werner‹ genannte sah sich um und senkte seinen Ton. Aus einem merkwürdigen Zufall heraus nahm plötzlich der Menschenstrom vor dem Schaufenster ab und es wurde stiller, so dass Mara jedes Wort verstehen konnte. »… Horthy hat doch keine Ahnung, was ihn erwartet. Und die … das Amt 500 lässt sich am Gängelband führen. Man kann es doch gar nicht anders ausdrücken.« Den Rest sagte er nicht. Weiter senkte er die Stimme. »Wir sollten ein andermal weitersprechen. Nur soviel noch: Horthy und Kállay können machen, was sie wollen. Sie hätten Keresztes-Fischer nicht Jud Süss verbieten lassen sollen. Die Ungarn sind nicht dumm, sie hätten an der Kinokasse entschieden. Aber der Doktor vergibt sowas doch nicht. Das war der letzte Tropfen.«

Darburg räusperte sich. »Ja, vermutlich. Aufhetzen kann er sie alle. Wie vor einem Jahr. Im Sportpalast«, flüsterte er.

»Eben. Niemand widerspricht. Und ich stehe daneben. Händeringend. Machtlos. Schon wieder. Wie damals, als … als mir versprochen wurde, versprochen Wilhelm, dass nichts gegen Moskau läuft. Es ist zum wahnsinnig werden. Wenn ich nicht reden könnte, mit Leuten wie dir … auf Burg Falkenberg werde ich erst recht verrückt!«

Der Fernzug nach Breslau wurde angesagt und augenblicklich setzte draußen ein Laufen und Eilen ein, als führe ein Wirbelwind durch den Bahnhof. »Und sie wollen das Unternehmen Margarethe nennen«, sagte der Fremde ärgerlich. »Ausgerechnet«.

»Deine Mutter würde sich im Grabe rumdrehen, Fritz«, nickte der Händler.

Mara hörte nichts weiter, aber die Informationshappen sagten ihr ohnehin nichts. Die beiden Männer hielten sich an den Unterarmen, als gäben sie sich ein geheimes Zeichen. Dann verabschiedeten sie sich.

»Genieß die Ruhe auf deiner Burg, mein Guter. Du hast es dir verdient.«

Von der Schulenburg nickte ernst. »Von wegen Burg. Ich werde in Krummhübel erwartet. Wir haben zwar nichts mehr zu tun, aber mussten unbedingt noch ins Riesengebirge verlegt werden. Dass ich die Burg in Falkenberg überhaupt meine Heimat nennen kann, verdanke ich Alwine. Sie hat mir sehr viel Arbeit abgenommen. Leider haben die Eingeborenen dort die Gräfin von Duberg, wie sie sie nennen, in Ungnade genommen. Ich war einfach zu selten dort und habe Alla alleine gelassen. Sie schiebt es auf Christa, ausgerechnet.«

»Deine Tochter? Wie denn das?«

Der große kahle Mann nickte. »Absurd, nicht wahr? Alwine trinkt wieder sehr viel. Und das gefährdet auch ihre Stellung als Übersetzerin beim OKW. Sie ist jetzt in ihrer Wohnung in der Nassauischen Straße. Da nutze ich gern jede Gelegenheit, einen Umweg über Berlin zu machen. Gerade wenn es ihr schlecht geht.«

Als der Fremde an Mara vorbeilief, sah er sie nicht an. Sie spürte eine Aura von Eleganz, Würde und noch etwas. Ja, Macht. Obwohl sie mit ihren fünfzehn Jahren nicht viel davon wusste. Aber dessen Haltung forderte Achtung ein – und der alte Darburg hatte sie ebenso. Das fiel ihr jetzt im direkten Vergleich auf. Menschen beobachten konnte sie. Sie tat ja den ganzen Tag nichts anderes.

Ihre hellbraunen Augen sahen sofort, dass der Zeitungshändler weiter grübelte, als er sich ihr freundlich zuwandte.

