Kleine Frau im Mond

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Ein skurriler Auftritt unter Künstlern

Donnerstag, 16. März 1944

Seit einigen Wochen hatte sich Simeon Wehrstein bei der Kameradschaft der deutschen Künstler rar gemacht. 1936 von Reichsbühnenbildner Benno von Arent ins Leben gerufen, war die KDDK ein Verein, der am Berliner Tiergarten über einen repräsentativen Club verfügte. Dort ließ sich vortrefflich verweilen und speisen. Selbst wer nicht zu den Reichen und Berühmten gehörte, fand hier jederzeit Aufnahme und verlebte wenigstens zeitweise geruhsame und versorgte Stunden. Als Tontechniker war Simeon schon lange im Geschäft und hatte sogar die Stummfilmzeit miterlebt, üppig lebte man davon nicht. Erst recht nicht in den 20ern, auch wenn eine Zeitlang die ›Tonbilder‹ populär waren, abgefilmte Musikdarbietungen mit synchron dazu erklingendem Ton vom Phonographen oder Grammophon. Mit dem Tonfilm waren neue Berufsfelder entstanden. Heute war vieles besser, aber reich wurde man nicht. Und da der Alltag aus dem Einkaufen von Mangelwaren auf Bezugsscheinen beruhte, ließ man sich wenigstens ab und an nur zu gerne mal aushalten. Hier bei der KDDK war das möglich.

Heute stand der Vortrag eines Beamten des Ernährungsministeriums auf dem Plan. Das interessierte Simeon nicht im Geringsten, aber hin und wieder musste man sich sehen lassen, am besten bei langweiligen Gelegenheiten, dann hatte man es hinter sich und niemand würde einem etwas nachsagen. Bis vor einer halben Stunde hatte es geregnet und er strich sich die Sohlen auf der Matte ab, bevor er die stilvoll dekorierten Räume betrat.

»Guten Abend Herr Wehrstein, schön, dass sie da sind.« Ein formell gekleideter Saaldiener nahm ihm Schal und Mantel ab. Simeon atmete tief ein und ging geradeaus. Dann hielt er inne und verschwand in den Waschräumen. Dort stützte er sich auf ein elegantes Lavoir und betrachtete sich im Spiegel. Er sah gut aus heute. Trug die beste Kleidung, die er besaß, einen hellgrauen Zweireiher. Ein wenig Creme auf sein spitzes Gesicht aufgetragen, sogar die lange und leicht knollige Nase verlieh ihm Charakter. Wuschelige dunkelblonde Haare verdeckten die Stirn. Das machte ihn verwegen. Seine eigenen, eng stehenden braunen Augen sahen ihm entgegen. Er gefiel sich heute. Noch einmal atmete er tief. Er würde jetzt einfach hinein gehen, essen, trinken bis er satt war, sich den langweiligen Vortrag anhören und sehen, was sich ergab. Jedem freundlich zunicken und höflich parlieren, wenn sich die Gelegenheit bot. Für eine Sekunde schloss er die Augen. Er würde kaum hier sein. Sicher nicht Leon. Aber in diesen Zeiten … nichts war auszuschließen.

Als die Tür sich öffnete, zuckte er zusammen.

»Donnerlittchen, Wehrstein, sind Sie schreckhaft«, nuschelte Heinz Rühmann, als er durch die Tür trat und Simeon beinahe in Deckung springen sah. »Haben Sie das Programm gesehen?« Er verschwand im Abort, sprach aber etwas lauter weiter mit seiner markanten Filmstimme. »Ich hatte gedacht, dass ich den Liebeneiner treffe. Der ist natürlich viel zu schlau. Der plant was Dickes, und keine Fliege hat mich gefragt. Der tut sich hier den Blödsinn heute bestimmt nicht an.« Wenn er jovial wirken wollte, hörte man die Ruhrpottherkunft durch. Ein gedehntes leises Stöhnen folgte seinen Worten, dann redete er weiter und kehrte wenig später zu den Waschbecken zurück. »Schon gehört, was das Thema des Vortrages sein soll? Es geht um den Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft in der drehfreien Zeit.« Der Rühmann wusch sich die Hände, sah Simeon über den Spiegel hinweg an und schüttelte den Kopf. »Das denken die sich so. Vor der Kamera den Pfeiffer mit drei f geben und, sobald die Klappe gefallen ist, ran an die Sense … am besten Seit‘ an Seit‘ mit einer Horde Ostarbeitern.« Den Rest ließ er ungesagt. Er grinste in den Spiegel, zog den Mund auseinander, ganz der neckische Spitzbube, als den ihn die Zuschauer liebten. Dann erstarrte er aus einer leichten Bewegung, als fröre er ein, und prüfte seinen Ausdruck, bis wieder Leben in ihn fuhr. Ein zufriedenes Schnaufen folgte. Als er die Waschräume verließ, haute er Simeon sanft auf die Schulter.

