Kleine Frau im Mond

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Olga Tschechowa inkognito

Freitag, 10. März 1944

Am Tag nach dem verheerenden Luftangriff auf den Süden Berlins brummte die Wehrmachtauskunftstelle wie ein Bienenstock. Selbst die Tagesmeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht, die täglich um 12 Uhr vom Rundfunk ausgestrahlt wurden, erwähnten ihn mit wenigen Worten. Mara und die anderen hatten kaum eine ruhige Minute. Ständig kamen neue Meldungen herein. Fernmündlich übermittelte Listen sollten getippt und versandt werden. Mehrmals musste sie selber in Thüringen anrufen, um Namen und Truppenteile zu überprüfen, weil die durchgegebenen Informationen offenkundig unvollständig oder Familiennamen falsch geschrieben waren. Pausen gab es heute keine. Die Schnatterer war kaum aus ihrem Büro herausgekommen. Stabsfeldwebel Sauerland hatte bei der Anfertigung von Listen für Saalfeld geholfen, die am Nachmittag per Boten abgeholt worden waren.

Mit Manfred hatte sie nur einige Blicke gewechselt. Nicht einmal einen guten Morgen hatten sie sich wünschen können. Er schien früher in die Dienststelle gegangen zu sein, vielleicht wollte er die Fehlzeit vom Vortag wettmachen, obwohl er ja durch den Angriff entschuldigt gewesen war.

Vater hatte sie gar nicht zu Gesicht bekommen. Das Stellwerk konnte gegenwärtig auf direktem Wege nicht erreicht werden, daher war er in den frühen Morgenstunden los, um rechtzeitig von einem Arbeitstrupp der Reichsbahn mitgenommen zu werden. Es war unklar, wann die Schicht enden und wie er dann heimkommen würde.

Es war abermals kurz nach 18 Uhr, als sie die Dienststelle verließ. Die Straßen waren leer, als seien die Menschen vorsorglich gar nicht erst aus der Wohnung gegangen. Den ganzen Tag war es ruhig geblieben. Keine Luftwarnung, kein Fliegeralarm.

Körperlich ermattet, aber geistig heftig nachdenkend schlurfte sie heim. Am Kriegerdenkmal an der Meierottostraße verweilte sie und sog langsam die Abendluft ein. Es fühlte sich wärmer an als gestern, einen Hauch nur, und sie hörte in den nahegelegenen Bäumen die Vögel zwitschern. Untrügliche Vorboten des lebenspendenden Frühlings, die den alltäglichen Gefahren Hohn sprachen.

Sie legte ihre Tasche neben sich und ließ die Handflächen auf dem kühlen Gestein des Denkmals ruhen, auf dem sie saß. Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, dass sie sie an einem gänzlich anderen Ort wieder öffnen würde. Sie saß nun auf den Stufen eines alten Tempels, vielleicht einer Pyramide, die Marsbewohner einst gebaut hatten. Vor sich ein dicht bewaldetes Hochtal, durch das sich ein Fluss schlängelte, blau glitzernd unter dem rötlichen Himmel des Mars. Dort gab es keine Vögel, aber zwitschernde Grashüpfer, die aus den Spalten des Gemäuers um sie herumsprangen und in das Gras eintauchten, das sich langsam über die alten Steinbauten ausbreitete. Die Marsianer hatten den Planeten längst verlassen und waren auf riesigen, gasgetriebenen Himmelsflügeln in die Weltenräume vorgestoßen, um auf der Erde eine neue Heimat zu finden. Dort nannte man sie fortan Mayas. Warum das geschehen war, wusste niemand mehr zu sagen, denn alle waren fort. Mara sinnierte ganz allein unter einem purpurroten Himmel. Immer tiefer sank sie in ihre Träume und entspannte sich – bis Hupen und rasselndes Dröhnen sie aufschreckte. Als sie die Augen aufriss, war sie von Dämmerung umgeben, die von einigen entfernten Straßenlaternen erhellt wurde. Sie musste eingenickt sein. Eine motorisierte Infanteriekolonne kam aus der Spichernstraße und enteilte nach Süden.