»Aber nun zu Ihnen, was darf es sein?«

Hastig nestelte sie das Filmheft aus der Tasche und gab es ihm. Der Mann lachte, doch sagte nichts. Er nahm es nur zurück und legte es sorgfältig auf einen Stapel der Spätausgaben der Tageszeitungen, die er in die Auslage sortieren wollte.

»Ich möchte fragen, ob Sie noch weitere Romane haben?«, erkundete sie sich höflich. Jetzt endlich hellte sich seine Miene wieder etwas auf.

»Sie meinen, spannende Romane

»Ja bitte, so wie neulich Der Tunnel über die unterseeische Atlantikverbindung zwischen Amerika und Europa.« Mara nickte erwartungsfroh. Als sie seinen ernsten Blick sah, sank ihr Mut.

»Ingenieursfantasien … Sie wissen ja, dass solche Hefte dem Ernst der Zeit nicht mehr angemessen sind und deswegen …«, er hob die leeren Hände und sah sie mit einem bedauernden Gesichtsausdruck an.

»Hmm«, brummte sie zustimmend und sah sich weiter um. »Der Mann gerade. War er Ingenieur?«

Darburg grinste. »Neugierig sind Sie aber nicht, oder?«

Sie schüttelte wild den Kopf und lachte keck.

»Er ist Diplomat. Ein Graf sogar. Heißt von der Schulenburg. War einmal Botschafter bei den Sowjets. … Die Tom Shark Romane gefielen Ihnen, oder?«

Selbstverständlich hatten ihr die Abenteuerbücher der Erlebnisse des draufgängerischen und gewitzten Detektivs gefallen. Die Serie war zwar seit 1941 eingestellt, einzelne Hefte konnte man aber leicht und gut finden. Sie hatte zwei geliehen bekommen und augenblicklich verschlungen: Der wandelnde Götze und Das Geschenk des Fakirs. In beiden ging es um metallene Figuren, die zum Leben erweckt wurden. Das fand sie faszinierend.

»Tom Shark ist toll. Wie er die Verbrecher zur Strecke bringt und dabei in andere Länder reist und sich mit den Umständen dort herumschlagen muss. Aber leider, mein Vater hat die Romane gesehen und mir verboten, sie zu lesen.«

»Ach«, hob Wilhelm Darburg die buschigen Augenbrauen. »Warum?«

»Er sagt, das sei jüdische Zauberei wie im Golem

»Oho«, schnaufte der Mann. »Ihr Vater kennt den Film? Der ist ja uralt!«

»Nein«, brauste sie auf. »Er ist von 97, so alt ist er nicht!«

Darburg lachte. »Ich meinte den Film von 1920. Aber gut, jung ist Ihr Herr Papa trotzdem nicht. Nur acht Jahre jünger als ich.«

Mit großen Augen sah sie ihn an. Bisher hatte sie nie darüber nachgedacht, wie alt der Zeitungshändler sein könnte. Für sie war er immer schon dort gewesen, in dem kleinen Laden im Bahnhof Zoo.

»Diesen Film hatte er im Sinn. Den fand er bestürzend.«

»Ja, künstliche Menschen machen Angst. Mir auch. Aber jüdische Zauberei? Maria in Metropolis ist auch nicht jüdisch und sie ist ein Maschinenmensch.«

Kaum erwähnte er den Filmtitel, leuchteten ihre Augen. Metropolis … sie war ein kleines Mädchen, als sie ihn gesehen hatte, und erinnerte sich mit Mühe. Eine Sonntagsmatinee zum reduzierten Preis. Dort zeigte man früher manchmal noch Stummfilme. Ein langer dunkler Film, die Bilder hatten sie fasziniert und geprägt. Mama war noch dabei. Da konnte sie also erst sieben Jahre alt gewesen sein, höchstens acht.