Irgendwo begannen Menschen zu klatschen, eher höflich, nicht stürmisch. Für Simeon war das der richtige Moment. Alle würden schon sitzen und selbst wenn er da war, müssten sie ja erst einmal zuhören und waren an ihre Plätze gebunden. Er würde essen was es gab und danach sofort wieder abhauen, falls notwendig schleunigst.

Er ging zurück in den Flur und betrat den großen Versammlungsraum mit den bequemen Fauteuils und Canapés. Elegante Damen und Herren saßen locker platziert. Am Ende des Raumes vor einem riesigen Spiegel hatte ein Beamter in Uniform Aufstellung genommen. Schnell blickte Simeon sich um. Nein, niemand war hier, der ihn ärgern konnte. Auch Leon nicht. Erleichtert seufzte er. Eine rothaarige Hübsche sah sich daraufhin um und grinste frech. Dann nickte sie zustimmend. Sie hatte seinen Seufzer auf den Vortrag bezogen. Er erkannte die Frau. Brigitte Mira. Sie war recht neu beim Film, aber sie durfte im Vorjahr in einer Kurzfilmserie mitspielen, ›Liese und Miese‹. Es ging um zwei Frauen, von denen eine, Liese, alles richtig machte und Miese, die Brigitte, alles falsch. Miese hörte Feindsender, verkehrte mit gefährlichen Personen, schimpfte über die Lebensmittelzuteilung. Brigitte machte das so brillant, dass alle ihre Miese liebten und Gisela Schlüter als überkorrekte Liese gar keinen Anklang fand. Nach zehn Folgen setzte das Propagandaministerium die Serie wieder ab.

Rühmann sah er nicht mehr, der hatte sich tatsächlich abgesetzt. Und vorher den Bauch vollgeschlagen. Der hatte Mut. Einige andere kannte er nicht. Die waren wohl das erste Mal hier. Ein eleganter Mann ganz außen fiel ihm auf, der ihn unentwegt anzuschauen schien. Er trug eine kleine runde Brille, die es schwierig machte, die Augen dahinter zu sehen: Dessen Kopf war häufig in seine Richtung geneigt. Als Simeon das bemerkte, drehte der Mann sich schnell weg.

Es gab Champagner. Hastig trank er sein Glas leer und winkte dem Ober um ein Neues. Dann hob der Beamte zu seinem Vortrag an. Zunächst führte er die Erfolge der Landwirtschaft im Kriege aus. Alle Planziele seien stets übererfüllt worden und das wäre allein das Ergebnis der ungebrochenen Siegesgewissheit des deutschen Volkes.

Die Mira kicherte laut los und erntete irritierte Blicke, schnell stieß sie ihr Glas um. Vielleicht wollte sie sich absichern und stellte sich beschwippst.

»Kameraden und Freunde«, kam der Funktionär bald zum Höhepunkt seiner kurzen Rede. »In dieser Schicksalsstunde unseres Vaterlandes …«

»Schon wieder eine Schicksalsstunde«, zischte die Mira und auch Simeon musste jetzt grinsen.

»… wende ich mich an Sie, die dem Führer außerhalb der Partei dienen und an euch, liebe Parteigenossen. Ich bin hier als Vertreter des Reichsernährungsministeriums und als solcher …«

Jemand vorne klatschte, nicht nur einmal. Sondern mehrmals.

Sichtlich überrascht und irritiert, ob er sich bereits den Beifall verdient hatte, wo er doch längst nicht mit der zentralen Botschaft rausgerückt war, fuhr der Beamte fort. »… meine Damen und Herren, der Ernteeinsatz ruft. Die körperliche Arbeit auf deutschen Feldern unter deutschem Himmel, das Entreißen kostbarer Erzeugnisse der fruchtbaren deutschen Erde …«

»Fruchtbar sind wir alle manchmal«, nölte die Mira und ihre Tischbegleiterinnen kicherten.