Seufzend erhob sie sich und griff ihre Tasche. Die Phantasie war vorüber und sie lockerte den Kragen ihres Mantels, unter dem sie schwitzte.

Den Rest des Weges lief sie schweigend. Alle Fenster in der Fasanenstraße schienen dunkel, vielfach waren die Vorhänge zugezogen. Niemand hatte Lust, aufgrund eines tatsächlichen oder nachgesagten Verstoßes gegen die Verdunkelungsvorschriften belangt zu werden. Im Flur von Haus Nummer 59 roch es nach Reibekuchen. Es mochten auch Bratkartoffeln sein. Die Tür der Butzkes stand offen, aus dem Hintergrund hörte man Gespräche, niemand war zu sehen. Die Wohnung der Martens darüber lag verwaist, beim Professor und der Bibliothekarin wie bei den Winklers brannte Licht, hier schien alles normal. Nicht einmal ein Schatten war hinter dem Milchglas auszumachen.

Vater war nicht da und, wie Mara gerade eben die Stille nach dem turbulenten Tag genossen hatte, drückte sie ihr nun unangenehm und belastend auf die Seele. Zu nah war ihr die Sorge von gestern Abend, denn was würde sie tun, falls er tatsächlich fortblieb? Und nicht mehr wiederkäme? Nicht auszudenken.

Im Radio hörte sie sich die neuesten Meldungen an, die für den Großraum Berlin heute keine Angriffe berichten mussten.

Sie hielt es in der Stille nur einige Minuten aus, zog sich den Mantel wieder über und beschloss, wenigstens bis 20 Uhr einmal die Fasanenstraße auf und ab zu gehen.

Ordentlich verschloss sie die Wohnung und schlich den Hausflur hinunter. Jetzt war die Tür der Butzkes geschlossen und als sie unter den Bäumen die ersten Schritte machte, fühlte sie sich viel freier als oben.

Zunächst wandte sie sich nach links und ging runter bis zur Pariser Straße. Dieser Weg erinnerte sie zu sehr an den Weg zur Dienststelle, also kehrte sie um und schlenderte bis hoch zum Fasanenplatz. Dort ließ sie den matter werdenden Abendhimmel auf sich wirken. Für einen Moment bemerkte sie eine Bewegung in einem der Büsche, ein großes Tier vielleicht. Eine fette Ratte? Sie entschied sich, dass ihr Bedarf an Aufregung für heute gedeckt war und ignorierte das Ereignis. Dann flanierte sie wieder zurück und wechselte auf die linke Straßenseite.

Sie hatte soeben Hausnummer 60 passiert und war aus dem Lichtkegel der Laterne getreten, als hinter ihr eine Haustür krachend ins Schloss fiel. Mara blieb erschrocken stehen und drehte sich um. Eine Dame stand auf dem Treppenabsatz und zündete sich eine Zigarette an. Prüfend schaute sie in den Himmel, dann zog sie seelenruhig ein Tuch aus ihrer Handtasche und entfaltete es, um es sich um den Kopf zu schlingen und unter dem Kinn leicht zusammenzubinden. Mara blieb stehen und sah die Frau an. Sie war auf eine aufregende Art schön. Dezent geschminkt, fein gezeichnete Augenbrauen und eine sehr gerade Nase prägten das Gesicht. Dazu ein apart geformter Mund, der hastig einen Zug aus der Zigarette nahm und genüsslich den Rauch entweichen ließ. Die Person wirkte wie in die Welt gefallen, sie passte nicht zur Fasanenstraße, aber es waren nicht ihr Kamelhaarmantel oder die hellbraunen Lederhandschuhe, die sie überstreifte. Die Sonnenbrille, die die Frau sich trotz der einbrechenden Nacht auf die Nase schob, bewirkte das Gegenteil von Schutz – sie fiel auf und Mara kannte sie irgendwoher. Die Dame im Mantel lief los und schritt in nördliche Richtung. Dorthin, wo das Mädchen soeben herkam. Einem Instinkt gehorchend folgte sie ihr.

