Kleine Frau im Mond

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Hinter ihr führten Frau Winkler und Herr Kämmerlin die Unterhaltung flüsternd fort. Die kannten sich hier alle seit Ewigkeiten, während ihr Vater und sie erst vor einem Jahr in die Fasanenstraße gezogen waren.

Sie passierte im zweiten Stock die Wohnung des alten Professors Hübner, der dort mit der erst 22-jährigen Lenore Carius lebte, einer Bibliothekarin. Und so, wie man sich eine Bibliothekarin vorstellte, war sie auch: spröde, unfreundlich, altmodisch und monoton gekleidet. Auch der Professor wurde seinem Stand gerecht: Zerstreut, mit einer dicken Brille versehen, glatt fallendes Haar in einem Topfschnitt geschnitten und eigenwillig, da er sich permanent weigerte, bei Alarm den Keller aufzusuchen.

Die Wohnung in der Mitte des Hauses stand leer, schon seit sie hier wohnten. Warum, wusste niemand. Man sprach nicht über die Mieter. Nicht einmal Gerüchte wurden weitergetragen. Vielleicht war es eine Familie im Auslandseinsatz, oder Geheimagenten, die ständig an wechselnden Orten arbeiteten. Als sie bei den Winklers im vierten Stock ankam, lief sie schneller. Die Alte stand zwar unten, aber Mara hatte es sich angewöhnt, hier schnell vorbeizuhuschen. Urplötzlich konnte sich nämlich die Tür öffnen und die olle Schrapnelle verwickelte sie in ein sinnloses Gespräch. Eine nervige Angewohnheit, sozusagen.

Nun schnaufte sie doch ein wenig. Vier Stockwerke musste sie klettern, dann war sie endlich oben. Auf dem Treppenabsatz der fünften Etage unter dem Dach angekommen hörte sie bereits Musik. Kirchenmusik. Unschlüssig blieb sie stehen. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihr Vater missgelaunt war oder traurig … nicht selten traf beides gleichzeitig zu.

Die Tür wurde von innen geöffnet und einen Spalt aufgezogen. Sie sah einen Schatten davon schlurfen und im Wohnzimmer verschwinden.

»Komm gefälligst rein. Du bist viel zu spät. Essen macht sich nicht von alleine!«, seine Stimme war schwer und lallte ein wenig. Kirchenmusik und keine Umarmung – dann musste Vater schlecht gelaunt und wohl auch angetrunken sein. Nach weiterem Alkohol- und Musikgenuss würde er irgendwann anfangen, lauthals mitzusingen.

»Ich mache sofort Reibekuchen«, rief Mara mit aufgesetzter guter Laune. Bloß es jetzt nicht verschlimmern. Sie ging erst gar nicht in ihr Zimmer. Zog lediglich die Uniformjacke aus und hängte sie an die Garderobe, bevor sie die Schuhe abstreifte. Ihre Tasche lehnte sie an die Wand und betrat die Küche. Ein leiser Seufzer entfuhr ihr. Es sah aus wie gestern. Natürlich sah es das. Wer sollte aufräumen, wenn sie es nicht täte?

Sie setzte den Herd unter Feuer und schnitt ein kleines Eckchen Butter in eine Pfanne. Das musste reichen. Kartoffelbrei hatte sie noch vom letzten Abend. Der wäre brauchbar. Ihr Vater mochte Reibekuchen, das war schön, denn die waren leicht herzustellen und es ging schnell. Leider stank danach alles nach Fett, aber sie hielt die Tür zu ihrem Zimmer immer geschlossen und dahin würde sie sich alsbald zurückziehen.

Kurze Zeit später brutzelte es in der Pfanne. Ihr Vater rief irgendwas, viel zu laut. Das war typisch. Wenn er getrunken hatte und Musik hörte, saß er in seinem dicken Sessel und konnte die Lautstärke seiner Stimme nicht mehr einschätzen. Er lallte nicht nur, sondern lallte brüllend – oder umgekehrt. Gleichmütig ertrug sie es, denn es ging keine weitere Gefahr von ihm aus. Soeben lancierte sie die Plinsen aus der Pfanne auf einen Teller, als die Küchentür aufgestoßen wurde.

»Hast du es nicht mehr nötig, mir zu antworten?«, keifte er, sich am Türpfosten festhaltend.