Der Klatscher vorne begann erneut und andere stimmten ein, immer weiter, entschieden, bald stürmisch wie in einem Fußballstadion. Eher untypisch für Künstler, dachte Simeon, dennoch klatschte er mit. Sein Blick traf auf den Fremden, der ihn eben wieder angesehen hatte. Der grinste breit und nickte ihm zu, seine Serviette faltend, die er in die Innentasche seines Revers schob. Dann fiel Simeon ein Füller auf, den er vom Tisch nahm und zu dem Tuch steckte. Hatte er sich etwas notiert?

»Gemäß einer Verordnung des …«, startete der Beamte wieder einen Versuch, doch der Erstklatscher sprang auf und schrie »Bravooo« und »Sieg Heil«. Andere taten es ihm gleich, bis der Raum vom deutschen Gruß dröhnte. Immer schneller schlug die Künstlerschaft die Hände zusammen, doch ihre Gesichter …. alle waren todernst. Niemand lachte mehr, keiner grinste. Alle riefen »Sieg Heil« oder »Heil dem Führer«. Aber kein einziges Gesicht entsprach dieser Atmosphäre. Nur der Unbekannte mit der Serviette lächelte in einer Tour.

Brigitte Mira stand auf, drehte sich zu Simeon um und führte ihren Finger in den Rachen, er verstand. »Mir wird heiß. Verdammte Wechseljahre«, sagte sie laut, biologisch mehr als zehn Jahre verfrüht. Dann verließ sie den Raum. Andere taten es ihr nach, dabei riefen manche »Ein wunderbarer Vortrag« und: »Kommen Sie doch bitte bald wieder.«

»Meine Damen und Herren«, schrie der Beamte gegen den Aufbruchslärm und aufgesetzten Jubel, krebsrot angelaufen und mit hervorstehenden Adern auf seiner Stirn. Seine Stimme drohte gefährlich zu kippen. »Ich danke Ihnen für diesen Ausdruck Ihrer Zustimmung. Ich weiß, unter Ihnen ist kein Einziger, der sich in den kommenden Sommermonaten nicht freiwillig für den Ernteeinsatz melden wird.«

Kein klares Wort konnte den Beifallssturm mehr durchdringen. Alle waren im Aufbruch. »Das Wartheland«, schrie der Mann wie von Sinnen. »Das Wartheland ... wir brauchen …«

Jetzt erhob sich auch Simeon, nachdem die Prominenten bereits verschwunden waren. Er musste immer genau darauf achten, wie er wirkte und vorsichtig sein. Es gab Bekanntere, die auf dem Schafott gelandet waren. Also ging er nie als Erster und auch nicht als Letzter.

Der Saaldiener lächelte ihn an und gab ihm seine Oberbekleidung. Natürlich wusste jeder, was da drinnen gerade passiert war. Simeon grinste zurück. Sie hatten den Funktionär abgemeiert nach allen Regeln der Kunst, der deutschen Kunst, sozusagen. Die Stars gemeinsam mit den Namenlosen.

 

Er trat in den kühlen Abend hinaus und blieb einen Moment stehen, weil er unschlüssig war, ob er noch irgendwo etwas trinken sollte. Zuhause wartete sowieso nur die kleine Wohnung auf ihn.

Ein Mann in langem Mantel stand einige Schritte entfernt und sah in die Nacht. Nein, er rauchte, blieb zunächst halb abgewandt, das Gesicht schimmerte hell auf, als er genussvoll saugte. Nach einem stillen Moment quoll Rauch aus dem halbgeöffneten Mund und er legte den Kopf in den Nacken, als wolle er ihn gleich zu den Sternen pusten. Das graue Band zerfaserte bald in der kalten Luft.

Während sich die meisten beeilten, in der Nacht zu verschwinden, schaute Simeon versonnen den sich in der Dunkelheit zerstreuenden Künstlerkollegen nach. Er hätte sich totlachen können über die Mira. Wie ernst sie bleiben konnte, und gleichzeitig haute sie die absoluten Brüller raus. So wie in Liese und Miese. Es war beinahe schade, dass er … sonst würde er sie … nein, war es nicht. Es war eben so.

»Das war eine Schau, nicht wahr?«

Als Simeon sich der Stimme zuwandte, blickte er in eine geöffnete Zigarettenschachtel in rot-orangenem Design. Ernte 23, ging es ihm durch den Kopf. Qualität!

