Kleine Frau im Mond

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»Ich musste länger arbeiten. Es sind wichtige Dinge fertigzuschreiben. Berlin wurde angegriffen, falls du das nicht gemerkt hast«, nahm sie ihren Mut zusammen und keifte zurück. Der Tag war hart genug gewesen und jetzt das!

»Täglich wird Berlin angegriffen und doch kommst du sonst nicht zu spät. Mit wem sprichst du und mit wem treibst du dich rum?«

»Mit absolut niemandem!«, rief sie verletzt und ging in ihr Zimmer, doch ihr Vater war nicht fertig.

»Die Stelle am Fahrkartenschalter ist ehrbar. Ohne mich hättest du sie nicht bekommen und so dankst du es mir. Bei der ersten Gelegenheit suchst du dir etwas anderes. Wenn Herbert und ich …«

»Ich kenne die Geschichten von dir und Herrn Bommel. Nur ihr zwei gegen die Franzosen im Argonnerwald …«

»Wage es ja nicht, Witze darüber zu machen. Was Vaterlandsliebe und Einsatz von Leib und Leben angeht, davon hast du ja noch gar nichts gelernt.«

Drohend stand er in der Tür. Ihr Zimmer war klein, die Dachschrägen taten das Übrige. Sie fühlte sich nicht bedroht, aber bedrängt und konnte sich kaum bewegen. Beleidigt aufs Bett zu fallen war ihr zu nahe an kitschigen Heftromanen, die es überall gab und die sie bislang verabscheut hatte zu lesen.

»Ich will etwas Sinnvolles tun, Vater. In der Fahrkartenstelle … Ich reiße Papier ab. Lass es mich in der Wehrmachtauskunftstelle versuchen. Herr Bommel sagt, ich könnte jederzeit wiederkommen. Dort tue ich etwas Sinnvolles.«

Sie setzte sich auf ihr Bett und zog eines der Bücher heran, in denen sie las. Meistens schmökerte sie in mehreren gleichzeitig.

»Sinnvoll? Sinnvoll wie das da?« Er zeigte auf den Einband. »Hör auf zu träumen, Mara. Komm mal im Leben an. Das ist ernster als deine Schundromane und Zukunftsgeschichten. Du und deine Phantastereien …« Ehe sie es näher an sich heranziehen konnte, sprang er darauf zu, griff es und hebelte mit einer Handbewegung ihr Fenster auf, um es im hohen Bogen auf die Straße hinunter zu werfen.

»Raaagh. Was tust du da«, schrie sie wie von Sinnen. Jetzt fühlte sie sich verletzt, zutiefst angegriffen in ihrer Seele und ihrer Leidenschaft. Das war eines ihrer wichtigsten Bücher, ihrer liebsten Bücher. Eines, das sie geistig beflügelte und beruhigte.

Vor Wut stockte die Stimme, Tränen schossen über ihr Gesicht und sie gurgelte mehr, als dass sie sprach.

»Das war …«, schrie sie und stürmte an ihm vorbei in den Flur und auf die Haustür zu. »Das war dein Buch. Dein Buch!!!!! Das Oberth-Buch!« Sie riss die Wohnungstür auf und rannte die Treppe herunter, vorüber an Frau Winkler, deren faltiges Gesicht sich hastig zwischen ihre Türpfosten zurückzog, so dass Mara sie nicht bemerkte.

Eilig übersprang sie mehrere Stufen bis nach unten, vorbei an der dunkel liegenden Wohnung der Butzkes, in den Hausflur und durch die Haustür ins Freie. Die große hölzerne Jugendstiltür schlug gegen die Wand und der Glaseinsatz erzitterte, aber brach nicht. Ihre Augen waren voller Tränen, sie weinte nicht und schrie nicht, jedoch von allem. Vor allem durchwühlte sie das Gefühl, tief beschämt worden zu sein, in ihrem eigenen Zimmer durch den eigenen Vater, der zerstören wollte, was ihr Halt gab.

Sie lief auf die im Dunkeln liegende Fasanenstraße hinaus, was durch die hohen Bäume verschlimmert wurde. Wenige Straßenlaternen spendeten spärliches Licht. Die Verdunkelung galt ab Einbruch der Dunkelheit oder auf jeden Fall bei zu befürchtendem Alarm. Die Laternen konnten ohne Vorwarnung jederzeit abgeschaltet werden. Leise wimmernd wischte sie sich die Tränen aus den Augen und versuchte, das Buch zu finden. Fest richtete sie ihre Blicke auf den Boden und bemerkt den Mann nicht, der neben ihr herlief.