Sie schichtete die fettigen Scheiben säuberlich auf einen Stapel und hielt ihm den Teller hin.

»Hier. Lass es dir schmecken. Ich habe dich nicht gehört. Das Fett spritzt und knistert.«

Ohne ein Wort nahm er das Essen und ging wieder zurück in das Wohnzimmer. Mara balancierte den zweiten Teller und folgte ihm.

Die gute Stube war nur so groß, wie es ein kleines Refugium unter dem Dach zuließ. Ein schmales Wandregal, ein Tisch, vier Stühle, ein Sofa, der Volksempfänger und das alte Grammophon. Die anderen Wohnungen im Haus waren geräumiger, bis auf die vom Butzke ganz unten, die dürfte wegen des Hausflurs ebenso winzig sein. Aber er hatte ja die Werkstatt nebenan.

Die Musik war verstummt. Die Nadel lag noch auf dem Plattenteller, der aufgezogene Motor war schlicht abgelaufen und ihr Vater hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Getriebe wieder aufzuziehen. Dann muss er die letzten Minuten das Geleier einer ständig langsamer laufenden Platte ertragen haben. Schrecklich.

Er brummte anerkennend, als er hungrig die ersten drei Reibekuchen fast gleichzeitig verschlang. Mara aß nur einen, den sie sich selber genommen hatte. Während sie an diesem mümmelte, vertilgte ihr Vater die anderen. Einen halben ließ er übrig und lehnte sich zurück. Er sah sie an, offenbar sanfter gestimmt. Sie hatte keinen Appetit mehr, aber aß trotzdem auf. Man durfte nichts verkommen lassen in diesen Tagen. Mit Bezugsscheinen einkaufen zu gehen bereitete schon nur wenig Freude. Da musste man erst recht Reste vermeiden.

»Das Fahrkartengeschäft macht dir keinen Spaß, wie?«, fragte er unvermittelt. Mara steckte sich das letzte Stück in den Mund und kaute langsamer. Wie meinte er das? Warum wollte er das wissen?

»Ich habe ein gutes Wort eingelegt für dich, damit du bei der Reichsbahn unterkommst. Das ist nicht leicht in diesen Zeiten.«

Sie schluckte und nickte. »Danke Paps.«

»Wenn du dankbar wärest, würdest du keinen Anlass zu Beschwerden geben.«

»Was? Ich … warum Beschw…«, weiter kam sie nicht.

»Herbert hat angerufen. Er sagt, du seist nicht bei der Sache. Würdest lesen am Arbeitsplatz anstatt dich nützlich zu machen.«

»Nützlich machen? Da ist …«, hob sie an, aber Vater fiel ihr ins Wort.

»Und du behandelst die Fahrgäste schlecht. Du ignorierst sie.«

»Paps, das ist nicht wahr. Es …«

»Leugne nicht«, wurde er lauter und bedrohlicher. »Herbert hat angerufen. Mich beinahe herbeizitiert. Paul Butzke rief mich runter zu seinem Apparat und hat alles mit angehört. Peinlich war das. Ausgerechnet. Ich habe mein gutes Wort für dich bei ihm eingelegt. Und du enttäuscht mich so. Als wir 1917 im Argonnerwald ganz alleine …«

Jetzt war es an ihr, ihn zu unterbrechen. Sie kannte die alten Kriegsgeschichten. Die ihres Vaters, die von Bahnhofsvorsteher Bommel – immer die gleichen. Sie unterschieden sich nur in der Anzahl der Feinde, die herangestürmt und von ihnen besiegt worden waren.

»Ich arbeite gut da, aber es passiert oft lange gar nichts. Und es ist auch nichts zu tun. Ich werde nicht noch die Gleise blank putzen.«

»Eine Frechheit«, fuhr ihr Vater hoch. »Du könntest dir wenigstens mal anhören, was Herbert …«

»Vorsteher Bommel, Paps. Er hört den ganzen Tag Musik und lässt sich nie blicken, außer um mal die Abfahrtspfeife zu blasen und bei der Einfahrt eines Zuges kurz dem Triebwagenführer zuzuwinken. Und sonst …«, sie wollte den Rest ungesagt lassen, aber ihr Vater war angriffslustig.

