Kleine Frau im Mond

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»Aber wohin …«, begann Mara, als er sie etwas grob durch die Menge schob, auf die große Tür zu, hinter der die Musik immer lauter wurde.

Er kicherte lediglich und schubste sie sanft vor sich her. Nicht uneigennützig, so konnte er es sich erlauben, ihren Rücken zu berühren, und das genoss er offenbar außerordentlich, denn er ließ die Hand dort.

Die Tür öffnete sich wie von selbst und gab den Blick frei auf einen großen Ballsaal, Prinzen und Fürsten würdig, aber das war nur der erste Eindruck. Eine Balustrade lief rund um die wahrhaft riesige Tanzfläche. Oben, wie auch rundherum, saßen oder standen Menschen und unterhielten sich, tranken, lachten und scherzten. Auf einer Empore spielte ein Orchester moderne Tanzmusik auf eine Art, wie sie Mara nie gehört hatte. Schnell, feurig, laut, wild und frech. Spanisch, so wie man in der Heimat von Juan Llossas Musik machte, und dann wieder verboten westlich, amerikanisch, fand sie, obwohl sie sich nicht gut mit sowas auskannte.

»Wollen wir dort sitzen?«, rief Manfred durch ihre Faszination hindurch und wies auf einen Tisch, an dem bereits einige junge Männer in schwarzer Uniform saßen, die heftig mit ihren Freundinnen flirteten.

»Nein, dort ist auch was frei«. Sie zeigte auf einen anderen, der näher an der Tanzfläche war. »Da sehe ich mehr vom Geschiebe und Geschubse«, schwindelte sie. Manfred führte sie dorthin und sie nahmen Platz. Sie fanden zwei Stühle über Eck und konnten sich und die Umgebung gut beobachten.

»Wann hast du eigentlich Geburtstag?« Er sah sie fragend an.

»Am 20. April. Wie der Führer. Und du?«

»3. August«, kam es wie aus der Pistole geschossen und sie beschloss, sich das unbedingt zu merken. »Einen kleinen Moment«, er ging zu den Jungs in Schwarz und wechselte ein paar Worte. Zwei von ihnen sahen hinüber und grüßten nickend. Dann kam er wieder zurück.

»Oh, du kennst die?«, fragte sie.

Er nickte. »Schulfreunde. Anscheinend auf Fronturlaub. Ich habe sie lange nicht gesehen. Sie würden sich gleich gerne mit mir unterhalten. Ist das in Ordnung?«

Mara stimmte leise zu. Sie mochte den Blick nicht von den Tanzenden abwenden. Die hüpften, drehten sich im Kreis, wirbelten einander durch die Gegend. Das … das … war so unerhört.

»Kannst du tanzen? Sollen wir?«

»Sowas kann ich nicht. Nein. Es ist … wild.« Sie errötete und Manfred musste laut lachen.

»Ach was, ist wie Walzer, nur schneller.«

Sie sah ihn an, als hätte er sie beleidigt. »Ich kann Walzer und das ist kein schneller Walzer. Aber …«, sie besah sich das Treiben und überlegte, ob sie es ihm sagen sollte. »Ich kann Foxtrott.«

Breit lachend hob er beide Arme und schob den Stuhl zurück, während er aufstand.

»Das ist perfekt. Dann los.« Er riss sie hoch und zog sie auf die Tanzfläche. Dort legte er den Arm um ihre Hüfte und wollte sie führen. Die Bewegungen kollidierten und weigerten sich, zu harmonieren. Sie schubsten sich, lachten und behinderten andere Tänzer. Lautes Gejohle aus der Nähe drang zu ihnen. Mara schwitzte und versuchte, sich auf sein Tempo einzulassen, aber dann war die Musik vorüber.