»Suchen Sie das, junge Dame?«

Als die Anwesenheit einer anderen Person endlich in ihr Bewusstsein drang, erschrak sie. Sie atmete schwer und hustete zwischendurch. Inmitten des Schleiers aus Tränen bemerkte sie eine Hand, die einen schwarzen Einband hielt, der nahezu vollständig von weißer Schrift bedeckt war. Sie rieb sich das Gesicht trocken. Die Rakete zu den Planetenräumen.

»Das ist meines!«, stammelte sie. Dann wanderte ihr Blick an der Gestalt hoch. Ein Mann in hellbrauner Lederjacke stand vor ihr. Um den Hals ein karierter Schal, das Gesicht spitz mit einer langen und leicht knolligen Nase. Eng stehende Augen unter einer von wuscheligen Haaren verdeckten Stirn. Er war nicht rasiert, aber er sah sie freundlich an.

»Da, habe ich gefunden.«

Ohne ein Wort zu sagen, entriss sie ihm das Buch und wandte sich um, zurück zum Haus. Sie presste es vor ihren Oberkörper, als sie langsam die Treppe hinauflief und sich dabei Schritt für Schritt beruhigte. In der vierten Etage fiel ihr hinter dem Milchglaseinsatz der Wohnungstür der Winklers ein Schatten auf, doch sie ignorierte die Alte.

Oben angekommen verweilte sie für einen Moment vor ihrer eigenen Tür. Die Beine zitterten und ihr Hals tat weh. Sie fühlte sich schwach. So viel wütende Emotion auf einmal hatte sie selten gespürt. Sie nahm sich ein Herz und betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Eigentlich wollte sie in ihr Zimmer gehen und dort den Rest des Abends bleiben, aber die vollkommene Stille wunderte sie. Zunächst sah sie in die Küche rechts, dann ins Wohnzimmer. Das Schlafzimmer ihres Vaters war dunkel. Langsam öffnete sie die Tür und hörte schwache Atemzüge.

»Paps?«, fragte sie leise. Und als sie keine Antwort bekam etwas lauter: »Paaps?«

»Es tut mir leid, Mara. Es tut mir so leid.«

Sie sagte nichts. Für einige lange Augenblicke hörten sich Vater und Tochter nur gegenseitig atmen.

»Ich liebe das Buch von Hermann Oberth!«, kam es leise aus dem Dunkeln. »Als ich jung war, wollte ich auch die Sternenräume bereisen, Mara. Ich habe es gekauft gleich als es herauskam. 1923.«

»Ich weiß, Paps.« Dann fügte sie hinzu: »Du hast mir auch aus dem Buch von Otto Willi Gail vorgelesen, als ich klein war.«

Im Dunkeln kicherte es leise. »Du hast das Raketenauto von Max Valier geliebt, Mara. Und den Raumschiffstart, der im Buch beschrieben wird. Den musste ich immer mit Geräuschen nachspielen.«

»Kommodore Hart sendet der Erde Grüße nach der Mondumrundung«, zitierte sie aus dem Gedächtnis und beide schwiegen zufrieden.

»Verzeih mir Mara«, wiederholte er.

»Ich verzeihe dir«, antwortete sie. »Natürlich tue ich das. Und ich nehme ernst, was du geleistet hast, Paps. Und immer noch leistest. Und deine Sorgen um mich.«

»Danke, Kind«, drang es aus dem Dunkel. »Ich weiß oft nicht weiter, Mara. Henni fehlt mir so.«

Sie räusperte sich. »Mir fehlt Mama auch.« Einen Moment dachte sie nach, dann zog sie seine Tür zu. »Gute Nacht, Paps.«