»Was ist sonst? Herbert hat viel Verantwortung, die auf seinen Schultern ruht. Innerhalb des Bahnhofsbereiches ist der Bahnhofsvorsteher auch gleichzeitig der örtliche Luftschutzleiter. Daneben ist er für alle Maßnahmen des Warn- und Meldedienstes, der Verdunkelung und des Feuerschutzes verantwortlich. Und für die Reisenden! Und …«

»Er kümmert sich aber mehr um sein doofes Grammophon und Frollein Hanisch als um seine Arbeit.«

Jetzt erhob er sich, leicht schwankend. Daher hielt er sich gebeugt an der Armlehne fest.

»Es steht dir nicht zu, seine privaten Angelegenheiten zu kommentieren. Er hat sich für das Vaterland verdient gemacht und wenn er auf seine alten Tage … junges Blut …«, mehr sagte er nicht, die Worte fehlten ihm. Aber sie hatte genug, nahm Besteck und Teller und trug sie in die Küche, um abzuwaschen.

»Ich möchte, dass du dich am Montag bei ihm entschuldigst und dass das nicht mehr vorkommt«, rief er von hinten. Das Plumpsen und Knarren von Sprungfedern verriet, dass er wieder in den Sessel gefallen war.

»Ich habe dich auch lieb, Paps«, sagte sie halblaut vor sich hin, erledigte den Abwasch und ging für den Rest des Abends auf ihr Zimmer. Ob sie sich rechtfertigen würde, war überhaupt nicht raus. Nun freute sie sich erst einmal auf das Wochenmagazin vom Darburg und den Artikel über die Sternwarte. Damit würde sie genüsslich die Zeit verbringen. Und vielleicht noch eines der alten amerikanischen Hefte durchblättern, die sie sorgfältig hinter dem Kleiderschrank versteckt hatte. Ihr Vater brauchte von deren Existenz nichts zu wissen, er verstand die Sprache ohnehin nicht.

Irgendwann dudelte die Musik im Wohnzimmer wieder durch den Flur. Nachdem sie den Artikel über die Sternwarte Treptow dreimal gelesen hatte, schlief sie zufrieden und mit einem träumerischen Gesichtsausdruck ein.

Fräulein Mara ist nicht bei der Sache

Montag, 6. März 1944

»Ist es sicher, dass ich dann auch wirklich vom Zoo aus nach Hamburg weiterkomme? Meine letzte Bahnfahrt war alles andere als erholsam.«

Verständnislos und stumm sah Mara den eleganten Herrn an, der die S-Bahn-Fahrkarte in der Hand hielt, aber noch immer vor ihrem Fensterchen stand. Sie hatte ihm nun schon zweimal gesagt, dass der Fahrplan kriegsbedingten Einschränkungen ausgesetzt sei. Was sollte sie sonst tun?

»Erst Ende November habe ich einen kleinen Weltuntergang überlebt, Frollein. Ich komme von Stettin und kurz nach 20 Uhr verlöschen die Lichter, der Zug hält und jemand ruft Luftgefahr. Dann bleibt er einfach auf offener Strecke stehen. Wir hören Geschützfeuer und in Richtung Berlin wird es hell.«

 

Mara nickte nur. Das widerfuhr vielen, es war kein Einzelfall.

»Erst nach einer Stunde geht es weiter. Um 22 Uhr sind wir in Angermünde, um 23 Uhr in Eberswalde. Angeblich ist die Strecke beschädigt. Erst um ein Uhr in der Früh sind wir in Bernau, dann müssen wir mit der S-Bahn weiter, weil der Stettiner Bahnhof angeblich unbenutzbar ist. Die S-Bahn ist aber viel zu klein für die Reisenden und ihr Gepäck, verdammt nochmal. Um 2.15 Uhr, oh, ich weiß es noch ganz genau, wirft man uns dann auch noch in Pankow-Schönhausen raus. Den Rest des Wegs müssen wir uns selbst durchschlagen. Mit Dackel und Weihnachtspute durch Qualm und Zerstörungen. Nennen Sie das etwa Bahnverkehr?«

Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Sie wusste nichts zu erwidern. Den Gedanken, ihn auf die Kriegslage hinzuweisen, verwarf sie. Stattdessen zeigte sie nur stumm auf die Bahnhofsuhr hinter ihm und er verstand. Endlich ging er von dannen, nicht ohne ihr einen letzten wütenden Blick zuzuwerfen.