Irgendetwas ließ sie vertraut wirken. Sie beobachtete ihre Art zu gehen und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, woher ihr die bekannt vorkam. Hier in der Fasanenstraße hatte sie sie ganz sicher nicht gesehen. Vielleicht an ihrem Fahrkartenschalter? Möglich, aber für gewöhnlich hinterließen die Reisenden keinen Eindruck, der ein Wiedererkennen ermöglichte. Doch diese Frau …

Als die Dame im Kamelhaarmantel in Höhe des alten knallroten Feuermelders auf dem Fasanenplatz für einen Moment stehenblieb, um im Licht einer Laterne die Uhrzeit zu prüfen, wusste sie es plötzlich: Das war eine Schauspielerin, Olga Tschechowa. Ganz sicher. Mara mochte sie gern und kannte viele ihrer Filme. Sie erwog, um ein Autogramm zu bitten, doch die Tschechowa war wieder losgelaufen, daher folgte sie ihr. Weiter ging es Richtung Norden, dann bog sie an der Bezirksverwaltung Wilmersdorf nach rechts in die Schaperstraße ein.

Dass sie hier einer der bekanntesten Schauspielerinnen des deutschen Films hinterherlief, erschien ihr unglaublich, sie hatte die Tschechowa erst vor Wochen in ›Reise in die Vergangenheit‹ gesehen. Vater hatte sie begleiten müssen, da der Streifen keine Jugendfreigabe erhalten hatte. Es ging um eine Frau, die ihre ehemaligen Liebhaber wieder aufsucht, um in Erfahrung zu bringen, was aus ihnen geworden wäre, und letztlich stellt sich heraus, dass sie und ihre Tochter denselben Mann lieben. Paps hatte den Film blöd gefunden. Mara fand ihn ebenfalls wenig abwechslungsreich. Alles plätscherte dahin und das Ende kam recht unvermittelt. Die Vertrautheit zwischen Mutter und Tochter, die gemeinsame Verbindung und das geteilte Interesse für einen Mann – das hatte sie berührt. Sie wollte ihn noch einmal sehen. Als Vater endlich einwilligte, lief er bereits nicht mehr und es war ungewiss, wann man ihn wieder zeigen würde.

Von der Schaperstraße aus ging es nach links auf die Joachimstaler Straße. Mara war aufgeregt. Lebte sie etwa in der Nähe? Das wäre … daran hatte sie ja nie gedacht. Natürlich, auch Schauspieler wohnten irgendwo. Zarah Leander auf Lönö in Schweden, die deutschen Stars mussten ja hier leben, unter ihnen, den normalen Menschen. Sie hatte davon gehört, dass manche große Häuser im Grunewald besaßen. Sicher nicht alle. Mara nahm sich vor, die Frau im dunkelbeigen Mantel da vorne nicht aus den Augen zu lassen und bemerkte deshalb nicht den Schatten, der wiederum ihr in weitem, aber gleichbleibendem Abstand folgte.

Auf einmal beschleunigte sich der Schritt der Tschechowa und sie eilte auf die andere Seite der Straße. Wollte sie der Menschenansammlung ausweichen, die voraus an der belebten Kreuzung stand, wo sich Kurfürstendamm und Joachimstaler kreuzten? Sehr geheimnisvoll. Weiter ging es nach Norden, direkt auf den Bahnhof Zoo zu. Dort herrschte um diese Uhrzeit reges Treiben. Sie beeilte sich, um aufzuschließen, denn man konnte leicht jemanden verlieren. Im Hintergrund wurde die riesige Signalschüssel des L-Turms der Flakbunkeranlage durch die Beleuchtung des Bahnhofs ein wenig angestrahlt und hob sich gegen den Nachthimmel deutlich ab. Oben bewegten sich Personen. Es kostete sie Mühe, den Blick abzuwenden.