Sie löschte das Licht im Flur und hörte im Radio noch die Nachrichten. Die östlichen und südlichen Außenbezirke der Stadt waren getroffen worden, so wie sie es gleich heute Nachmittag in der Dienststelle erfahren hatte. Über Verluste lagen keine Informationen vor, aber die Zerstörungen sollten zahlreich sein. Außerdem meldetet der schwedische Rundfunk, dass seit Kriegsbeginn siebenundsechzig ausländische Kampfflugzeuge zur Landung gezwungen worden waren, da sie den Luftraum des Landes verletzt hatten, und in Wales waren Bergarbeiter in den Streik getreten. Teilnahmslos schaltete sie den Volksempfänger aus. Dann drehte sie das Buch von Hermann Oberth in den Händen. Auf der Rückseite, unten rechts, hatte es einen Schlag bekommen und dadurch war die Bindung ein wenig lädiert, aber ansonsten schien es intakt. Ein kleines Wunder, fand sie. Sie blätterte durch die Seiten und schloss immer wieder die Augen, bis sie merkte, dass sie einschlief. Den Band auf den Tisch legend ging sie Zähne putzen und dann zu Bett. Der Tag war ausgesprochen anstrengend gewesen und hatte leider turbulent geendet.

Als sie schon schlief, schlich ein Schatten zu ihrer angelehnten Zimmertür und schob sie leicht auf.

Ihr Vater beobachtete sie in dem spärlichen Licht, das durch einen Spalt in das Zimmer fiel, weil sie den Vorhang nicht richtig zugezogen hatte. Als er merkte, dass sie eingeschlafen war, ging auch er zu Bett. So hatte er es fast jede Nacht getan, seit Henni gestorben war.

Luftangriff: Wo steckt Manfred?

Donnerstag, 9. März 1944

Manfred war ihr bereits aufgefallen, noch bevor er die Nachodstraße erreicht hatte. Er kam heute die Prager Straße herauf, obwohl das doch für ihn ein Umweg sein musste. Genoss er die Einsamkeit der Straßen zu dieser frühen Morgenstunde oder legte er es darauf an, sie länger zu begleiten? Mara winkte, er schien überrascht, aber irgendetwas ließ sie spüren, dass er seine Überraschung nur spielte. Lächelnd wartete er auf sie, der Tag war noch gar nicht richtig angebrochen und das Dämmerlicht warf Schatten unter seine dicken Brillengläser.

»Guten Morgen«, grüßte sie ihn. Heute früh war sie mit leichten Bauchschmerzen aufgewacht. Spätfolgen der Aufregung gestern. Ihr Vater war da schon längst zur Frühschicht aufgebrochen.

Manfred nickte freundlich.

»Ich lese gerne die Weltraumromane von Otto Willi Gail«, sagte sie unvermittelt. »Und manchmal Hans Dominik. Früher habe ich Walther Kabel gelesen und mich sogar an Thea von Harbou versucht. Das war mir aber zu schräg. Gerade lese ich im Oberth.«

Manfred blieb stehen. Sie sah ihn überrascht an. »Du wolltest doch gestern wissen, ob ich lese. Ich lese Gail …«

»Das ist toll«, sagte er schnell, um die Wiederholung zu unterbrechen. »Ich hätte niemals geglaubt, dass du so etwas liest.«

»Was dachtest du denn? Liebesromane?«

Langsam schlenderten sie weiter und bogen in die Hohenstaufenstraße ein.

 

»Nein, weiß ich nicht. Ich hätte mit allem gerechnet, aber … Na, und ganz bestimmt nicht mit Oberth. Gail schon eher.«

»Weil Gail für das Volk schreibt?«

»Ja«, rief Manfred aus. »Natürlich. Das ist wichtig. Gerade die Weltraumbücher. Der Breslauer Raketenverein hat soviel getan dafür, dass man die Raketenluftfahrt ernst nimmt. Nicht nur die Visionäre.«

»Finde ich auch.«

»Aber du bist noch so jung. Wie …«

»Mein Vater. Er liest auch so etwas!«

»Dein Vater? Erstaunlich. Ist er in der Rüstung?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, bei der Bahn. So wie ich vorher. Er führt ein kleines Stellwerk in Lichterfelde, oder eher außerhalb. Auf dem platten Land. Ganz hübsch, umgeben von Birken. Und …«, sie hob wichtig ihren Zeigefinger, wie ihr Vater das gerne tat, »… seit ´42 mit einem Schutzraum unterkellert!«

»Oho«, sagte Manfred und warf seine Stirn in Falten. Mara konnte sich gut vorstellen, was dahinter vor sich ging. Wie kam ein kleiner Bahnbeamter dazu, über Weltraumphysik zu lesen? »Und deine Mutter?«

Maras Miene trübte sich ein. »Sie ist tot. Schon lange. Seit sieben Jahren.«

Er schwieg betroffen. Eigentlich wollte er mehr fragen, aber sie waren an der Dienststelle angelangt und er mochte ein solches Thema nicht anreißen und dann unvollendet lassen. Daher holte er Luft.