»Ich habe Durst«, stammelte sie und erst jetzt sah sie, dass Manfreds Kumpels in den Uniformen der Waffen-SS am Rand der Tanzfläche standen und feixten. »Üben, üben«, riefen sie. »Das schafft ihr«, johlte der zweite und der dritte: »Hübsche Dame, wenn Sie erfahrene Führung brauchen, fragen Sie mich.«

Mara lachte, langsam wuchs ihr Selbstbewusstsein. »Ich kann Foxtrott, aber du wohl nicht!«, sagte sie frech zu Manfred. Die Jungs hatten das gehört und lästerten laut. Sie winkten ihre Freundinnen zu sich. Die Kleine würde es Manfred geben, dass es sich gewaschen habe, zogen sie ihn auf. Die Stimmung war fabelhaft.

»Doch«, rief der gegen die ersten Klänge des nächsten Liedes an. »Kann ich. Aber was du tanzt ist Slowfox, jetzt üben wir mal Quickstep.«

Sie nahm die Herausforderung an und hielt mit. Sie beschleunigte die Schritte, die sie kannte und hüpfte bloß, wenn sie nicht weiterwusste und es war so oder so ein Heidenspaß. Außerdem, andere machten genau dasselbe, das sah auch nicht immer nach einem festen Muster aus. Manfred nahm sie in den Arm und drückte sie an sich, dann legte er ihn um ihre Hüfte und drehte sie zweimal um die eigene Achse, bis er sie wieder festhielt. Sie sah ihn an, von unten, denn er war einen guten Kopf größer. Seine Augen, die manchmal tagsüber hinter den dicken Brillengläsern gequollen und müde aussahen, glänzten jetzt fiebrig und erregt und voller Leben. Sie linste an dem Gestell vorbei gleich in seine Pupillen. Auf der Stirn perlten Schweißtropfen. Sie stieß ihn instinktiv ab und er zog sie wieder heran und auf diese unbeholfene Weise tanzten sie zu wunderlichen und wilden fremden Klängen.

Mit dem Ende des Liedes drängte sie ihn zur Seite. »Jetzt müssen wir unbedingt was trinken«. Sie gingen zu ihrem Tisch und Manfred bestellte bei dem Kellner zwei Schoppen Wein. Mara wollte erst nicht, sie trank nie Alkohol. Dann beschloss sie insgeheim, einen Schluck zu probieren, aber sie mochte lieber vorsichtig sein. Sofort spürte sie die Wirkung. Ihr wurde warm und gleichzeitig auch fröhlicher zumute.

Heftig stieß sie an seine Schulter. »Da, da, sieh doch!«, Manfred schaute in die angewiesene Richtung, aber er sah nichts Besonderes. »Na, die Blitzmädels meine ich doch.« Sie hatte die drei Mädchen entdeckt, die sie vor einiger Zeit in der S-Bahn gesehen hatte. Die durchquerten langsam den Raum, als suchten sie jemanden. Während sie vorübergingen, sagte Mara bewusst laut: »Schau mal, die hält Ausschau nach Lutz, der untreuen Tomate.« Dann tat sie hastig, als müsse sie ihre Fingernägel überprüfen. Manfred sah sie erstaunt an.

Die drei blieben stehen. »Wen meinst du? Meinst du mich? Was weißt du von Lutz«, beugte sich eines der Mädchen fauchend zu ihr vor.

»Hä?«, stellte Mara sich dumm. »Wer ist Lutz? Ich sprach von Trutz. Trutz, die untreue Tomate. Schutz, Trutz und so.« Sie kicherte laut, die Mädchen gingen konsterniert weiter.

»Was ist mit dir?«, fragte Manfred leise, aber sie prustete nur.

»Trutz und Lutz.« Ein neues Lachen.

Er runzelte die Stirn. »Gott, du hattest doch nur einen Schluck!«

»Ja, und jetzt nehme ich noch einen.« Sie wollte nach dem Glas greifen, das so gut wie voll war, aber Manfred stoppte sie, setzte es an seine Lippen und trank es halb aus.

Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, bemerkte er: »Ich gehe mal austreten und schaue, ob ich einen Saft für dich bekomme, in Ordnung? Der Rest von dem Wein wird dir schon nicht schaden.« Dann stand er auf. Maras Enttäuschung verflog schnell. Er passte doch bloß auf sie auf und sie spürte ja, dass der Wein aufregende und ungewohnte Nebeneffekte hatte.

So wild wie die Musik war, schwirrten ihr bald die Sinne. Wenn sie die Augen schloss, wähnte sie sich auf einem fremden Planeten voller Farben, Klänge und Licht. Ein akustisches Blumenmeer erblühte um sie herum, sie wandelte auf einem Grasteppich aus hellen Strahlen. Ihr war warm von innen und von außen und … das Herz wärmte sie wie ein kleines Heizöfchen. Welche Wirkung doch Alkohol haben konnte. Oh, der Wein. Da wollte sie gleich einen weiteren Schluck nehmen, bevor Manfred mit dem Saft käme.

Sie fingerte nach dem Glas und öffnete die Augen. Vor ihr saß lächelnd ein junger blonder Mann in feldgrauer Ausgehuniform. Fein geschnittene Gesichtszüge und ausgesprochen volle Lippen über einem markanten Kinn füllten den Raum zwischen seinem weißen Hemdkragen und dem grauen Schiffchen, das er keck etwas schräg auf das Haupt gesetzt hatte.

»Ach, du bist nicht Manfred«, stieß sie hervor.

Er rieb sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang und spielte Bedauern. »Nein, damit muss ich mich seit meiner Geburt abfinden, dass ich Helmut heiße.«

»Oh, und wo ist Manfred?« Sie hörte sich dummes Zeug reden, aber die Atmosphäre um sie herum war so betäubend, der Wein berauschend – oder andersrum – dass ihr jede Schlagfertigkeit abging.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, junges Fräulein. Ich sah den leeren Stuhl und dachte, hier wäre etwas frei.«

»Nein, ist es nicht. Hau ab«, tönte es von der Seite. Manfred war zurück, neben sich der Kellner, der neue Getränke brachte. Und Saft.

Der Junge in Feldgrau erhob sich, bewegte die Hand zur Mütze und grüßte Mara. »Bin schon weg, einen schönen Abend noch.«

»Einen schönen Abend«, sagte sie leise zurück. Dann trank sie einen Schluck und bemühte sich, in das Gespräch einzusteigen, das er mit ihr entspann, aber sie hörte gar nicht richtig zu. Dieser Junge … so hübsch, so fremd, so überraschend aufgetaucht war er, wie eine Fata Morgana.

»Wen suchst du«, fragte Manfred spitz, nachdem ihm aufgefallen war, dass Mara abwesend schien und ihre Blicke durch den Raum schweifen ließ.

»Ehm, deine Freunde. Die Jungs von der SS.«

»Jemineh, die waren doch in Begleitung.« Er schmunzelte. »Die sind schon weg. Du verstehst?«

Nein, tat sie nicht. Obwohl, wenn sie nachdachte, verstand sie jetzt schon. Und stellvertretend für deren Freundinnen errötete sie schweigend. Manfred spürte, dass etwas anders war, und fragte danach.

»Die Listen heute«, log sie. »2. SS-Panzerdivision. Sauerland wollte, dass wir die Verluste schnell bilanzieren, weil die nach Frankreich verlegt werden zur Auffrischung. Auf dieser Liste ... da hätten die drei sein können.«

Manfred nickte. »Lass uns nicht jetzt davon sprechen. Wir sollten lieber tanzen.«

Sie gab sich einen Ruck und ging mit ihm auf die Tanzfläche. Er würde sie nach Hause bringen müssen. Wenigstens bis zum Fasanenplatz. Die letzten Meter sollte sie alleine schaffen. Dann war sie vor dummen Bemerkungen der Winklers sicher – oder dem starrenden Blick von Heinz, obwohl der wahrscheinlich bereits schlief. Wenn der überhaupt jemals schlief.