Das Wochenende war ereignislos verflogen. Vater hatte Dienst in seinem Stellwerk außerhalb von Lichterfelde geschoben und war immer erst spät heimgekommen.

Sie hingegen schmökerte weiter in dem Wochenmagazin und in ihren Weltraumbüchern und war am Sonntag voller Neugierde nach Treptow gefahren, um sich die Sternwarte anzusehen. Die hatte sie auch schon in einem Kulturfilm erlebt, Die Himmelsleiter. Und sie war nicht enttäuscht worden. Die Bilder der Sterne, die man zu sehen bekam, waren fantastisch. Der Mond in allen Größen, so nah und dicht … sie wollte bald wieder hinfahren. Nur die Würmer von Samoa hatte sie nicht zu Gesicht bekommen. Wie eigentlich immer war sie alleine dort gewesen. Ihre gleichaltrigen Klassenkameradinnen von der Schule waren wer-weiß-wo gelandet. Evakuiert, oder sie verdingten sich als Blitzmädels bei irgendwelchen Truppenteilen.

Isolde hatte sie einmal getroffen, das lag Monate zurück. Die war groß, blauäugig und trug ihre Haare in einem dicken blonden Zopf. Ein Mädchen wie aus dem rassehygienischen Lehrbuch. Auf Drängen einer Lehrerin war sie im Bund Deutscher Mädel Führerin einer BDM-Mädchengruppe geworden, weil keiner sonst das machen wollte. Dabei hielt sie absolut nichts vom Führer und lachte über die Parteideppen, die ihr wegen Isoldes Aussehens nach der Pfeife tanzten. Gemeinsam hatten sie 1943 ihre Schule beendet. Mara brauchte ein Jahr länger als üblich. Der Tod ihrer Mutter schon 1937 hatte vieles durcheinandergebracht und sie musste eine Klasse wiederholen.

Sie vermisste die Freundin. Die hatte ihr ein ums andere Mal Bescheinigungen ausgestellt, wenn sie nicht zu den BDM-Treffen kommen wollte. Irgendwann waren keine Einladungen und Aufforderungen mehr gekommen und von selbst würde Mara sich da sicher nicht melden.

Aber auch alleine hatte sie in Treptow ihren Spaß gehabt. Für die Sterne interessierten sich andere sowieso nicht. Wie es der Artikel angekündigt hatte, war das Fernrohr besonders eindrucksvoll. Einem großen Geschütz gleich ragte es schräg aus dem Gebäude heraus, als wolle es höchstselbst eine Himmelsleiter bis in die Sternenwelt hinein ausfahren.

Mit diesen Gedanken war sie heute früh aufgestanden und zur Arbeit gefahren und sie hatten sie nicht losgelassen, bis jetzt.

Die Zeiger der Uhr in der Vorhalle standen exakt auf zehn Uhr. Um diese Zeit fuhren weniger Menschen als sonst, so dass sie meistens ungestört ihr Frühstück genießen durfte.

Im Halbdunkel der Küche hatte sie sich zuhause eine Stulle geschmiert, aber nur eine kleine. Sie wollte Vater etwas übriglassen. Mit ihren Brotmarken würde sie auf dem Rückweg frisches Brot holen. Die Lebensmittel wurden immer schlechter. Manchmal gab es keine Butter, oft nicht einmal Eier oder Mehl. Jedes Mal, wenn sie nach etwas fragte, was es nicht gab, schnauzte der Kaufmann am Hohenzollerndamm sie an: »Jetzt lassen Sie es gut sein, Fräulein. Wollen Sie etwas kaufen oder sind Sie auf eine politische Diskussion aus?«

Und dann bot er immer die gleiche Sorte Dr. Oetker Pudding an. Wie ein Werbemännchen. Der sei ja wirklich sehr gut. Mara lehnte stets ab. Sie hatte das Gefühl, dass er das absichtlich machte. Wollte er ihr irgendwas zu verstehen geben? Dass die Politik verantwortlich sei?

Vater hatte mal wieder Mittagsschicht. Die Wochenarbeitszeit war wegen des Krieges erst neulich abermals heraufgesetzt worden. Zweiundsiebzig Stunden für jeden Erwachsenen, zur selben Zeit hatte man die Lebensmittelzuteilungen gekürzt. So gut es ging, verdrängte sie den Gedanken und kaute mit kleinen Bissen, damit sie nicht sofort fertig wäre und bald erneut Hunger verspürte.