 

Die Schauspielerin betrat die Halle, aber wandte sich nicht den Gleisen zu, sondern lief zum Zeitungsladen des alten Darburg.

Mara drückte sich an dem Obststand des dicken Kaufmanns Bramme mit seinem roten Gesicht herum und ignorierte die Fragen, ob sie was kaufen wolle. Sie sah, wie die Tschechowa und der Zeitungshändler sich unterhielten, aber sie blieb verdeckt, damit sie weiter folgen konnte.

»Glaub nur nicht, dass ich auf diesen alten Trick reinfalle, Früchtchen. Verschwinde besser sofort, wenn du nichts kaufen willst!«, giftete der Verkäufer und erst mit einiger Verzögerung merkte sie, dass er sie meinte.

Sie sah ihn kurz an und behielt den Laden im Blick, in dem sich die Schauspielerin und der Zeitungshändler unterhielten. »Ich warte hier nur!«

»Nichts tust du, und nimmt deinen Kumpan gleich mit. Los. Verschwinde.« Er schubste Mara und erst jetzt realisierte sie, dass er es ernst meinte. »Glaub nicht, dass ich so blöd bin nicht zu wissen, dass der Kleine da vorne gleich angerannt kommt und sich die Taschen vollstopft, während ich mich um dich kümmere. Also pack dich!«

Verwirrt und überrascht sah sie zunächst ihn an und dann in die Richtung, in die er wies. Dort stand der Butzke-Junge! Mitten vor dem Bahnhofseingang und glotzte.

»Heinz!«, entfuhr es ihr. »Was tust du hier?«

»Sag ich‘s doch, verschwindet bloß und lasst euch hier nicht mehr blicken.« Mit einem Satz sprang der dicke Mann hinter seinem Stand hervor und auf den Jungen zu. Der machte wie ein Wirbelwind auf dem Absatz kehrt und rannte, einem Autobus ausweichend, quer über die Straße und verschwand in der Tiefe der Joachimstaler.

»Sind Sie ganz bei Trost?«, ermahnte sie den dicken Obstmann. »Der Junge hat Ihnen nichts getan. Warum erschrecken Sie ihn, er wäre beinahe vor den Bus gelaufen.« Ihr erschien das Verhalten des Nachbarsjungen ebenfalls merkwürdig.

»Ist mir egal, ich lasse mich hier nicht mehr beklauen. Und du hau jetzt auch ab.«

Sie schenkte ihm einen vernichtenden Blick und sah wieder zum Zeitungsladen. Die Tschechowa war fort. »Verdammt«, entfuhr es ihr leise und sie lief auf die Bahnsteige zu, die sie ohne Fahrschein betreten durfte, aber dort entdeckte sie sie nicht mehr. Das ärgerte sie. Ihr war nicht nach einem Gespräch mit Herrn Darburg, daher verließ sie den Bahnhof durch den nördlichen Eingang und wanderte außen die Hardenbergstraße entlang wieder zurück.

Heinz, dieses kleine Aas, dachte sie wütend. Er hatte es ihr vermasselt. Was stand der wie eine Dampflok in der Gegend und starrte geradeaus? War er ihr gefolgt? Der Junge konnte äußerst seltsam sein.

Für Mara war die Begegnung mit der Tschechowa nicht abgehakt. Schnurstracks eilte sie zurück zur Fasanenstraße und blieb vor der Hausnummer 60 stehen. Ein Haus in der gleichen Größe wie das ihre, die Fassade und die Haustür waren etwas anders. Was mochte eine bekannte Schauspielerin hierhin führen? Ihre Blicke wanderten die Außenwand entlang nach oben, passierten die Fenster der Etagen und dann bemerkte sie, unter dem Dach, einen Lichtschein durch einen Vorhang fallen, der sich im Wind bewegte. Man hörte Menschen sprechen. Nicht laut, anscheinend diskutierten sie angeregt. Manchmal sanken einzelne Klangfolgen einer Klaviermelodie zu ihr auf den Gehweg. In der dunklen Stille der Fasanenstraße erschien ihr das wie eine Insel des Lebens und sie näherte sich den Namensschildern neben der Tür. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Nur die obersten Namen waren im Licht der einige Meter entfernt stehenden Laterne zu entziffern: Balz und Jarczyk. Beide sagten ihr nichts. Sie würde morgen noch einmal schauen, vielleicht wäre ihr einer der anderen Namen vertrauter.