 

Dr. Hippler, Reichsfilmintendant in Ungnade

Montag, 20. März 1944

Feierabend. Endlich. Mara blätterte Zeitschriften durch und Herr Darburg bekam Besuch von dem hochgewachsenen Herrn, den sie schon einmal kurz hier gesehen hatte. Der ehemalige Botschafter in Moskau, wie sie nun wusste. Auch er hatte sie erkannt und sogar mit einem beiläufigen Nicken gegrüßt. Herr Darburg und sie hatten vorher über Büroarbeit gesprochen und sie hatte die Liebe zu ihrer Remington erwähnt, als der stattliche Herr herangetreten war.

Der Fremde, Graf von der Schulenburg, hatte lächelnd gesagt, dass er Remington kenne, aber seine Lebenserinnerungen wolle er dereinst auf einer großen schwarzen Continental schreiben. Dann hatten sich die beiden nach hinten in den Laden zurückgezogen. Dort flüsterten sie. Mara konnte trotzdem fast alles hören.

»Siehst du Wilhelm? Es ist so gekommen wie ich es vermutet habe. ›Operation Margarethe‹ macht aus dem Verbündeten Ungarn den nächsten Feind. Und wir sind machtlos.«

»Fritz, ich beschwöre dich …«.

»Ach«, winkte der andere aufgebracht ab. Ein Ruck ging durch seinen hageren Oberkörper, als wollte er am liebsten fortlaufen. Doch er blieb. »Ist mir egal, wer was hört. Die Meldung ist rum und bald steht es in allen Zeitungen. Von Weichs hat Ungarn unter Kuratel gestellt, so sieht es doch aus. Horthy wurde in die Falle gelockt, vom Führer höchstpersönlich. Genauso wie ich damals, ‘41.«

»Jaja, weiß ich doch«, war der Zeitungshändler noch immer um Mäßigung bemüht.

War sie es, die ihn als Ohrenzeugin beunruhigte? Sie blätterte ja bloß seelenruhig durch die Magazine. Sobald er alleine war, würde sie ihn nach einem Heft fragen. Sicher hatte er eines für sie.

»Bist du länger in Berlin, Fritz?« Es war offensichtlich, dass der alte Darburg das brisante Thema wechseln wollte.

»Wie könnte ich?«, schnaufte der andere. »Ich bin im Dienst. Aber Alwine … vor ein paar Tagen rief sie in der Dienststelle Krummhöbel an, bei mir im Riesengebirge. Dreimal. Ich solle sofort nach Berlin kommen. Erst verlangte sie ihren schwarzen Mantel, der aber in Falkenberg auf der Burg liegt. Danach wollte sie plötzlich alle ihre Sachen wieder haben. Obwohl sie selbst alles dort in Sicherheit gebracht hat.« Er schwieg für einen Moment, als sammle er Kraft. »Ich habe den Bürgermeister von Falkenberg angerufen, der soll sich kümmern. Und ich bin hergekommen, aber ich muss gleich morgen früh wieder nach Schlesien zurück.

»Und gerade jetzt geht es ihr …?«

Fritz legte Wilhelm die Hand auf den Unterarm. »Gut, wie denn auch sonst? Sie lacht und scherzt. Das ist die Krankheit. Sie weiß von den Anrufen gar nichts, obwohl sie meine halbe Abteilung aufgewirbelt hat. Oh, wie es alles zusammenpasst. Irrsinn überall. Dort, hier, bei ihr. In der Politik. Jetzt verlieren wir Ungarn. Seit ich in Moskau diesen Wahnsinn vertreten und sogar überbringen musste, war ich nicht mehr so enttäuscht, Wilhelm. Nicht mehr so enttäuscht. Als Botschafter zuerst belogen werden, eiskalt belogen und dann sowas …«

Darburg nickte bloß.