»Ich mag Jan Mayen. Die Geschichten des deutschen Abenteurers, der auf der ganzen Welt das Böse bekämpft.«

»Die Serie kenne ich auch. Aber die gibt es doch gar nicht mehr?!«, war sie verwundert.

»Stimmt, aber ich kenne einen Trödler am Schlesischen Bahnhof, der hat manchmal welche. Wenn man weiß, wie.« Er lachte.

Mara lachte zurück. »Ach, und du weißt wohl wie

Er grinste. »Er haust in einem der Kellerläden. Weißt du, einer von denen, zu denen man über enge Treppen hinabsteigen muss wie in ein Verlies.«

»Kenne ich. Also, nicht diesen Laden. Aber Läden wie diesen.«

»Ja, man muss immer warten, bis wenig los ist und dann bekommt man was man will. Oder man gibt eine Bestellung auf. Das mache ich seit ich ein Kind bin.«

»Das ist aber teuer, auf Bestellung. Oder?«

»Früher, als ich jung war, habe ich mit einem Hufeisenmagneten Münzen aus Lüftungsschächten gesammelt. Und wenn kein Magnet zur Hand war dann mit einer Stange, an die ich einen Löffel gebunden hatte.« Beide lachten.

Mara stellte sich das vor und hielt sich den Bauch. Die Leibschmerzen waren verschwunden, die Spannung hatte sich gelöst.

»Besonders gut sind auch die alten Hefte der Kolonial- oder der Erlebnisbücherei. Die sind seltener. Aber er tauscht sie im Verhältnis von 1:3 gegen Hefte aus der Kriegsbücherei der deutschen Jugend.«

»Ja, die sind doof«, pflichtete sie ihm bei, obwohl sie nur zwei Ausgaben davon gelesen hatte. Aber die waren weder spannend und erst recht nicht phantasievoll. Da boten die Kolonialgeschichten schon mehr Exotik.

Mittlerweile stiegen sie die enge Turmtreppe hinauf und kamen an ihren Büros an.

»Halt dich tapfer«, raunte er ihr zu und seine Augen zwinkerten freundlich hinter den Brillengläsern. »Und wenn du nicht weiter weißt, denke dir einen Vorwand aus, um rüberzukommen. Dann kannst du mich fragen. Die drei Grazien bei dir … ich werde nicht warm mit denen.«

»Ach wirklich. Man glaubt es kaum«, sagte Mara nur und spürte einen leichten Anflug von schlechter Laune bei dem Gedanken an ihre Bürogemeinschaft. Bis eben war es ihr gut gegangen.

Sie verabschiedeten sich und betraten ihre Büros.

Mara hängte ihren Mantel auf und setzte sich an ihre Remington. Auf ihrem Tisch lagen Dutzende von Listen, darauf ein handschriftlicher Vermerk: ›Heute!‹ Innerlich seufzte sie, aber der Blick auf die Remington heiterte sie fast wieder auf. Sie ging zu dem Formularschrank und zog die notwendigen Vorlagen heraus. Dann begann sie zu tippen. Mit der ersten Berührung der runden Tasten und dem mittlerweile vertrauten Druck des Randes gegen ihre Fingerkuppen wuchs das Gefühl, die Dinge bewältigen zu können und eigenverantwortlich zu sein.

Mara hatte den ganzen Vormittag über mit ihren Listen zu tun und keine Gelegenheit gehabt, überhaupt an eine Unterbrechung zu denken. Die drei Kolleginnen waren wortkarg wie immer und als sie wie auf ein geheimes Kommando hin aufstanden und den Raum verließen, wusste sie, dass die Pause angefangen hatte. Von Manfred hatte sie nichts gesehen. War er sehr beschäftigt? Oder hatte sie etwas gesagt, das er vielleicht missbilligte?

Sie zog den Formularbogen aus der Walze und passte auf, dass ihr die Durchschläge nicht verrutschten. Wegen dieses Malheurs hatte sie heute schon zweimal eine Liste neu abtippen müssen.