Als sie wenige Minuten später wieder ihr Haus betrat, war es bei den Butzkes dunkel, aber man hörte jemanden lachen. Oben wartete ihr Vater und erleichtert umarmten sie sich.

»Paps, du wirst es nicht glauben, aber ich habe die Tschechowa gesehen«, platzte es aus ihr heraus.

»Die Schauspielerin? Oha, wo denn?«

»Hier, gleich nebenan. In der Fasanenstraße. Ist das nicht unglaublich? Sie kam aus Nummer 60. Aber ich glaube nicht, dass sie dort wohnt. Ich habe auf den Namensschildern nachgesehen. Da stehen nur Namen wie Balz oder Jarczyk.«

Er dachte einen Moment nach. »Ich habe mal gehört, dass dort ein Komponist wohnen soll. Vielleicht hat sie den besucht. Frage bei Gelegenheit mal den Ingenieur, vielleicht kennt der ihn.«

Sie fand das ungeheuer aufregend und wusste, dass sie der Sache nachgehen würde.

Maras erster Gefallenenbrief

Dienstag, 14. März 1944

Die ganze Nacht hatte es geregnet wie aus Kübeln. Zwei- oder dreimal war sie durch das Schlagen des Wassers auf die Dachschindeln über ihr geweckt worden und genüsslich zog sie sich dann die Decke umso enger an den Körper. Dem Himmel sei Dank, dass sie ihre Wohnung hatten und nicht ausgebombt waren. Seit Tagen hatte es schon keinen Alarm mehr gegeben. Es fühlte sich fast wie im Frieden an, wenn nur nicht die Zahl der Meldungen in der Dienststelle stiege und der Umfang der Listen anwüchse, die sie täglich bearbeiten mussten. Und das war lediglich ein Teil davon. Sie bekamen ja nur die Fehlläufer. Längst ging der Löwenanteil direkt an die Außenstellen in Thüringen.

Die Luft im Hof der Wehrmachtauskunftstelle roch schwer und erdig. Die Feuchtigkeit war tief in den Boden gedrungen und schwemmte Gerüche frei, die über den Winter eingeschlossen gewesen waren. Nebelschwaden stiegen aus den Grasflächen hervor, die sich an den Straßenrändern entlang, um Denkmäler oder in Vorgärten erstreckten.

Seit gestern schrieb sie erste Kondolenzbriefe an Angehörige. Frau Schneiderer hatte ihr eingeschärft, dass der Tod jedes Volksgenossen ehrbar sei und die Briefe dies verdeutlichen müssten.

Gemäß eines Musterschreibens tippte Mara wieder einmal eines:

Herrn Wilhelm Dölling, Wuppertal.

Die hiesige Dienststelle sieht sich mit dem Ausdruck aufrichtiger Anteilnahme veranlaßt, Sie von dem Tod Ihres Sohnes, des Gefr. Herbert Dölling in Kenntnis setzen zu müssen.

Nach einer hier vorliegenden Meldung 1/561 ist Ihr Sohn am 7. Februar im Kriegslazarett Witebsk verstorben. Über die Todesursache und Grablage enthält die Meldung keine Angaben.

Möge die Gewißheit, daß Ihr Sohn sein Leben für die Größe und den Bestand von Volk, Führer und Reich hingegeben hat, ein kleiner Trost sein in dem schweren Leid, das Sie getroffen hat.