Natürlich hörte Mara aufmerksam zu. Durch ihre Tätigkeit in der Wehrmachtauskunftstelle wusste sie jetzt sehr viel mehr vom Krieg und auch von Politik als zuvor – mehr als Vater. Aber der Arme saß ja den lieben langen Tag vor den Toren Berlins in seinem Stellwerk. Sie hatte kein richtiges Bild davon, wer Friedrich-Werner war. Sie wusste von Diplomaten nur das, was sie aus den Romanen kannte. Oft waren sie in dunkle Machenschaften verstrickt oder beauftragten Geheimagenten. Dieser hier schien ganz nett zu sein. Interessant. Ihre gesamte Menschenwahrnehmung hatte sich verändert, seit sie nicht mehr nur im Fahrkartenschalter saß. Nur aus dem alten Wilhelm Darburg wurde sie nicht schlau. Haltung, Gestik und sogar die Art zu sprechen war seinem Gegenüber so ähnlich. Doch passte der Zeitungsstand dazu in keiner Weise. Sie nahm sich vor, ihn bei Gelegenheit zu fragen.

Die Herren unterhielten sich weiter. Es ging um Öl, das für das Reich unbedingt zu sichern sei, Öl in Ungarn, als plötzlich einer der beiden mitten im Satz abbrach.

»Ist es der Fritz? Wilhelm, das ist doch tatsächlich der Fritz.« Er zeigte nach draußen.

Sie schauten auf einen Punkt außerhalb des Schaufensters und sie schielte ebenfalls dorthin. Davor stand ein Mann in dunklem Mantel und besah sich die Auslage. Friedrich-Werner regte sich hektisch.

»Das ist er«, bestätigte Darburg. »Aber du bleibst hier!«, sagte er zu ihm beinahe im Befehlston.

»Oh ja, und ob«, erwiderte der hämisch. »Vor solchen Leuten weiche ich nicht zurück!« Die Tür klapperte, als der Fremde hereinkam und augenblicklich stehenblieb. Es fehlte nur, dass er sich die Augen rieb.

»Herr Botschafter, Herr Legationssekretär. Sie hier?« Seine Miene hellte sich auf und er ging auf die beiden zu, ohne Mara zu beachten.

»Herr Reichs … intendant«, grüßte der Graf mit ironischem Unterton und Darburg zischte »Film … Fritz … Film….«.

Das Mädchen staunte Bauklötze. All das ignorierend kam der Neuankömmling mit festem Schritt näher.

»Nichts von alledem, meine Herren. Der Reichsfilmintendant ist doch seit letztem Juni Geschichte. Ich bin zurück bei den Wurzeln, Kriegsberichter für die Wochenschau.«

»Ein Treffen von Ehemaligen, wie mir scheint«, sagte der Graf.

»Wie geht es Ihnen denn, Doktor Hippler?«, fragte Herr Darburg den Fremden freundlich.

»Gut, ich habe Urlaub, es könnte nicht besser sein.«

Auch ohne langjährige Menschenkenntnis spürte Mara die Übertreibung in seiner Stimme.

»Und Ihnen geht es hoffentlich entsprechend? Wie ist das werte Empfinden der Frau von Duberg?« Das richtete sich an den Grafen.

Die Angesprochenen nickten zunächst. Graf von der Schulenburg presste ein »Den Umständen entsprechend« heraus, bevor er sich mit einer Spitze revanchierte: »Und was macht dann die Kunst, Ihre Filmkunst?«

Es wurde spannend, fand Mara. Der ätzende Ton des Grafen dürfte nicht unkommentiert bleiben. Jedenfalls wurde sogar sie unruhig angesichts der in der Luft liegenden Feindseligkeit. Aber Herr Hippler, der Fremde, blieb ruhig.