»Stimmt. Metropolis ist toll. Ach, mein Vater … .«

»Was kennen Sie denn von Tom Shark? Wussten Sie, dass er in der ersten Hälfte der Serie immer nur in Berlin ermittelt hat?«

Sie schaute sich um und hätte sich gerne hingesetzt, aber der Laden war klein und sie traute sich nicht, auf einem Zeitungsballen Platz zu nehmen. Sie blieb stehen.

Er fuhr fort. »Eine Entscheidung der Reichsschrifttumskammer. Ab 1935 musste der Verlag die Ermittlungsreichweite von Tom Shark ausweiten, dadurch wurde die Serie vielfältiger.«

»Aber das ist doch gut«, behauptete Mara.

»Für den Leser schon. Aber eigentlich ging es darum, dass nicht alle Verbrechen immer in der Reichshauptstadt passieren durften. Was sollen nur die Leute denken?!«

»Ahaaa«, machte sie nachdenklich. Das wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Doch war es nicht einleuchtend? Wenn es jede Woche eines ausgefuchsten Ermittlers bedurfte, um die allerschlimmsten Untaten in der Hauptstadt aufzudecken, wie musste es dann erst in der Provinz aussehen? »Doch, den Tom Shark würde ich gerne mal wieder lesen«, sagte sie so höflich, vorsichtig und gleichzeitig charmant und begierig, dass der alte Darburg besonders zuvorkommend wurde. Irgendwo hatte sie einmal gehört, dass er Kinder hatte, die noch klein waren. Ein Mädchen, fünf oder sechs Jahre alt und einen jüngeren Sohn. Vielleicht behandelte er sie deshalb immer so ernsthaft. Die meisten Menschen nahmen sie ja gar nicht für voll.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er. »Bitte denken Sie nicht, dass ich unhöflich wäre, aber wir kennen uns ja jetzt schon eine ganze Zeit und wir haben noch nie einander vorgestellt.«

Das Mädchen in der Reichsbahnuniform strahlte und machte einen Knicks, während sie ihm die Hand reichte zu einem zarten Händedruck.

»Mara. Mara Prager. Berlin W15. Sehr erfreut«, sagte sie kess. »Sie dürfen Frollein sagen, das sagen alle.«

Darburg lachte laut und deutete eine Verbeugung an. »Zu Ihren Diensten, junges Frollein, Berlin W15.« Beide kicherten, während draußen der Schnellzug nach Hannover angesagt wurde, auf Gleis 4 einfahrend.

»Oh, mir fällt ein, ich habe einen Tom Shark zu Hause, den Sie bestimmt noch nicht kennen. Soll ich den mal mitbringen? Er heißt Das Raketenluftschiff. Ist schon zehn Jahre alt, aber gut geschrieben. Ich habe ihn für meine Kinder aufbewahrt, doch die sind noch zu klein, sie würden das nicht lesen. Sie heißen übrigens Linn und Erich.«

»Das wäre wunderbar. Raketen, ich liebe Raketen. Die Weltenräume, unendliche Weiten …«, es schien, als hüpfe das Mädchen. »Dann darf ich morgen wiederkommen?«

»Hätten Sie mich um Erlaubnis gebeten? Ich führe ein Geschäft!«

»Nein, kaum«, sagte sie trocken. »Ich wäre einfach aufgetaucht.«

»Gut so. Das gefällt mir«. Sein weißer Schnauzbart zog sich mit dem Grinsen in die Breite.

Als sie sich zum Gehen anschickte, tat er einen langen Schritt zu einem der Zeitschriftenständer.

»Warten Sie, mir fällt noch etwas ein. Das hier ist was für Sie. Da bin ich sicher.« Er zog eines der Hefte aus dem Drahtgestell und hielt es ihr hin. Auf dem rosafarbenen Titelbild sah sie einen Soldaten mit Stahlhelm, der sorgenvoll in die Ferne schaute. Die neuste Ausgabe der Woche vom vergangenen Mittwoch.