Der Raucher sprach ihn an. Sein Gegenüber trug die Haare kurz, jedoch nicht militärisch. Gute Markenzigaretten, das ist jemand von Stand!, war sein Eindruck. Es handelte sich um den Herrn mit der kleinen runden Brille, der ihm vorhin zum ersten Mal aufgefallen war. Bekleidet mit einem Straßenanzug von der Stange. Elegant zwar, aber kein Luxus. Simeon trat zu ihm, nahm sich eine Zigarette und der Mann schüttelte die Packung. Er verstand und griff noch zwei, dann weitere drei, die er vorsichtig in seine Innentasche schob. Man konnte nie wissen. Glimmstängel waren ein beliebtes Tauschmittel. Und dann die Ernte

Als Künstler war Simeon, wie alle, immer offen für Gespräche mit einflussreichen Menschen, daher sah er den Herrn freundlich an.

»Ich denke, wir sollten uns einander vorstellen. Mein Name ist Leopold Latz. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen, Herr Wehrstein.«

Überrascht hob Simeon die Augenbrauen und folgte dem Fremden, der einige Schritte in die Dunkelheit vorausging.

Zwischen Stammlager und Tauentzienpalast

Freitag, 17. März 1944

»Guten Morgen«, flötete Mara beim Betreten des Büros. Voller Schwung hängte sie ihren Reichsbahnmantel an den Haken und ging zu ihrem Platz. Die anderen sagten nichts, sondern tippten vor sich hin. Nach dem Gespräch mit Frau Schneiderer hatte es keine weiteren Beanstandungen gegeben und sie konnte in Ruhe arbeiten. Sie war bestens gelaunt. Seit dem schweren Angriff vor einer Woche hatten sich nicht einmal mehr öffentliche Luftwarnungen ereignet. Ob sich bald alles zum Guten wenden würde?

Auf ihrem Schreibtisch lag der Kondolenzbrief, den sie gestern geschrieben hatte. Er war abgezeichnet, aber auf der Abschrift für die Akten fand sich ein Vermerk. Sie runzelte die Stirn und setzte sich. Wieder eine Ermahnung?

Sie las: Ein sehr aufrichtiges und anteilnehmendes Schreiben. Gut gemacht, Frl. Prager! Heil Hitler. Unterschrieben von Stabsfeldwebel Sauerland.

Lächelnd lehnte sie sich zurück. Sie hatte bemerkt, dass der Gefallene nur kurz zuvor mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet worden war. Vermutlich wussten die Angehörigen das noch nicht oder freuten sich über die Auszeichnung, während schon die schreckliche Nachricht zu ihnen auf dem Weg war. Sie hatte sich also den Rest hinzugedacht:

Frau Ilse Reimann, Regensburg.

Sehr geehrte Frau Reimann.

Ich habe heute die schwere Aufgabe, Sie davon zu verständigen, daß Ihr Gatte, Unteroffizier Max Reimann, am 25. Februar bei einem Spähtruppunternehmen getreu seinem Fahneneide für Führer, Volk und Vaterland gefallen ist. Er fiel an der Spitze des von ihm geführten Spähtrupps 15 km nördlich von Kriwoi Rog.

Zu dem schweren Opfer, daß Sie für das Vaterland brachten, spreche ich Ihnen zugleich im Namen seiner Kameraden meine wärmste Anteilnahme aus.

Die Kompanie verliert in Ihrem Gatten, dem erst vor einigen Tagen des E.K. 1. Klasse verliehen wurde, einen äußerst tapferen Soldaten und guten Kameraden. Möge Ihnen die Gewißheit, daß Ihr Gatte sein Leben für die Größe und den Bestand von Führer, Volk und Vaterland hingegeben hat, ein kleiner Trost sein in dem schweren Leid, das Sie betroffen hat.

Ich grüße Sie in tiefem Mitgefühl! Heil Hitler

Ihr sehr ergebener

Gez.: Sauerland, Stabsfeldwebel

Sauerland hatte gestern höchstpersönlich einen Stapel Listen gebracht. Ausfälle des XXXX. Panzerkorps der Heeresgruppe A, die Ende Februar bei Apostolowo unter hohen Verlusten zurückgedrängt worden war. Die Kommandeure dort konnten unmöglich selbst längere Briefe verfassen. »In dieser Situation sind wir gefragt, die Moral an der Heimatfront so gut wie möglich zu unterstützen«, hatte er gesagt.

Und jetzt dieses Lob. Sie atmete tief durch. Mit frischem Elan zog sie den neuen Papierstoß zu sich heran. Verlustlisten der 2. SS-Panzerdivision, Vermerk: Eilt, verlegt nach Frankreich. Das beunruhigte sie nicht mehr. Sie kannte ja ihre Remington.