Dann schaute sie unschlüssig vor sich hin. Das bunte gläserne Rund der Hallenkuppel schwebte stumm da oben. Sie blinzelte, in der Ferne hupte ein Autobus, ansonsten war es ruhig.

Ihre Finger strichen über die Kante der hölzernen Tischoberfläche, blätterten in den Fahrbilletts. Die Stille war ungewohnt. Sie hatte Vorsteher Bommel bisher gar nicht gesehen und sie vernahm auch keine Musik. Oder doch! Stimmengemurmel drang von gegenüber aus seinem Büro. Jemand sprach. Sie war alleine und außer dem Chef dürfte und sollte niemand … etwa Fräulein Hanisch?

Neugierig schlich sie aus ihrem Kabuff und in die Halle hinein. Heute war es milder als am vergangenen Freitag, aber immer noch nicht warm. Die kühle Luft zog langsam vom Vorplatz durch zu den Gleisen. Sie sah sich um. Sie hatte ja nichts Verbotenes vor, trotzdem war ihr seltsam zumute.

Vorsichtig ging sie mit kleinen Schritten auf die Tür des Büros des Bahnhofsvorstehers zu. Daneben hing groß und weithin sichtbar der Fahrplan.

Das Gemurmel wurde vernehmbarer, aber sie verstand nichts, daher trat sie näher heran. Herr Bommel telefonierte offenbar und der Klang seiner Worte verriet, dass das Gespräch sich dem Ende näherte. Hastig tippelte sie leise zurück zu ihrem Fahrkartenschalter, doch bevor sie den Verschlag erreichte, hörte sie seine sonore Stimme nach ihr rufen.

»Fräulein Prager, was machen Sie denn abseits des Arbeitsplatzes?«

Sie drehte sich um und schenkte ihm ein herzliches Lächeln.

»Ich habe mir die Beine vertreten. Es sind ja keine Fahrgäste da.« Sie wollte den Türgriff greifen, aber Vorsteher Bommel war noch nicht fertig.

»Bleiben Sie mal stehen, hier. Dann muss ich Ihnen nicht hinterherlaufen. Dass keine Fahrgäste da sind, heißt ja nicht, dass Sie Ihren Arbeitsplatz verlassen sollen oder können.«

Sie sah bezaubernd aus in ihrer eng geschnittenen Uniform. Ihre dichten roten Haare quollen unter der Dienstmütze hervor und fielen schwer über die Schultern auf die Brust und den Rücken. Ihr bleiches Herzchengesicht lächelte, aber die hellbraunen Augen zeigten ein wenig Sorge. Worauf wollte er hinaus?

Er drehte sich um und schaute hoch zu der Bahnhofsuhr. Er nickte.

»Kommen Sie mal, wir unterhalten uns.«

Schuldbewusst trottete Mara hinüber zu ihm und folgte in sein Büro. Der große Volksempfänger, der sonst permanent Musik dudelte, wenn nicht das Grammophon spielte, war stumm. Sie bekam Angst. Hatte er bemerkt, dass sie ihm nachspioniert hatte und lauschen wollte? Er konnte das unmöglich spitz gekriegt haben.

»Lassen Sie die Tür mal offen, dann sehen wir, ob jemand kommt. Sie haben den Fahrkartenschalter ja nicht abgeschlossen, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. Natürlich nicht, sie sollte ja augenblicklich zu ihm kommen.

Vorsteher Bommel ließ sich hinter seinen Schreibtisch plumpsen. Sein rechtes Bein war ein wenig steif geblieben nach einer Schrapnellverletzung im Krieg. So fiel ihm das Hinsetzen und Aufstehen immer schwer.

Das Mädchen setzte sich zögerlich auf einen schlichten Holzstuhl, mit dem Rücken zum Ausgang. Dann faltete sie die Hände im Schoß und sah betreten zu Boden. Er hatte sie bislang nie zu sich gebeten. Das konnte einfach kein gutes Zeichen sein.