»Heil Hitler«, flog die Tür auf und die Schnatterer kam rein. Ein schneller Blick ging nach links und rechts, bemerkend, dass Mara arbeitete, während die anderen sich verdünnisiert hatten.

»Noch keine Pause, Fräulein Prager? Wenn Sie so gut wären, heute …«. Der Rest des Satzes blieb ungesagt und ging unter in dem anschwellenden Heulen der Luftschutzsirenen. Es war 12.45 Uhr. Sie rollte mit den Augen und winkte Mara nur aus dem Zimmer. Das Mädchen lief den Gang entlang und sah, dass Frau Schneiderer hinterherkam und jede Zimmertür öffnete, als könnten nicht alle die Sirene hören.

Wie schon gestern fand sich die Belegschaft im Keller zusammen und nahm schweigend Platz. Das Dröhnen der Bombermotoren wurde zunehmend lauter. Menschen tuschelten. Sie konnte mithören, dass man sich fragte, welche Stadtteile es diesmal treffen würde. Ein immer neues Ratespiel begann. Sie reckte den Hals, aber nirgends entdeckte sie Manfred. Die dumpfen Schläge aus Richtung der Flaktürme verdeutlichten, dass die Bomberpulks jetzt schon gefährlich nahe waren. Langsam erstarben die Gespräche. Frau Schneiderer saß schräg rechts von ihr, sie war als eine der Letzten reingekommen. Stabsfeldwebel Sauerland weiter links. Vielleicht war Manfred im Haus unterwegs und woanders untergekommen?

»Wissen Sie, wo Manfred ist?«

Ihre Nachbarin sah sie bloß an und zuckte die Schultern. »Obergefreiter Halber«, präzisierte Mara. »Verwaltung.«

»Natürlich kenne ich Manfred, aber ich habe keine Ahnung«, flüsterte die andere. Dann legte sie den Zeigefinger auf die Lippen und wies auf den Schriftzug an der gegenüberliegenden Wand: ›Nicht sprechen‹.

Sie nickte tonlos und folgte ihren Gedanken.

Ähnlich wie gestern grummelten die Motoren anhaltend über ihnen, aber diesmal hob ein dumpfes Grollen an, weit entfernt. Die Einschläge!

»Sie zielen nicht auf Mitte«, flüsterte ihre Nachbarin. Erneut nickte Mara. Da es sonst nichts zu tun gab, blickte sie die Reihen entlang. Kein Manfred. Nach einer langen Zeit verebbte das Dröhnen und fünfundzwanzig Minuten später, um 14.34 Uhr, gab es Entwarnung. Wieder ereignete sich das gleiche Spiel wie am Vortag. Überall im Haus schellten die Telefonapparate und Frau Schneiderer gab für ihren Gang abermals die Parole aus: »Nur dienstliche Telefonate!« Doch nicht jeder hielt sich daran. Verwandte riefen an und erfragten, ob die Hohenstaufenstraße getroffen sei, und Mitarbeiter erkundigten sich nach dem Verbleib ihrer Lieben.

Frau Schneiderer passte Mara vor ihrem Büro ab. »Was ich eben wollte, Fräulein Prager … ab Montag möchte ich Sie für die Benachrichtigung von Angehörigen einsetzen. Die Listen bleiben ihre Hauptaufgabe. Aber es gibt traurige Fälle, wo Angehörige von Volksgenossen keine ausführliche Würdigung des Kommandeurs des Gefallenen bekommen. In solchen Fällen schreiben wir einige Zeilen, die trösten sollen. Ich sage Ihnen dann noch einmal Bescheid. Aber bis dahin müssen Sie die Maschine gut beherrschen. Diese Briefe haben fehlerfrei zu sein und sie müssen trotzdem schnell erledigt werden. Alles klar? Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an die Kolleginnen oder den Obergefreiten Halber.« Sie betraten gemeinsam das Büro, die anderen nahmen keine Notiz, sondern taten beschäftigt.

Mara nickte. »Den habe ich eben während des Alarms nicht gesehen.« Fragend sah sie die Büroleiterin an. Die schritt zu dem Nachbarbüro, öffnete die Tür und sah hinein.

»Weiß jemand, wo Obergefreiter Halber ist?«

Mara hörte die Antwort nicht, aber erkannte Ratlosigkeit, als die Schnatterer die Tür wieder schloss. »Nein, er ist gleich zu Beginn der Mittagspause weg und seitdem nicht aufgetaucht. Er soll es eilig gehabt haben.« Schnellen Schrittes verließ sie das Büro.