Ich grüße Sie in tiefem Mitgefühl, Ihr sehr ergebener

Gez. Unterschrift

Stabsfeldwebel Sauerland, Wehrmachtauskunftstelle Berlin

Sie zog den Brief und den Durchschlag aus der Maschine und legte ihn zu den sieben anderen, die sie in den letzten zwei Stunden nach Dienstbeginn geschrieben hatte. Sonderlich anspruchsvoll war diese Tätigkeit nicht. Die persönlichen Informationen fanden sich in den Gefallenenlisten, sie formulierte sie nur um, da die Stände und Kommandanturen es zeitlich immer seltener schafften, Angehörige ordentlich in Kenntnis zu setzen, wie es üblich war. Sie hatte in den Musterakten ältere Schreiben sogar von Divisionskommandeuren gefunden, die auf zwei oder manchmal drei Seiten genau die Umstände schilderten. Wenn das auch schwer sein musste für eine Mutter zu lesen, so sprach aus solchen Mitteilungen doch Anteilnahme. Ihre eigenen Briefe fand sie dagegen schal und mit jedem einzelnen kam sie sich mehr wie eine Taschenspielerin vor. Sie setzte Anschreiben auf, die ehrlich klingen sollten. Aber das waren sie gar nicht. Sie nahm Namen und Zahlen und formulierte sie in einem Text – die gleichen Zeilen für ganz unterschiedliche Leben, die oft jung und tragisch geendet waren.

Immer muss ich zu viel nachdenken, schalt sie sich in Gedanken. Doch wenn sie sich diese Mühe nicht machte, erhielten die Angehörigen noch weniger als ein freundlich verfasstes Schreiben.

Sie legte alle Briefe jeweils auf einen Stapel, der gesammelt an Frau Schneiderer ging. Von ihr hatte sie nichts gehört und bis es so weit wäre, fuhr sie damit fort.

Nebenan sprach Manfred, jemand stand auf und verließ den Raum. War er es? Sie hatte ihn kaum gesehen in den letzten Tagen, sie alle arbeiteten die ganze Zeit über. Hastig erhob sie sich, murmelte, dass sie mal raus müsse, und trat auf den Gang.

»Manfred!«

Der junge Mann blieb stehen und drehte sich um. Sie lief auf ihn zu. Er nahm die Brille ab und setzte sie wieder auf.

»Mara, ich…«, druckste er herum. »Du bist ja da.«

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Natürlich bin ich das. Es ist aber so viel zu tun. Ich dachte wir sehen uns morgens. Ich schreibe jetzt Briefe an Angehörige.«

»Ja, ich meine. Ich komme jetzt immer etwas früher. Ich will mehr arbeiten und schaffen …«

Sie nickte nur, obwohl sie nicht verstand. Die Arbeitszeiten waren doch erst verlängert worden. Warum mochte er dann Zusätzliches leisten?

»Störe ich etwa?«, fragte sie aus einem Impuls heraus. Manfred schüttelte nur den Kopf. Wieso sah er zu Boden? Sie nahm ihren Mut zusammen. »Ich muss dir was erzählen«, sie war aufgeregt und wollte es ihm längst berichtet haben. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Ich habe die Tschechowa gesehen. Bei uns!«

Er sah sie ungläubig an. »Die Schauspielerin? Bei euch zu Hause?«

»Nein«, hauchte sie. »Im Nachbarhaus. Da kam sie raus. Ich bin ihr gefolgt, aber am Bahnhof Zoo habe ich sie aus den Augen verloren.«

»Die Tschechowa.« Sein Blick verriet Zweifeln. »In Wilmersdorf. Du hast geträumt.«

»Wenn ich‘s doch sage.«

»Und was wollte sie dort«?