»Danke«, sagte Mara zögernd und sah auf den Preis. 40 Pfennige. Viel Geld. Für die Titelgeschichte ›Fallschirmjäger als Panzerknacker‹?

Der Zeitungshändler wusste ihren Blick zu deuten. Er nahm ihr das Heft aus der Hand und schlug es für sie auf. »Da, schauen Sie. Diesen Artikel meine ich. Ab Seite zehn.«

Maras Augen weiteten sich. ›Sternwarte nicht nur für Gelehrte‹, las sie und überflog schnell den Text.

»Mondsüchtige Würmer, das Leibgericht der Samoaner, gehören zu den astronomischen Seltenheiten des Museums der Sternwarte Treptow…«, murmelte sie leise. Dann hob sie die Augen und sah in sein altes Gesicht, schluckend. »Das ist … schon ekelig?!«

»Ja, aber aufregend, nicht wahr? Hier, nehmen Sie es mit.« Er hielt es ihr hin, so dass sie nur die Tasche öffnen und er es hineinschieben musste. »Bringen Sie es morgen wieder, wenn Sie kommen. Oder übermorgen.«

»Danke sehr«, hauchte sie glücklich und trat zurück in die Halle. Es war Zeit, nach Hause zu gelangen, bevor ihr Vater von der Schicht heimkehrte.

 

Sie verließ den Bahnhof, hielt sich westlich und lief an der Drogerie Dr. Kuhlmann vorbei, überquerte den Bahnhofsvorplatz und machte einer Gruppe von Karbolmäuschen Platz, wie Vorsteher Bommel die Rotkreuzschwestern gerne nannte. Sie kamen ihr mit schweren Taschen entgegen. Mara fand es respektlos, sie so zu nennen. Dann eilte sie über die Joachimstaler und blieb an der nächsten Ecke stehen, am Leinenhaus, dem Kurfürstendamm Nummer 227.

Vor ihr gähnten die dunklen Fensterhöhlen einer Ruine. Früher gab es da im Erdgeschoss mal einen Kurzwarenladen. Erst vor einem Monat hatte das moderne Gebäude Treffer abbekommen und war ausgebrannt. Doch etwas anderes faszinierte sie stärker. Hinter dem Haus lag ein Hof, eine Art kleiner Stadtgarten, zu dem eine Durchfahrt mit einem Tor gehörte, so dass man ihn normalerweise nicht einsehen konnte. Jetzt war ein Teil der Mauer eingestürzt und mitten auf der Freifläche klaffte kreisrund ein Krater, gut und gerne sieben Meter im Durchmesser und etwa einen tief. Mara fand ihn wunderschön. Er war perfekt. Sie sah nach oben in den kalten, aber strahlend blauen Himmel und versuchte, sich die Flugbahn der Bombe vorzustellen. Geschürft aus Erz, geschmiedet aus Stahl fern in Amerika, zerplatzt und jetzt zu Rost und Staub zerfallend in Berlin. Welche Hände dieses Stück Menschenwerk berührt haben mochten, bevor es einen solchen Krater zu schaffen vermochte. Geradezu ein Kunstwerk war daraus geworden. Erde, Stein und Metallsplitter – er sah exakt so aus wie die Einschlagsorte auf der Mondoberfläche, die sie in ihren astronomischen Büchern immer wieder bewunderte.

Sie reckte sich ein wenig. Mit etwas Phantasie ließ sich vorstellen, dass kleine Wesen darin lebten oder auf einem fernen Planeten aus einem solchen Krater heraus irgendwann in weiter Zukunft einmal ein Raumschiff von einem unterirdischen Bahnhof starten würde. Sie dachte an eine Geschichte, die sie in einem Planet Stories-Heft gelesen hatte: ›War-Lords of the Moon‹. Sie erinnerte sich genau. Die war auf Englisch gewesen, aber die Sprache konnte sie gut. Zwar las Mara langsamer, doch eigentlich war es nur eine Sache der Übung. Plötzlich lachte sie. Ihr Englischlehrer, Herr Dallmann, hatte böse geschimpft, als sie ausgerechnet ein solches Heft in den Unterricht mitgebracht hatte. Undeutsche Schundliteratur hatte er gewütet – und sie trotzdem gefragt, ob er es sich bis zur nächsten Stunde ausleihen könnte.