»Was ist denn jetzt mit Manfred?«, lief sie ihr hinterher.

»Ich muss Meldung machen. Und Sie gehen zurück an Ihren Arbeitsplatz. Sofort!«

Sie fügte sich, das war keine Bitte gewesen. Manfred war Soldat der Wehrmachtsverwaltung. Wenn so jemand aus einer Pause nicht zurückkam, konnte das vieles bedeuten, insbesondere nach einem Luftangriff: Desertion, Sabotage, Unfall, Fahnenflucht, Tod …

Mit wachsender Unruhe setzte sie sich wieder hin und tippte weiter Listen ab, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Mit hochrotem Kopf und schweißnassen Haaren stand Manfred draußen und winkte sie zu sich. Unfreundlich sahen die anderen Frauen ihn an, aber sagten nichts. »Ist dienstlich«, nuschelte er in deren Richtung und Mara begab sich zu ihm auf den Gang. Vorsichtig schloss er die Tür.

»Hier«, reichte er ihr einen Umschlag. »Das habe ich dir mitgebracht.«

Überrascht und ein wenig argwöhnisch griff sie zu und zog ein Heft heraus.

»Jan Mayen, Nummer 96 Der grüne Tod«, las sie halblaut vor. »Manfred … wie …«

Doch er schüttelte den Kopf. »Erzähl ich dir später. Ich bin kurz nach Hause gelaufen, aber als ich zurück wollte begann der Alarm und dann saß ich fest.«

»Aber jetzt bist du hier!«, stieß Mara hervor. Und seine nassen Haare … er musste gerannt sein. Für sie?!

»Ja, jetzt bin ich hier. Aber noch was. Der Luftangriff war schwer, sehr schwer. Ich habe es von einem Luftschutzwart erfahren. Getroffen wurden Lichtenberg, Zehlendorf und … Lichterfelde. Lichterfelde besonders.« Maras Herz krampfte sich zusammen. Er holte tief Luft. »Lichterfelde, Mara. Ist da nicht das Stellwerk deines Vaters?«

»Ich … ich … glaube schon …«, ihre Gedanken rasten. Natürlich war Lichterfelde nicht gerade klein. Es wird ja nicht unbedingt ... In dieser Situation hätte sie kaum ihr Geburtsdatum aufsagen können. »Etwas außerhalb, aber wo genau …«

»Arbeite weiter. Alles wird gut werden. Ich versuche etwas in Erfahrung zu bringen, denn es sollen ganz besonders Transportwege angegriffen worden sein. Und Wohngebiete.«

»Nein«, hauchte sie und mit aufkeimender Panik dachte sie an gestern. Sollte ausgerechnet ein solcher Streit ihr letzter gemeinsamer Abend gewesen sein?

Manfred erkannte ihre bebende Unterlippe und rieb beschwichtigend ihren Oberarm. Sie schaute auf seine Finger auf dem dünnen Stoff ihrer Bluse. Sie waren warm und schlank.

»Ich muss weg!« Er löste sich.

Sie nickte und ging ebenfalls zurück in ihr Büro.

Zaghaft legte sie den Umschlag links neben die Schreibmaschine.

»Pausen sind für die Pausen da«, sagte eine der Kolleginnen zu den anderen, so spitz und ironisch, dass klar war, wen sie meinte.

Mara schluckte ihre Wut und ihre Angst herunter. Sie konnte sich vor Furcht um ihren Vater ohnehin nicht konzentrieren. Diese Ironie, diese unterschwellige Geringschätzung. Mara war so aufgewühlt, am liebsten hätte sie ihre Schreibmaschine nach denen geworfen, aber dafür war die gute Remington dann doch zu schade. Der Gedanke ließ sie sogar fast lächeln. Bis zum Dienstende hatte die Angst wieder vollends überhandgenommen. Manfred schien vor der Tür zu warten, sie rannte trotzdem, so schnell sie konnte, nach Hause. Die Nacht brach herein, als sie die Fasanenstraße erreichte. Es verblieben etwa einhundert Meter bis zur Hausnummer 59. Sie war immer schon flink, aber heute flog sie nahezu die Stufen des Treppenhauses hinauf, ihre Finger zitterten, als sie den Schlüssel in die Wohnungstür steckte und drehte und die kühle und dunkle Wohnung betrat.