Mara sah ihn an, als hätte er gesagt, sie komme vom Mars. »Woher soll ich das denn wissen? Ich habe sie ja nicht gefragt.«

»Vielleicht wäre das eine gute Idee gewesen?«

Sie musterte ihn einen Moment. Hörte er nicht zu? »Ich glaube, ich sollte meine Briefe weiterschreiben.«

Manfred griff nach ihrem Arm. Erschrocken von der eigenen Berührung ließ er sofort wieder los. »Nein, verzeih. Erzähl weiter.«

»Es gibt nichts zu erzählen. Mein Vater meint, in dem Haus wohne ein Komponist. Vielleicht habe sie den besucht.«

Er rückte seine dicke Brille zurecht und dachte nach. »Weißt du, wer denn da wohnen soll?«

»Es war dunkel, ich habe zwei Namen lesen können. Balz und Jarczyk. Die müssen oben wohnen. Die Namen unten muss ich mir mal bei Tageslicht ansehen. Es war zu duster.«

»Balz? Der ist bekannt. Vielleicht Bruno Balz, ein sehr bekannter Textdichter. Er hat viele Lieder geschrieben. Jarczyk … Balz hat mit Michael Jary Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh‘n für Zarah Leander komponiert.«

Mara fand das ungeheuer aufregend, aber das konnte nicht sein. »Dort steht nichts von Jary, nur Jarczyk.«

»Vielleicht ein Wasserpolacke, der den Namen germanisiert hat«, sagte er lakonisch.

Sie dachte nach, unwillkürlich wurden ihre Lippen schmal. »Machen das viele? So wie mitunter aus Praharczyk der Name Prager wird?«, zischte sie zornig. Sie wollte nicht verärgert klingen, es passierte einfach.

Manfred errötete und verstand. Auch ihre Vorfahren stammten wohl aus Schlesien - Wasserpolacken. Sofort tat es ihm leid.

Er räusperte sich und zuckte die Schultern. »Manchem hilft das, unbequeme Nachfragen nach der Herkunft zu vermeiden. Es gab eine Zeit, da war das ratsam. So vor zehn Jahren, als viele Beamtenverhältnisse aufgelöst wurden, um den öffentlichen Dienst zu arisieren.«

Sie nickte nur.

Manfred kam näher und raunte im Ton eines Verschwörers: »Der Balz soll übrigens ein 175er sein.« An ihrem fragenden Gesichtsausdruck erkannte er, dass das Mädchen keine Ahnung hatte. »Du weißt Bescheid? Nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte keinen Schimmer, was sich hinter dieser Bezeichnung verbarg, obwohl sie die mal gehört hatte.

»Oh, hm. Also …«, er überlegte. »Männer mögen Frauen. Ich mag dich und …«

Mara hatte es genau vernommen, auch wenn er sich bemühte, schnell darüber hinweg zu gehen.

»… und manche Männer mögen … Männer. Und einige Frauen mögen Frauen. Mögen im Sinne von …«, er sah nach links und rechts und senkte seine Stimme weiter. »Im Sinne von mehr als … hm, gerne haben.«

 

»Oh«, sagte sie. Und als es ihr langsam dämmerte, setzte sie ein gedehntes »Ohhh« hinterher. Er lächelte und nickte.

»Deshalb heißt es 175er! Strafgesetzbuch Paragraph 175.«

»Aber Gott«, stammelte sie aufgeregt. »Das ist krank. Der Balz? Und ich kenne die Lieder, sie gefallen mir. Aber sowas …«, unwillkürlich hielt sie die Hände an die Ohren.

»Mara, du wirst dich schon nicht anstecken«, gab er trocken zurück. Als fühle sie sich ertappt, senkte sie sofort wieder die Arme.

»Beim Theater sollen viele solche unglücklichen Neigungen haben. Hast du noch nie in Geschichten gelesen, dass sich manchmal Männer vielsagende Blicke zuwerfen? Sich sehr zugetan sind? Männliche Figuren?« Er sah sie sanft nicken. »So wie Blutsbrüder? Freundschaft, die fast wie ein Lebensbund ist?«

»Old Shatterhand und Winnetou?«, schrie sie beinahe entsetzt.

»Da siehst du es. Wenn man darauf achtet, findet man das immer wieder. Sogar Ernst Röhm, erinnerst du dich?« Sie schien ratlos. »SA-Chef. Bis 1934 und dann … nun ja.« Er sah nach oben und richtete sich auf. »Aber ich mag auf jeden Fall nur Mädchen«, beide mussten vor Lachen losprusten, endlich war die Spannung vergangen.