»Wie gefällt es Ihnen bei uns, Mara?«

Sie zuckte mit den Schultern und nuschelte. »Gut!«

Ohne abzuwarten fuhr er fort. »Mir fällt auf, dass Sie nicht mit den Gedanken bei der Sache sind. Unsere Arbeit hier ist kriegswichtig. Jeder Volksgenosse muss an seinem Platz sein und seine Arbeit tun. Wenn wir uns aufgeben, gibt sich bald die Heimat auf und wer soll dann die Front stützen?«

Sie sagte nichts. Verunsichert knetete sie ihre Finger zwischen den Knien.

»Ihre Arbeit ist nicht schwer, was hindert Sie denn, Leistung zu bringen?«

Mara atmete ein und aus, als wollte sie etwas sagen. Doch sie blieb stumm.

»Wollen Sie sich nicht äußern? Das ist ein dienstliches Gespräch, Fräulein Prager.«

Sie fasste sich ein Herz. »Es ist nicht …«

»Ja?«

Sie schnaufte. »Es ist nicht, dass die Arbeit zu schwer ist. Es ist gut hier. Sie sind gut zu mir. Es ist ...«, ihre Blicke huschten hin und her. Sie hatte selbst nicht darüber nachgedacht, und doch lag ihr die Antwort auf einmal geschliffen auf der Zunge. »Die Arbeit ist zu einfach. Ich kann mehr. Ich denke, ich kann schreiben. Ich will schreiben. Hier reiße ich Billetts ab und kassiere Geld. Alles trage ich in Listen ein, die Sie abheften. Wir sind ein kleiner Bahnhof.« Eine Pause trat ein. Sie hatte das Gefühl, als habe sie gesagt, was zu sagen war. »Ich kann einfach mehr«, wiederholte sie leiser. »Sogar Englisch«, flüsterte sie. Dann sah sie wieder zu Boden. Zu ihrer Überraschung sagte Vorsteher Bommel nichts, sondern reichte ihr etwas. Sie hob den Blick und musterte das Papier. Er wedelte ein wenig damit. Sie zog es aus seiner Hand.

»Was …«, wollte sie fragen, doch er kam ihr zuvor.

»Eine Abfrage der Wehrmacht an die Reichsbahnverwaltung. Wir sollen Personal melden, das abkömmlich ist und in der Wehrverwaltung dortige Soldaten ersetzen kann, die für den Fronteinsatz vorgesehen sind.«

Augenblicklich schlich sich Sorge in ihr Gesicht. »Abkömmlich? Ich soll zur Wehrmacht?« Sein Blick löste sich von ihr. »Einen kleinen Moment!«, rief er plötzlich über sie hinweg. »Es kommt gleich jemand.« Dann sprach er wieder leiser. »Die Wehrmacht sucht Personal für die Verwaltung. Keine Soldaten. Ich habe mit Bruno gesprochen. Dein Vater sorgt sich um dich«, kümmerte er sich. »Die Wehrmachtauskunftstelle sucht eine Bürohelferin, eine Schreibkraft. Das hat nichts mit dem Militär zu tun. Es gibt eine Dienststelle in der Hohenstaufenstraße, das ist bei euch in der Nähe. Du könntest dort hinlaufen.«

»Und was soll ich da machen? Kündigen Sie mir etwa, Herr Bommel?«

Er schüttelte den Kopf und rief, diesmal etwas genervter, wieder in Richtung eines schnaufenden alten Mannes mit gelbem Gesicht, der ungeduldig auf das Ende ihres Gespräches wartete und in das Büro starrte: »Jetzt halten Sie sich nicht dran. Es kommt gleich jemand. Die Bahnen fahren alle zehn Minuten. Sie werden den Zug nicht verpassen!«

Mara staunte über diesen Ton. Sonst warf er ihr ja vor, sich nicht ausreichend um die Fahrgäste zu bemühen. Dann wurde er wieder förmlicher.