Etwas rutschte hinten aus dem Stapel. Sie streckte sich und fand ein Taschentuch. Darin war was eingeschlagen. Erstaunt erkannte sie zwei Achtelstücke Schokolade. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen, ohne sich zu bewegen, und setzte sich langsam hin. Woher kam das? Die Frauen hatten nichts bemerkt. Ob vielleicht … Manfred? Sie lächelte. Niemand anderes fiel ihr ein. Er musste die Stücke von seiner Lebensmittelration abgezweigt haben.

Die Tür flog auf und mit einem launigen »Heil Hitler« erschien die Schnatterer. Sie brachte eine neue Anweisung für die Weitergabe von Listen an das IKRK und überreichte sie den drei Schreiberinnen. Mara war mit solchen Direkteingaben an das Internationale Rote Kreuz nicht befasst. Daher wurde sie gar nicht beachtet. Zaghaft meldete sie sich zu Wort.

»Entschuldigen Sie, Frau Schneiderer. Ist Obergefreiter Halber heute da? Ich habe ihn länger nicht gesehen.«

Die Schnatterer sah sie ernst an. »Dienstliche Angelegenheiten können Sie mit den Kolleginnen oder mir erörtern, Fräulein Prager.« Dann setzte sie milder hinzu: »Der Obergefreite Halber holt Listen aus dem Stammlager IIID. Er wird für den frühen Nachmittag vom Stalag zurückerwartet.«

Mara bedankte sich höflich und tat so, als spanne sie Vordrucke ein, um neue Kondolenzschreiben zu verfassen. Insgeheim dankte sie ihm aber für die Schokolade. Das hätte sie niemals erwartet. Sie mochte die Sorte gar nicht besonders, diese würde sie sich trotzdem für einen speziellen Moment aufheben.

Manfred machte sich rar. Seit Anfang der Woche begann er morgens früher und arbeitete länger. Gestern hatte er ihr erzählt, dass immer öfter Angehörige der Kernwehrverwaltung an die Front versetzt würden und ihre Aufgaben an angelernte oder weibliche Freiwillige gingen. Er wollte sich so unentbehrlich machen wie möglich, damit man gar nicht auf die Idee käme, ihn einzuziehen. Diese Nachricht hatte auch sie schwer beschäftigt und sie versuchte trotzdem, ihn zu beruhigen. Er sei wichtig und erledige so viel, dass sie das nicht glauben wolle. Aber er hatte nur genickt und nichts gesagt und schnell seine Pause beendet. Er war so schüchtern und wirkte etwas unbeholfen hinter seinen dicken Brillengläsern und sein braver Mittelscheitel machte ihn erst recht nicht zum Draufgänger. Oft sah er sie nicht einmal direkt an.

»Wieso müssen wir eigentlich selbst Listen aus einem Stammlager holen?«, fragte sie laut in den Raum. Da sonst niemand antwortete, erbarmte sich die Brünette, Frau Stucht.

»Weil Postsäcke brennen, Kindchen!«

Lange Augenblicke sahen Mara und die Frau sich an, während das Mädchen sich versuchte vorzustellen, was die andere genau meinte.

Dann seufzte die Kollegin, als erwarte sie Mitleid. »Wenn Thüringen den Verlust von Abschriften bemerkt, fragen sie bei uns nach. Anscheinend ist eine Lieferung nach Saalfeld und Meiningen während der Angriffe am 9. März verloren gegangen. Also besorgen wir die aufs Neue.«

»Aha. Danke.« Mara war zufrieden. Sie wünschte sich, dass die anderen sie langsam mal als Kollegin und nicht wie einen Fremdkörper behandelten. In die Pausen verschwanden die drei nach wie vor gemeinsam und nicht ein einziges Mal hatte man sie gefragt, ob sie vielleicht mitgehen wolle.

Den Rest des Vormittags tippte Mara ihre Listen und bemerkte erst nicht die einsetzende Stille, nachdem die anderen längst in die Mittagspausen verschwunden waren. Sie war in Gedanken woanders, verdrängte die Lebensschicksale, die sie mit dem Übertrag von den Namen für die Angehörigen offiziell beendete und stellte sich eine Welt der Wissenschaft und der Entdeckungen vor. Und sie entschied, heute wieder einmal zum Bahnhof Zoo zu gehen und zu schauen, was es beim alten Darburg Neues gab. Oder wollte sie mal dem Tipp von Manfred folgen und den Kellerladen am Schlesischen Bahnhof suchen?

»Mahlzeit«, erklang es fröhlich von der Tür.