»Man kommt viel rum. Bis gestern war ich an der Ostfront. Da erlebt man Sachen ... das muss ich Ihnen erzählen.« Ein prüfender Blick verriet ihm, dass man zuhörte. Erfreut plauderte er drauflos. »Meine Kriegsberichtergruppe und ich wollten vor ein paar Wochen einen Bericht über ein Soldatenkino machen. Wir also ran an die Hauptkampflinie, es geht bis sechs Kilometer hinter die HKL, kurz vor einem russischen Dorf. Alles Schlamm und Schneematsch. Bleiben liegen, weil vor uns ein Sanka quer steht. Mein Fahrer also rüber zu dem Sanitäter. Der sagt: Motorschaden, ob man sie abschleppen könne, im Dorf gäbe es einen Verbandsplatz und er hätte einen Schwerverletzten im Wagen. Sicher, wir alle Mann die Kiste weggeschoben, angehängt und heißa – ging es wie bei einer Schlittenfahrt rein ins Dorf. Während der Verletzte behandelt wird höre ich den nach dem Kino fragen. Man muss sich das vorstellen: Der Mann hat einen Kopfschuss und fragt nach dem Kino.«

Die beiden älteren Herren sahen ihn nur an, lauschten und nickten leicht. Davon ermuntert sprach er weiter. »Während mein Trupp die Vorbereitungen trifft, setze ich mich in eine ärmliche Holzbaracke. Da drin zwei Kerle der Nachrichtentruppe schwer damit beschäftigt, irgendeine Telefonverbindung herzustellen. Einer fragt mich, ob ich Kaffee wolle. Kalten Kaffee. Ich sage natürlich Ja und kippe runter, was die mir geben. Beißender Schmerz im Hals und jaulendes Gelächter der anderen sind eins – ich habe mir eine Kanne heißen Vodka runtergespült. Vodka mit Honig! Glaubt man das?« Er lachte und die beiden Herren lächelten mild. »Jedenfalls, in der Hütte ist es warm und ich trage noch die dicken Wintersachen. Was wird mir? Warm. Und wie. Und müde. Während die sich unterhalten, fallen mir die Augen zu und ich träume, ich sitze zu Hause in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa. Meine Frau ist auch da. Und ein Ober, der bringt mir Eiskrem. Ist das zu glauben?«

»Nein, kaum«, murmelte Friedrich-Werner unlustig.

»Auf einmal sind meine Leute wieder da und rütteln mich wach. Man wäre jetzt so weit. Ich aber noch total groggy wie weiland Joe Lewis. Langsam komme ich hoch und stolpere mit in eine andere Baracke – diese Russenhütten sehen auch alle gleich aus. Da drin also bestimmt zwei Dutzend Soldaten. Das Dorf gehört zu einer vorgeschobenen Stellung, immer nur ein Teil darf schauen, die anderen müssen auf Posten sein. Mitten drin, der Verwundete. Mit Kopfschuss, sagte ich doch?! Reife Leistung. Und was soll ich sagen. Wir sehen ein Lustspiel, das ich nicht kenne. Irgendein unbekannter Streifen, auch nicht lang. Wahrscheinlich extra so ausgewählt, dass man ihn am Tag dreimal zeigen kann statt nur zweimal, wie die längeren Filme. Jedenfalls, der Film ist aus, die Jungs sind schon raus und haben die Kamera aufgebaut, damit sie die aus der Hütte strömenden Landser filmen können. Ich aber trete an die Bahre des Verwundeten und was sehe ich: Mausetot. Sein letzter Film, in einem russischen Drecksloch, einer total überheizten Hütte und dann noch ein Streifen, den kein Mensch kennt. Tragisch.«

Maras Finger waren beim Zuhören klamm geworden. So sehr hatte sie sich an den Seiten eines Heftes festgehalten. Sie fühlte sich aufgewühlt. Das war also eines der Schicksale, die auf ihren Listen landeten.

»Tragisch, ja. Hatte er Familie?«, fragte der Graf.

»Das weiß ich doch nicht«, brauste Dr. Hippler auf, als habe er eigentlich Beifall für seine Schilderung erwartet.