»Papa?«, vorsichtig ging sie durch die Räume. Sie war alleine. »Paps?«, fragte sie trotzdem immer wieder. Die Wanduhr zeigte 18.19 Uhr. Mara fühlte sich verwirrt. Vater war schon fort gewesen heute früh, er hätte also um 14 Uhr Feierabend haben müssen, wenn er nicht länger arbeitete. Eigentlich machte er das nicht, ohne ihr vorher was zu sagen. Ihre Finger zitterten. Sie warf ihre Tasche auf ihr Bett und kehrte zurück ins Treppenhaus. Es war still, sie hörte nur ihren hektischen Atem. Dann lief sie ein Stockwerk tiefer und klingelte bei den Winklers. Trotzdem sie einen Schatten hinter der Tür schnell hatte verschwinden sehen, tat sich erst einmal nichts. Als wüsste nicht jeder, dass die alte Winkler bei Tag und Nacht lauerte und lauschte. Glaubte sie, man wäre blind und könnte nicht ihre Silhouette durch den ornamentverzierten Glaseinsatz sehen, auch wenn es Milchglas war? Mara klingelte erneut und sie sah jetzt einen Arm zu der Klinke greifen und die Tür aufziehen. Wortlos schaute die Nachbarin durch einen Spalt.

 

»Haben Sie meinen Vater gesehen, Frau Winkler?«

Die Alte musterte sie von oben bis unten. »Meinen Sie, er würde sich bei mir verstecken? Herr Winkler hätte sicher etwas dagegen.«

»Was? Nein!«, fast wollte es sie schütteln, doch sie riss sich zusammen. »Lichterfelde ist bombardiert worden und ich mache mir Sorgen.«

»Oh. Aha«, sagte die Alte nur. »Nein, er ist nicht hier.« Damit schloss sie die Tür wieder. Mara war entsetzt. Die hatte gar nicht zugehört. Sie musste weiter fragen.

Die Wohnung in der Dritten lag wie immer im Dunkeln, sie hatte dort noch niemals jemanden gesehen. In der zweiten Etage bei Professor Hübner brannte Licht und er öffnete höchstpersönlich die Tür und hörte sie an. Ehrliche Sorge trat auf sein Gesicht, doch er hatte keine Ahnung.

Den Ingenieur ließ sie aus, einen letzten Versuch wollte sie bei den Butzkes starten. Mildred Butzke öffnete, eine Frau kaum bestimmbaren Alters, wenig verwöhnt vom Leben und sich selbst, mit grauer Haut aber wohlgenährt. Sie sah das Mädchen, drehte sich nur um und rief augenblicklich nach ihrem Paul.

Hausmeister Butzke schlurfte heran und hörte ihr zu. »Ist er denn schon lange überfällig?«, fragte er.

»Ich weiß nicht genau, ich denke ja. Er hatte Frühdienst.«

Der Hausmeister grübelte und kratzte sich an der Stirn und zog die Nase hoch. »Dann sehe ich ihn meistens gegen 15 Uhr. Oder 16 Uhr, wenn er etwas besorgen musste.«

Im Hintergrund erkannte sie Heinz, der sich aus einem Türrahmen schob und sie mit blassen Augen anstarrte. Er regte sich nicht und sagte nichts, sondern starrte nur, den Mund leicht geöffnet. Der Hausmeister nickte ihm zu. »Es ist nicht der Werner, keine Sorge. Heinz, gesucht wird der Herr Prager. Möchtest du Mara bei der Suche helfen?«

Der Junge änderte seine Haltung nicht, aber sie bemerkte eine Regung in seinem Gesicht. Daher beeilte sie sich, abzulehnen.

»Danke, Herr Butzke. Das ist sehr nett. Ich werde oben warten.«

»Heinz könnte doch mit dir …«

Sie bemühte sich um ein fröhliches Lachen, aber hob trotzdem abwehrend die Hände. Sie wünschte einen guten Abend und ging wieder zurück. Im Gegenlicht der Beleuchtung in der Winkler‘schen Wohnung sah sie immer noch den Schatten einer Person hinter dem Glas. Oben angekommen stieß sie die Tür zu und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. In Zeitlupe schienen die Zeiger der Uhr vorzurücken.