»Manfred! Du bist zurück.«

Er blickte sich schnell um und schlüpfte in das Büro.

»Hast du die Schokolade gefunden?«

Ihre Stimme fühlte sich plötzlich belegt an und sie krächzte, daher nickte sie im Anschluss an ihre Antwort umso deutlicher. »Das war so nett von dir. Ich liebe Schokolade.« Das war ja nicht wahr, aber sie liebte seine Geste und nur das zählte.

Er hob einen prallen Aktenordner. »Das habe ich holen müssen. Listen der Kriegsgefangenen. Ich erzähle es dir später.«

Neugierig stand sie auf und ging zu ihm. »Lass mal sehen.« Sie spürte seine Körperwärme, als er neben ihr den Ordner aufschlug und sie zaghaft die eingehefteten Blätter hier und dort anhob. Es waren Listen wie die, die sie täglich bearbeitete.

»Die leben alle noch?«

Er lachte. »Natürlich. Es sind Kriegsgefangene. Wir geben dem Roten Kreuz regelmäßig Auskunft und die leiten das weiter.«

»Und die erste Lieferung ist verbrannt?«

Manfred sah sie fragend an.

»Frau Stucht erwähnte sowas.«

Er grinste. »Klar, kann sein. Aber ich glaube eher, dass die fehlgegangen sind. Kriegsgefangenenangelegenheiten gehen nicht nach Meiningen oder Saalfeld, sondern laufen über Torgau. Vielleicht hat da jemand nicht aufgepasst und die aus Genf haben nachgefragt. Wenn das Ausland sich muckt, spuren hier immer alle. Im schlimmsten Fall bekommt Genf eine doppelte Lieferung.«

Mara nickte schweigend und blätterte durch die Akte. Sie bemerkte die fremdländischen Namen. ›Morrow‹, ›Beauvoir‹, ›Sandlock‹. Bei den deutschen Gefallenen stellte sie sich manchmal etwas vor über die Personen. Das war ganz leicht, wenn sie wenigstens die Heimatorte erkannte. Aber hier?

»Das sind Kanadier«, sagte Manfred.

»Oh, aber der da klingt französisch.«

Manfred erklärte ihr, dass in Kanada die Vorfahren vieler Menschen aus England und aus Frankreich stammten und man dort heute noch beide Sprachen verwende. Das erstaunte sie.

»Und Deutsch? Wo spricht man Deutsch?«

Er lächelte müde. »Nur hier. Bis zum Weltkrieg sprach man in Amerika sehr viel Deutsch. Gerade in Neu York gab es sehr viele Deutschstämmige, die das im Alltag gesprochen hatten. Aber im Weltkrieg wurde es schwieriger für sie und sie stellten sich um.«

»Das ist traurig«, murmelte sie und Manfred nickte.

Sie entdeckte etwas anderes. »Da, das ist doch ein Deutscher!« Sie las: »Sam Goldstone. Nein, doch nicht. Ich dachte Goldstein. Aber das klingt hübsch.«

Er zuckte die Schultern. »Vielleicht ein Jude.«

»Ein Jude?«, entfuhr es ihr ohne gespielte Überraschung. »Wie kommt der denn dahin?«

Unbewusst schüttelte er den Kopf. »Mara, Juden leben überall und manche werden Soldaten und kämpfen.«

Sie nickte. Natürlich, der Gedanke war einleuchtend. ›Sam Goldstone‹, irgendwie kam ihr der Name bekannt vor.

»Goldstein, Rothstein, Silberstein, Goldziher… alles jüdische Namen. Liest man doch überall. Geh mal ins Nikolaiviertel und sieh dir die Ladenschilder an. Wenn da noch welche sind.«

»Aber sie klingen Deutsch«, beharrte sie.

Er verdrehte die Augen, aber besann sich sofort wieder. Sie war ja fast noch ein Kind. »Das sind sie doch auch. Deutsche.« Er ließ die Liste sinken. Kein gutes Thema für eine Plauderei im Dienst.

 

»Lass nochmal sehen«, sie griff nach den Unterlagen und suchte einen Namen, den sie leise vorlas: »Sam Goldstone«. Das wunderte ihn wohl. Ausgerechnet dieser Name auf einer vertraulichen Liste erregte ihr Interesse. Und dann klang er noch jüdisch. Er druckste herum. Anscheinend wollte er jetzt das Thema wechseln. Und tatsächlich.