Etwas widerwillig löste sie sich von dem Anblick und nahm sich fest vor, jetzt täglich einmal nach dem Krater zu sehen. Ob er sich mit Wasser füllte? Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie sich vorzustellen versuchte, ob auf fremden Welten die Krater voll Wasser liefen?! Auf dem Mond würde es wohl keines geben. Aber sicher war sie sich nicht. Sie wandte sich nach rechts und ging ein Stückchen den Kurfürstendamm entlang, bis sie wenig später links in die Fasanenstraße einbog. Nahezu schlagartig verstummte der Verkehr hinter ihr und es wurde deutlich stiller.

Die Fasanenstraße lag zentral in der Stadt und doch war sie ruhig. Die hohen Bäume spendeten Schatten und im Sommer spielte das Licht durch die Blätter und zeichnete eine nicht enden wollende Abfolge von szenischen Bewegungen auf den Boden. Und im Winter reckten sich ihre kahlen Gerippe bis über die Dachfirsten hinaus. Wenn sie abends im Bett lag, konnte sie aus dem Fenster ihres Zimmers die Baumwipfel sehen, die von unten durch die Laternen gelblich beschienen wurden. Manchmal sahen sie wie Außerirdische aus, die zu ihr hineinblickten und winkten. Freundlich, bisweilen lockend, als wollten sie sie dazu verleiten ins Freie zu klettern und mit ihnen auf eine ferne Reise zu gehen.

Sie gluckste. Ja, bei Tageslicht waren solche Gedanken weit weg und erschienen ihr fast kindisch. Aber so manches Mal war ihr des Nachts doch bange. Insbesondere, wenn ihr Vater Nachtschicht hatte auf seinem Stellwerk im Süden der Stadt, außerhalb von Lichterfelde.

Die letzten Meter zur großen hölzernen Jugendstilhaustür der Hausnummer 59 lief sie schneller. Ob Paps schon da war? Er sollte heute bis 15 Uhr Dienst tun, aber sein Weg war lang. Hatte sie vielleicht noch Zeit zum Kochen? Er mochte es nicht gerne, wenn er nach Hause kam, und nichts war fertig.

»Tach Frollein Prager, die Klingel ist kaputt. Hamm wa aber gleich.« Mit diesen Worten kam Bewegung in Hausmeister Butzke, der bis dahin reglos vor seiner kleinen Werkstatt am linken Eck des Hauses Nummer 58 gestanden hatte. Er trat neben sie, schloss für sie die Tür auf und ließ sie ein. Mara wunderte sich, denn sie hatte ja selber einen Schlüssel. Der Mann war nicht groß und überragte sie kaum, hatte strähnige schwarze Locken und seine Nase triefte oft, die er gerne hochzog. Wann immer sie ihn sah, trug er Arbeitskleidung und eine lange blaue Schürze. Vielleicht sogar im Bett. Aber noch seltsamer mutete sein halbwüchsiger Sohn Heinz an, erst vierzehn Jahre alt, der ihr gegenüber nie den Mund aufbekam. Der hockte mit einem Pinsel in der Hand auf den Treppenstufen und überstrich eine Lücke im Putz. Er sah verkrampft auf seine Arbeit und schielte doch zu ihr hin. Sie beschloss, ihn zu ignorieren. Stattdessen nickte sie nur dem Hausmeister zu, dem die dicke Nase wieder lief und dessen strähnige schwarze Locken ihm über die Stirn fielen.