»Das ist wirklich tragisch«, sagte Herr Darburg. Auch seine Reaktion war mehrdeutig.

»Herr Graf, wenn Sie entschuldigen würden«, lächelte Hippler dem anderen zu und wandte sich jetzt ganz nüchtern und geschäftsmäßig an den Händler. »Haben Sie es?«

Wilhelm nickte, griff unter den Tresen und zog einen Umschlag hervor, den er ihm reichte. Hippler gab im Gegenzug einen großen Geldschein, für den ihm mit einer angedeuteten Verbeugung gedankt wurde.

Der andere lüpfte kurz seinen Hut, grüßte den Grafen und gab Herrn Darburg die Hand. Dann verabschiedete er sich und ging. Von der Schulenburg schnaufte angestrengt.

»Du nimmst ihm das russische Drecksloch übel, Fritz?«

Der lachte böse. »Nein, für seine Ignoranz und Dreistigkeit kann er wohl nichts. Ich nehme ihm übel, was er und seine Auftraggeber uns Deutschen alles noch einbrocken werden. Er ist doch selbst in Ungnade gefallen. Und nicht einmal jetzt steigt er von seinem hohen Ross herab.« Er schwieg einen Moment. »Alwine geht es absolut nicht gut, Wilhelm. Ich habe gelogen, aber ausgerechnet den Hippler geht das überhaupt nichts an. Es geht ihr sehr, sehr schlecht. Sie trinkt und legt sich mit jedem an. Sie streitet sich mit Fräulein Höppner schon um eine Flasche Cognac und wirft Gegenstände aus dem Fenster auf die Straße.«

»Ist das dein Ernst? Fritz …«

»Leider. Der Polizei sagte sie, alles sei für die Sammlung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt vorgesehen gewesen. Durchs Fenster auf die Straße. Alles kaputt, natürlich. Demnach hat sie die NSV verunglimpft. Ich bin vorgeladen worden und muss sie heute wieder in die Wittenauer Heilstätten bringen.«

»Meine Güte, wie kann denn …«

»Die Einsamkeit, der Alkohol. Wilhelm, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Sie erzählt auch, dass ich ihr monatlich eine Apanage von 600 Mark versprochen habe und ihr aber nur 100 Mark gebe. Sie verdreht vollkommen die Tatsachen. Ich gehe jetzt schnell wieder zu ihr. Sicher hat sie weder gepackt noch sich vorbereitet. Um der guten Zeiten willen sage ich lieber nichts mehr.«

»Wir hatten gute Jahre in Persien, wir hätten dort bleiben sollen.« Darburg war ernst.

Der Graf lachte, als fiele für einen Moment die Spannung von ihm. »Ja, Wilhelm, die hatten wir. Aber dort bleiben? Manchmal denke ich, ich hätte besser in Moskau bleiben sollen.«

Sie gaben sich stumm die Hand und gingen auseinander. Dann drehte sich der Händler um und kramte im hinteren Bereich des Ladens. Mara wagte es nicht, ihn nach einem Heft zu fragen. Das Gespräch hatte sie ebenfalls belastet und ihn sicher noch viel mehr.

Sie stahl sich leise hinaus und nahm sich vor, morgen wiederzukommen und sich zu entschuldigen. Seit sie glaubte, Olga Tschechowa bis zum Bahnhof verfolgt zu haben, sah sie sich immer wieder aufmerksam um. Auch auf dem Heimweg hielt sie die Augen offen, aber sie bemerkte weder die Tschechowa noch irgendeinen anderen Star. Nur hastende Menschen, die versuchten, ihre Besorgungen zu machen oder zu ergattern, was es überhaupt gab.