»Was Sie dort tun sollen, müssen Sie erfragen. Die Auskunftsstelle erfasst militärische Verluste, erstellt Vermisstenmeldungen, informiert Angehörige und übermittelt Stammdaten über ausländische Kriegsgefangene an das Rote Kreuz. Vielleicht ist das keine fröhliche Arbeit für ein junges Mädchen wie Sie, aber es ist bestimmt interessanter als hier. Ich habe mit denen telefoniert. Ich kenne jemanden bei der Wehrmacht, der wieder jemanden kennt in der Auskunftsstelle. Die haben einen Platz frei und Sie können sich morgen vorstellen. Keine Sorge. Ich kündige Ihnen nicht. Ich gebe Ihnen Sonderurlaub und stelle Sie nur frei. Sagen Sie mir, wie es Ihnen gefällt und falls nicht, kommen Sie zurück. Fräulein Hanisch hat Interesse, mehr zu arbeiten. Sie kann Ihre Schichten mit übernehmen.«

»Aber das geht nicht, dann ist sie doch den ganzen Tag hier«, stieß Mara hervor. »Soviel darf man nicht arbeiten!«

»Ja und?«, feixte der Vorsteher. »Das bin ich auch und mir hat es nicht geschadet. Stellen Sie sich morgen dort vor. Fräulein Hanisch weiß Bescheid, sie macht die Doppelschicht gerne. Sie sollen um 9 Uhr in der Hohenstaufenstraße 47/48 vorsprechen. Melden Sie sich bei Kriegsverwaltungsrat Schülke.«

Mara verstand. Sie murmelte diesen Namen vor sich hin und stand langsam auf, damit die Fahrgäste nicht länger auf die Billetts warten mussten. Hastig durchdachte sie das Angebot. Es schien, als könne sie nur gewinnen. Falls es interessant wäre, lernte sie eine vollkommen neue Tätigkeit kennen. Wenn nicht, würde sie mit dem weitermachen, was sie bis jetzt gemacht hatte.

»Und mein Dienstverhältnis?«

 

»Bleibt bestehen. Das sagte ich ja. Die Reichsbahn leiht Sie aus. Selbst die Personalfahrkarte bleibt gültig.«

Sie lächelte. Das war ihr wichtig. Erleichtert lief sie durch die Halle zu ihrem Schalter, vor dem außer dem gelblichen Mann jetzt zwei Frauen mittleren Alters warteten. Schnell stellte sie ihnen die Fahrscheine aus, dann hatte sie wieder Zeit und Ruhe, um nachzudenken.

Jeder könnte Karten abreißen, dachte sie, dafür brauchte man sie nicht. Sie wollte ja nicht undankbar sein. Eine Arbeitsstelle bei der Reichsbahn auf einem langweiligen Bahnhof im Südwesten Berlins – es war 1944! Viele Menschen würden ihr Schicksal in einem Rüstungsbetrieb oder an der Front liebend gerne mit ihr eintauschen. Das war ihr schon klar. Wenn sie bloß nicht das Gefühl hätte, dass sie hier langsam dumpfsinnig würde.

Aus dem Büro von Vorsteher Bommel drang wieder leise Musik. Eigentlich war es sehr nett von ihm, so mit ihr zu sprechen. Anscheinend müsste sie auch ihrem Vater dankbar sein.

Plötzlich wurde ihr eiskalt vor Schreck. Sie hatte Herrn Darburg heute früh Die Woche zurückgeben wollen, damit er sie verkaufen könnte, denn am Mittwoch käme ja schon die neue Ausgabe. Das war ihr vollkommen durchgegangen. Wenn sie morgen zur Wehrmachtauskunfstelle ginge, würde sie keine Zeit haben, am Bahnhof Zoo vorbeizuschauen. Das war ein Umweg. Die Hohenstaufenstraße lag südöstlich der Fasanenstraße, zehn bis fünfzehn Minuten Fußweg entfernt. Der Zoobahnhof jedoch nordöstlich, ebenso weit. Sie musste es daher heute tun und durfte es nicht vergessen. Sicher würde Herr Darburg nichts sagen, aber es gehörte sich nicht, es zu spät zurückzugeben.

Sie nahm das Heft heraus und legte es säuberlich nach oben in ihre Tasche, damit sie es sähe, wann immer sie sie öffnete. Dann trommelte sie ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Veränderungen machten sie neugierig und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihr die Idee, Neues kennenzulernen, eine andere Arbeit zu tun. Letzten Endes – zurück konnte sie jederzeit, hatte Vorsteher Bommel gesagt. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wo sie bald tätig sein würde.

Um 12.43 Uhr heulten die Sirenen und hörten bis vor kurz nach 14 Uhr nicht auf. Was genau los war, wusste sie nicht. Erst am späten Nachmittag erfuhr sie, dass einige hundert Flugzeuge nicht nur Flugblätter über Berlin, sondern erstmals auch mitten am Tage Bomben geworfen hatten.