»Sag mal, Mara. Im Tauentzienpalast spielen sie heute nochmal Die Feuerzangenbowle. Hättest du Lust?«

Ihre Miene hellte sich wieder auf. Film! »Natürlich, ja. Gerne«, dann wurde sie ruhiger. »Aber ich muss nach Hause, Vater weiß nicht wo ich bin und er hatte Frühdienst. Er würde sonst warten und das gibt dann Ärger.«

»Das macht nichts. Ich kann dich abholen. Sagen wir um 19 Uhr?«

»Nein, lieber treffen wir uns dort, es ist ja nicht weit. Oder am Bahnhof Zoo vor dem UFA-Palast

Er nickte. »In Ordnung, ganz wie du willst. Bleibt’s beim Film?«

Sie konnte nur breit strahlen. Er hob winkend den Ordner und schloss die Tür. Erst jetzt merkte Mara, dass sie hungrig war. Lächelnd schlug sie das Taschentuch auseinander und machte sich über die zwei großen Stücke Schokolade her. Als die drei anderen aus der Pause kamen, war längst nichts mehr übrig.

***

Die Tage wurden zwar länger, aber jetzt, wenige Minuten nach 19 Uhr, war es noch immer dunkel. Ganz anders in der Nürnberger Straße. Gäbe es nicht die Tarnnetze, die über die Straßen gespannt waren, hätte man glauben können, es sei Frieden. Überall waren Menschen und auch einige Autos fuhren, vor allem Taxis und sicherlich manche Dienstfahrzeuge.

Den Tauentzienpalast kannte sie, also wartete sie dort. Mara war schick zurechtgemacht. Wenn sie auch ein wenig fror, hatte sie sich doch für die dünne halblange Jacke entschieden sowie einen alten seidenen Schal, den sie um den Kopf geschlungen hatte. Dazu passten die silbernen Ohrringe, die sie nur selten benutzte, denn die stammten von ihrer Mutter. Vater hatte sie ihr vor einigen Monaten feierlich gegeben. Sie sei jetzt alt genug, sich adrett zu machen, hatte er gesagt. Ihr Herz schlug aufgeregt, wann immer sie an diesen Moment dachte. Sie waren schon ein gutes Pärchen, Paps und sie. Meistens jedenfalls.

Das Kino, direkt neben dem Femina-Palast, war gut besucht. In großen Lettern wurde die Feuerzangenbowle beworben und verkündet, dass Heinz Rühmann mitspiele. Manfred erblickte sie noch nicht. Immer wieder sah sie sich um. Im Femina hatte die ›Kraft durch Freude‹-Organisation ein Konzert mit Juan Llossas und seiner spanischen Kapelle organisiert. Entsprechend stark war der Andrang. Sie reckte und streckte sich. Als ihr jemand auf die Schulter tippte, erschrak sie und wandte sich um, eine Schimpfkanonade auf den Lippen. Dazu kam sie erst gar nicht. Manfred stand vor ihr – in Zivilkleidung und mit Bowler auf dem Kopf. Ihr Mund blieb offen. Sie staunte.

»Überrascht? Ich dachte, du hättest mich erwartet?«, grinste er.

Mara stammelte nur »Ehhm«.

»Du kennst mich nur in Uniform, stimmt‘s?«

Sie nickte. Er sah aus ... wie ein Gentleman. Wie ein Schauspieler.

»Also dann, gehen wir.« Seine Augen strahlten. Auch die dicken Brillengläser konnten das Leuchten nicht mindern. Sie schlenderten zum Tauentzienpalast und stellten sich hinten in die Schlange. Die friedlichen Tage wurden von den Menschen in vollen Zügen genossen – wer wusste schon, wann es die nächsten furchtbaren Luftangriffe geben würde?

»Hier ist ja was los«, staunte Mara.

»Aber sicher«, stimmte Manfred ihr zu. »Hier gibt es alles, was du dir vorstellen kannst. Und auch was man sich nicht vorstellen kann. Bis vor ein paar Jahren war dort die Kakadu-Bar, an der Ecke Joachimstaler, Ku’damm und Augsburger. Da hing über jedem Tisch ein Käfig mit einem Kakadu, der auf Kommando die Rechnung bestellte.«

Sie lachte laut und fröhlich.