 

Sie verließ den Bahnhof und ging links ein paar Meter die Joachimstaler Straße hinauf, bis sie die Schemen des L-Turms der Zoobunker-Anlage erkennen konnte. Der Turm vermittelte Schutz. Und die Peilschüssel oben … Seit Wochen war sie nicht mehr mit der Bahn daran vorbei gefahren, aber auf einmal war die Faszination wieder da. Die Gedanken kamen wie von selbst, als müssten die Sorgen aus dem Gespräch eben fortgespült werden. Es war keinerlei Anstrengung vonnöten, um sich wahrhaft Fantastisches vorzustellen: Die beiden Männer hatten von Persien gesprochen. Weit, weit, weit entfernt. Es würden dereinst solche Türme sein, die die Verbindung in die Hauptstädte der Welt ermöglichten und sogar zu den Sternen hinauf. Sie hätte nur zu gerne einen phantastischen Roman gekauft, aber sie wollte Herrn Darburg lieber alleine lassen. Sie konnte ja auch in diesem Anblick schwelgen. Ungarn war gestern durch die Wehrmacht besetzt worden, hatten die Herren besprochen. Davon hatte sie heute Morgen bereits in der Dienststelle gehört.

Plötzlich zog es sie heim. Sie hatte Hunger und Durst, aber vor allem sehnte sie sich nach ihrem Vater. Sie lief wieder zurück, passierte den Bahnhof und bemerkte gar nicht, wie Herr Darburg vor seinem Laden stand und ihr nachsah.

Dann eilte sie über die Kreuzung und bewunderte abermals den immensen Krater, an dessen tiefster Stelle sich eine Wasserpfütze gebildet hatte – für das Grundwasser war er nicht groß genug, eher hatte sich Regenwasser darin gesammelt. Und mitten in der Pfütze dümpelte eine einsame Flasche, die jemand dort hineingeworfen haben musste. Wie eine Flaschenpost ohne Inhalt.

Den lärmenden Kurfürstendamm ließ sie hinter sich und bald war sie am Fasanenplatz. Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie auf Hausnummer 60 zuging. Von oben unter dem Dach hörte sie Klavierspiel, das hinabrollte bis zu ihr und sich die Fasanenstraße hinauf und hinunter erstreckte. Einen Augenblick blieb sie stehen und schaute hinaus. So sah Mara nicht, wie sich von der Rinde eines Baumes auf der anderen Seite ein Schatten löste und sich aufrecht hinstellte, als gelte es, sie genau zu mustern und im Blick zu behalten.

Das Stück war zu Ende und der Pianist spielte kein neues. Da sich auch sonst nichts tat, flanierte sie die paar Schritte bis zu ihrer Haustür und schloss auf. Vater müsste zu Hause sein, aber vielleicht schlief er, daher lief sie leise die nur spärlich erleuchtete Treppe hinauf.

Auf halber Höhe vor dem dritten Stock über der Wohnung des Professors und der Bibliothekarin erschrak sie.

Oben stand Heinz. Er tat nichts. Starr wie eine Salzsäule glotzte er bloß die verschlossene Tür der Nachbarn an, die man lange nicht gesehen hatte.

»Du hast mich erschreckt, Heinz. Was machst du hier?«

Erst reagierte er nicht, dann drehte er seinen Kopf und lächelte sie freundlich an. Abrupt lief er die Treppe hinab und stampfte dabei wie ein Berserker.

Mara blinzelte irritiert und ging zögerlich zu der großen hölzernen Tür, die ebenso mit geschliffenem Milchglas eingelegt war wie die ihrige und deren Türknauf aus gewundenem Metall geschmiedet war. Leise und vorsichtig legte sie die Hand auf den Knauf und drehte ihn, mit einem unguten Gefühl in der Magengegend, als wollte sie einbrechen – andererseits aber auch aufgeregt. Die Tür war verriegelt, so wie sie immer verschlossen gewesen war, so lange sie dieses Haus kannte. Seitdem sie hier wohnten. Heimlich schalt sie sich selbst. So etwas machte man nicht. Hastig lief sie nach oben und fand ihren Vater in der Küche sitzend. Betrunken, mal wieder. Kirchenlieder summend und singend.