Alles war still. Der Flur, das Treppenhaus, die Wohnung – ihre ganze Welt, beinahe lautlos. Das eigene tiefe Atmen war das Einzige, das sie hörte und dieses begann nun zu stocken. Ihre Augen füllten sich. Sie würde jeden Moment anfangen zu weinen.

Zufällig berührten ihre Finger die Tasche, die sie immer mit sich führte. Das Heft fiel ihr ein, das Manfred extra für sie besorgt hatte. Sie entnahm den Umschlag und zog es heraus. Eine Ausgabe Jan Mayen. Sie erinnerte sich an die Serie. Besonders gerne hatte sie sie bisher nicht gelesen, doch jetzt machte sie das Heft glücklich und schenkte ihr Ruhe. Sie blätterte es auf und las. Menschen in ganz Europa erkrankten an einer Seuche, die durch den Verzehr von Schweine- und Rindfleisch ausgelöst wurde. Was für ein hanebüchener Mumpitz, lächelte sie zaghaft. Aber so beruhigend unrealistisch.

Als sie das Geräusch hörte, ließ sie das Heft sinken. Zunächst war es nur eine Ahnung, dann warf sie es beiseite und rannte los.

»Auf Erden hier unten, im Himmel dort oben, den gütigen Vater, den wollen wir loben«, hallte es laut und falsch durch das Treppenhaus. Mara riss die Tür auf. Das war er! Wenn er betrunken war, grölte er oft Kirchenlieder, die er aus Schlesien kannte, aus seiner Kindheit.

»Ihr Sonnen und Monde, ihr funkelnden Sterne, ihr Räume des Alls in unendlicher Ferne …« – das Lied kannte sie. Sie hatte es immer geliebt. Sonne, All, unendliche Räume …

»Paps«, stieß sie heraus, aber ihr Vater torkelte nur vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Sie schloss die Tür, trotz allem von Herzen erleichtert, dass er wieder da war. Alkohol und Kirchenlieder, meistens gab es dann schnell Streit. Heute war ihr das gleichgültig.

Er wankte in sein Schlafzimmer und zog sich aus. Nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet fiel er ins Bett, zog sich die Decke über und rollte auf die Seite.

Das Mädchen verharrte einige Minuten im Türrahmen. Als sie dachte, er schliefe, löschte sie die Lichter in der Wohnung und wollte in ihr Zimmer gehen. Es war erst kurz vor acht, aber sie war jetzt beruhigt und hatte etwas zu lesen.

»Mara«, hörte sie seine Stimme, als sie wieder an seinem Schlafzimmer vorbeiging. Sprach er im Schlaf? Anscheinend nicht, denn er redete weiter.

»Mara, Lichterfelde wurde heute angegriffen. Ich konnte vom Stellwerk aus alles sehen.« Das klang zwar schwer benebelt und er lallte, aber die Struktur der Sätze war klar und deutlich. »Wie eine Wand aus Regen prügelte es auf den Süden Berlins ein. Ich war abgeschnitten und konnte erst mit einem Bautrupp der Reichsbahn wieder zurück in die Stadt. Ich habe Dinge gesehen …«. Seine Worte brachen ab. »Soviel Zerstörung. Im Krieg gegen die Franzosen …«, nochmals folgte eine längere Pause. Seine Stimme schien so klar, als wäre er stocknüchtern. »Das war Soldat gegen Soldat. Der andere war etwas schneller als Herbert, deswegen hat der jetzt ein Hinkebein. Aber hier, Mara … ganz normale Leute wohnen da. Ich habe sie nachher auf dem Rückweg gesehen, wie sie verrückt vor Angst aus den Trümmern krochen. Die Fenster in den Häusern eingedrückt, die Türen aus den Angeln gerissen … blockierten die Treppenaufgänge. Kein Strom, geplatzte Wasserleitungen. Wie sie Tote herauszerrten. Manche noch kleine Kinder …«, ein wimmerndes Schnaufen erklang. »Der Fernzug nach Leipzig stand mitten auf der Strecke durch Lichterfelde. Volltreffer.« Dann brabbelte er etwas, das klang wie »Henni«. Danach schnarchte er nur.

Beklommen ging sie in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie hielt das Jan Mayen-Heft auf dem Schoß, aber die Lust zum Lesen war ihr vergangen. Mehr Tod? Diesmal bloß in Grün? Danach stand nicht ihr Sinn.