Er zeigte auf einige schimpfende Wartende, die an der Kasse abgewiesen wurden. Es schien, dass die Vorstellung ausverkauft war. »Die Feuerzangenbowle ist aus, wie wäre es mit einem Tänzchen im Femina

»Femina, ich weiß nicht.« Sie sah neugierig die geschmückte und erleuchtete Fassade hoch, wenigstens bis zur zweiten Etage, denn darüber verdeckten die Tarnnetze des Luftschutzes die Sicht. Es sah aufregend aus, aber klang verrucht. Da gehörte ein anständiges Mädchen eigentlich nicht hin. Doch sie war nun hier, und sie hatte männliche Begleitung.

Manfred ließ ihr nicht die Zeit weiter zu grübeln, sondern ging einfach vor und auf das Portal zu, so dass ihr nichts andere übrig blieb, als zu folgen.

Die riesige, doppelflügelige Tür öffnete sich und augenblicklich veränderte sich die Atmosphäre. Die Dunkelheit des Abends, die einsetzende Kühle verschwanden im Hintergrund hinter ihnen. Ein hell erleuchteter Vorraum tat sich auf, an den sich zu beiden Seiten Freitreppen anschlossen und im Hintergrund befand sich eine weitere Tür. Breiter und höher als die erste, aus dunklem Holz mit goldenen Ornamenten verziert und mit geschliffenem Kristall in der Mitte versehen. Dahinter erkannte sie schemenhafte Bewegungen, hörte Gelächter, Geräusche. Klirrendes Glas, sah taghelles Licht. Der Vorraum war gefüllt mit Menschen. So hatte Mara es in ihren Romanen gelesen, wenn die Helden in mondänen Hotels abstiegen. Das gab es wirklich … hier in Berlin … und sie mittendrin? Musik drang an ihr Ohr, schräg, schnell überspitzt. Sie waren ja kaum in das Gebäude vorgedrungen und wenn sie sie bis hierhin hörte, bei all dem Lärm – da musste riesig was los sein.

»… Alter …?«, sagte jemand undeutlich.

»Sie ist mit mir hier, achtzehn Jahre«, antwortete Manfred bestimmt und flüchtig schenkte sie ihm ein Lächeln, vollkommen überwältigt von dem, was hier um sie herum geschah.

Als sie nach oben sah, bemerkte sie eine verspiegelte Decke und darunter hing ein großer und runder Kristallleuchter.

Jemand zupfte an ihr und zog sie mit. Mara konnte den Blick nicht von dem spiegelnden Himmel über ihr lösen. Sie sah sich selbst, ganz klein, und viele andere, ebenso winzig. Aber alles war so fremd. Eine wahrhaft neue Welt, an der sie sich nicht sattsehen konnte.

»Staune keine Löcher in die Luft, wir müssen die Mäntel abgeben.«

Sie senkte unwillig ihren Blick. Er hatte sie zu einer Garderobe geführt und bereits seinen Mantel ausgezogen. Gerade reichte er einem Pagen in Uniform mit seidenem Einstecktuch den Bowler-Hut.

»Jetzt du«, er traf Anstalten, ihr aus der Jacke zu helfen. Sie musste sich wahrhaftig zwingen, nicht wieder nach oben zu sehen, selbst die Garderobe war aufregend neu und anders. Das Tuch zog sie vom Kopf und legte es sich um den Hals und verrenkte sich etwas, damit ihre schwere rote Mähne sich nicht verhedderte, dann drehte sie sich um.

Manfred langte nach ihrem Schal, doch hielt urplötzlich inne und betrachtete sie.

»Ich behalte ihn um, nur zur Sicherheit«, deutete sie seine Reaktion falsch.

Er schüttelte den Kopf und sah sie von oben bis unten an. Sie trug ein dunkelrotes Kleid. Es war leicht ausgeschnitten. Keinesfalls so aufreizend, wie viele junge Mädchen es wagten, aber gegenüber den hochgeschlossenen Blusen, die sie in der Dienststelle anhatte, war es fast freizügig. Von einem Vergleich mit ihrer Reichsbahnuniform gar nicht zu reden. Deshalb das Tuch um den Hals.

»Och, das Kleid?!«, deutete sie seinen Blick und er nickte. »Mein Vater hat es mir zu Weihnachten geschenkt.«

»Du bist wunderschön«, hauchte er dann. Der weiße Seidenschal um ihren Hals schuf einen zauberhaften Kontrast zu dem vollen Rot ihrer Haare und dem bleichen Teint ihres Gesichtes. Er zwang sich zu einer Reaktion, er musste einfach etwas tun.

»Noch weitere Kleidungsstücke, mein Herr?«, fragte der Page.

»Nein, wir sind soweit«, rief Manfred fast erleichtert aus. »Los, lass uns gehen.«