»Danke Herr Butzke, sehr nett.« Aus dem Augenwinkel beobachtete sie seinen Sohn. Heinz sah aus wie seine Mutter Mildred und er verhielt sich so ähnlich. Sie war eher schweigsam, aber noch anders als er.

Mara schwebte an ihm vorbei und bemerkte, wie er seinen Kopf drehte, als auf dem nächsten Absatz die stets leicht blauhaarig gefärbte Frau Winkler an der Wand lehnte. Sie war im Gespräch mit Werner Kämmerlin, dem Blockwart, als solcher zuständig für mehrere Dutzend Wohngemeinschaften nebst Untermietern in der Fasanenstraße. Dünn und lang war er, seine Kleidung schien oft eine Nummer zu groß. Die Haare lagen eng an seinem Schädel, der durch die Hakennase aussah wie eine römische Büste. Er trug seine Parteiuniform, wie immer bei dienstlichen Anlässen. Dass er sich im Haus aufhielt, war nicht ungewöhnlich. Er und Butzke waren befreundet, obwohl der nicht in der Partei war, wie er bei jeder Gelegenheit betonte. Er hielt nichts von dem Verein. Dafür umso mehr von Kämmerlin selbst.

Sonderbar war eher, dass sich die zänkische Frau Winkler mit ihm unterhielt, sogar angeregt. Beide verstummten, als sie Mara sahen. Hinter vorgehaltener Hand nannten manche ihn ›Kümmerling‹. Dabei war er gar nicht so übel, fand sie. Ein echter Blockwart wie er im Parteibuche stand und ebensolcher Parteigenosse. Neugierig, etwas vorlaut vielleicht. Aber sie hatte nichts zu klagen.

Bevor sie grüßen konnte, bekam sie von der Winkler ihr Fett weg.

»Ihr Vater ist seit einer Stunde zu Hause und ich kann mir denken, dass er hungrig ist.«

Mara hielt den Atem an, ging dann aber einfach an ihr vorbei. Höflich nickte sie. »Guten Tag Frau Winkler und ein schönes Wochenende. Grüße an den verehrten Herrn Gemahl. Tag Herr Kämmerlin.«

Der Blockwart lächelte freundlich zurück. Nicht ohne Genugtuung sah sie, wie der Mund der zänkischen Nachbarin aufklappte. Warum mischte sich die Alte ständig in alles ein? Reichte es nicht, dass sie ihren Mann Uwe tyrannisierte?

»Und dieses Jahr an Führers Geburtstag flaggen wir richtig, nicht so ein Taschentuch wie im letzten Jahr. Kümmern Sie sich um eine richtige Fahne«, meckerte die Alte den Blockwart an, während Mara sich entfernte.

Auf der ersten Etage wohnten die Martens. Diplom-Ingenieur Ewald, ein Erfinder, hatte seine Werkstatt in dem zweiten kleinen Laden im Erdgeschoss des Nachbarhauses und nutzte den Schuppen auf dem Hof hinter ihrem Haus. Dort bastelte er an elektronischen Geräten, um die er stets eine ungeheure Geheimnistuerei veranstaltete. So geheim waren sie, dass er trotzdem bei Fliegeralarm im Keller der ganzen Hausgemeinschaft erzählte, wie ausgeklügelt sein Frequenz-Peilgerät sei, viel besser als die Technik von Telefunken, die auf den Flaktürmen eingesetzt würde. Das Rüstungsministerium förderte seine Forschungen sogar. Aber alles höchste Verschlusssache. Gundel, seine Frau, sprach lieber von ihren beiden Kindern, die auf Kinderlandverschickung waren. Die Aufnahmegaue für Berlin waren die Mark Brandenburg, Ostpreußen und der Warthegau, dorthin hatte es die Martens-Kinder verschlagen. Die Familie hatte Geld, sogar ein Hausmädchen lebte bei ihnen. Und nicht selten hörte man jemanden auf ihrem Blüthner-Flügel spielen.