»Ich weiß noch nicht, was ich mag«, alberte Mara, doch in dem Moment war ihr klar, dass sie das wirklich nicht wusste. Sie hatte keine tieferen Gedanken daran verschwendet, ob sie Männer mochte. Sie fand manche hübsch und auch einige Frauen. Aber was für blöde Überlegungen waren das? Selbstverständlich würde sie einmal einen Mann heiraten und Kinder haben.

»Was ist das hier für ein Geschnatter?«, rief die Schneiderer, die sich aus dem Türrahmen reckte und den Gang inspizierte. »Aha, Fräulein Prager. Gut, dass ich Sie sehe. Kommen Sie bitte mal? Ich muss über Ihre Kondolenzschreiben mit Ihnen sprechen.«

Ohne Manfred noch einmal anzusehen, lief sie los. Eingeschüchtert hielt sie den Blick gesenkt, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war.

»Schließen Sie die Tür!«

Sie tat wie ihr geheißen und ging auf den Schreibtisch zu, hinter dem Frau Schneiderer soeben Platz genommen hatte. Die hielt ihr einen Kondolenzbrief hin, den Mara gestern geschrieben hatte und einen zweiten, den jemand anderes verfasst haben musste.

»Wo ist der Unterschied, Fräulein Prager?«

Das Mädchen las. Sie sah keinen. Einige Sätze waren natürlich anders formuliert. Aber sonst?

»Sie sehen es nicht, oder?«, setzte die Büroleiterin sie unter Druck.

Mara sah sie an. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen oder sich zu bewegen.

»Warum grüßt Stabsfeldwebel Sauerland bei Ihnen nicht mit Heil Hitler? Hier tut er das!« Sie wedelte mit beiden Briefen.

»Weil«, begann sie stockend. »Weil dort bereits steht, dass der Gefallene sein Leben für Reich und Führer und Volk gegeben hat. Nochmal Hitler – wäre das nicht doppelt?«

Die Augen der anderen weiteten sich unnatürlich und Mara dämmerte es, dass sie etwas nicht sonderlich Kluges gesagt hatte.

»Hitler doppelt?«, hauchte die Schneiderer, als könnte sie kaum glauben, was sie gehört hatte.

»Wenn ich Ihnen eine Vorlage gebe, dann haben Sie die gefälligst 1:1 umzusetzen!« Der Ton wurde bedrohlich, aber noch war sie nicht laut geworden. »Und wenn da dreimal Hitler und fünfmal Piependeckel steht!«

»Piependeckel ... Verstanden, Frau Schna… Schneiderer. Ich grüße mit Heil Hitler. Ab sofort.«

Die andere nickte und lehnte sich zurück. »Schön. Ansonsten machen Sie sich übrigens gut bei uns, Fräulein Prager. Sie lernen schnell. Sie sind noch jung und Menschen wie Ihnen gehört die Zukunft. Sie können die Texte ruhig ein wenig abändern. Das sollten Sie insbesondere dann tun, wenn Sie erkennen, dass Gefallene nahe beieinander wohnen, Nachbarn sind oder Verwandte. Wir wollen nicht, dass die Angehörigen das Gefühl bekommen, dass wir sie mit Formbriefen abspeisen. Aber eines muss auch Ihre Generation lernen: Es gibt keine Zukunft ohne Reich und Führer. Der deutsche Gruß ist das, was uns Volksgenossen jeden Tag einander nahebringt, wenn wir uns treffen und verabschieden.«

Mara nickte, ihr Kopf war leer.

»Mir scheint, Sie haben verstanden. Dann können Sie jetzt gehen. Ab jetzt schließen Sie mit deutschem Gruß, den Rest lassen Sie so. Bevor Sie gehen, bringen Sie mir Ihre Briefe von heute, damit ich sie noch einmal ansehen kann. Heil Hitler!«

Das Mädchen senkte in stiller Zustimmung den Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort Frau Schneiderer und ihr Vorzimmer.