Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in Deutschland

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4Akteure im deutschen Rechtsextremismus – rechtsextremistische Organisationen, Gruppen und Individuen
4.1Neonationalsozialisten (Neonazis)

Das Bundesamt für Verfassungsschutz definiert Neonationalsozialisten wie folgt:

„Als ‚Neonationalsozialisten‘ – kurz Neonazis – werden die Anhänger einer ideologischen Ausrichtung des Rechtsextremismus bezeichnet, die sich am historischen Nationalsozialismus orientiert. Dieser bildet die Grundlage und feste Bezugsgröße der neonazistischen Weltanschauung, die von den Ideologieelementen Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Antipluralismus geprägt ist. Neonazis streben einen autoritären Staat nach dem Führerprinzip an. Historische Tatsachen werden in revisionistischer Weise bis hin zur Holocaust-Leugnung umgedeutet. Eine zentrale Bedeutung kommt der von Neonazis beabsichtigten ethnisch homogenen ‚Volksgemeinschaft‘ zu, in der sich das Individuum dem Wohl und Willen der Allgemeinheit unterzuordnen hat. Personen, die nicht zur ‚Volksgemeinschaft‘ gehören, werden als minderwertig erachtet. Ethnische Vielfalt und eine pluralistische Gesellschaft bedrohen aus Sicht der Neonazis die Existenz des eigenen Volkes. Daher nimmt die sog. Volkstod-Ideologie einen zentralen Stellenwert ein.“46

Ein aktuelles Beispiel für Neonazis ist die im Dezember 2016 gegründete gewaltorientierte neonazistische Gruppierung „Kameradschaft Aryans“. Diese „Kameradschaft“ wurde mit dem Ziel gegründet, den bewaffneten Kampf gegen die aus ihrer Sicht von der Politik betriebene „Ausrottung des Deutschen Volks“ zu betreiben. Am 12.9.2018 durchsuchte die Polizei in Bayern und Hessen die Wohnungen und Arbeitsstätten von sechs Beschuldigten, die dieser „Kameradschaft“ zugerechnet werden. Die Durchsuchungen fanden aufgrund eines durch den Generalbundesanwalt eingeleiteten Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a StGB statt. Neben diversen elektronischen Speichermedien wurden mehrere Hieb-, Stich- und Schreckschusswaffen sowie Armbrüste und Pyrotechnik sichergestellt.47

Die Neonazi-Szene weist unterschiedliche Strukturen und Organisationsgrade auf. Neben einigen noch immer bestehenden neonazistischen Vereinen sind dabei Kameradschaftsstrukturen sowie „Freie Kräfte“ die vorherrschenden Erscheinungsformen. Teile der Szene idealisieren die Doktrin und Politik der Person Adolf Hitler. In diesem Phänomenbereich wird das „Dritte Reich“ als Vorbild angesehen und eine Wiederherstellung des historischen Nationalsozialismus angestrebt. Andere Neonazis wiederum vertreten eine davon abweichende ideologische Weltsicht. Sie bemühen sich um eine Modernisierung bzw. Neuinterpretation der rechtsextremistischen Ideologieelemente oder berufen sich auf alternative Strömungen innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung.48

Das Konzept der „Freien Kräfte“ ist eine Reaktion der Neonazi-Szene auf staatliche Verbotsmaßnahmen. Hierbei handelt es sich in der Regel um lose Personenzusammenschlüsse von Neonazis, die sich in Teilen netzwerkartig organisieren. Bei der Selbstdarstellung nach außen und der Verbreitung ihrer Propaganda weisen sie teilweise einen hohen Grad an Professionalität auf. Andere Zusammenschlüsse sind gänzlich informeller Natur und weniger stark politisiert. Sie haben eher den Charakter von Jugendcliquen, die auf persönlichen Bekanntschaften aufbauen und deren verbindendes Element das Interesse an gemeinsamen Freizeitaktivitäten ist.49

„Kameradschaften“ waren knapp zwei Jahrzehnte lang eine Strategie, die die Neonazis vor Verboten oder dem Ausheben ihrer Netzwerke schützen sollte. Nach dem Aufdecken des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) gingen Behörden verstärkt gegen solche „Kameradschaften“ bzw. „Freien Kräfte“ vor. Bis Mitte der 2000er-Jahre waren rund 4.000 Neonazis in Deutschland in „Kameradschaften“ organisiert. Aktuell ist es schwer, eine konkrete Zahl zu benennen, zumal sich die Struktur der „Kameradschaften“ teilweise gewandelt hat.50

Die rechtsextremistische Szene ist sehr heterogen organisiert. Neben klassischen „Kameradschaften“ gruppiert sie sich in Splitterparteien wie „Die Rechte“ und „Der III. Weg“. Weiter gibt es „Autonome Nationalisten“, dazu Mischszenen und Gruppen mit Verbindungen in die Rocker-, Kampfsport- und Hooligan-Szene. Zuweilen treten Neonazis mit dem Habitus von Rocker-Gruppen in Erscheinung. Mitglieder tragen Kutten und „Patches“ (Aufnäher), nutzen ein „Clubhaus“ und es gibt Vorfeld- und Supporterclubs.51 Im Jahr 2017 bspw. waren in Thüringen die „Turonen“ und deren Unterstützergruppe „Garde 20“ präsent. Bis 2012 gab es in Bayern die Neonazi-Gruppe „Jagdstaffel DST“ („deutsch stolz treu“). Mitglieder trugen Lederkutten und sollen Wehrsport- und Schießübungen abgehalten haben. Nach einer Polizeirazzia, Waffenfunden und umfangreichen Ermittlungen löste sich diese „Kameradschaft“ Mitte 2012 auf. Gegründet worden war sie 2009 von Skinheads als Crossover aus Rockerclub und „Kameradschaft“.

Der „führerlose Widerstand“ und die „Organisation ohne Organisationen“, wie Thomas Wulff, Mitbegründer jener selbst ernannten „nationalen Bewegung“, die „Kameradschaften“ einst nannte, entstand Mitte der 1990er-Jahre. Vorangegangen waren Verbote von rechtsextremistischen Organisationen, z.B. das der „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP), der „Wiking-Jugend“ (WJ) und der Splittergruppe „Nationale Liste“ (NL). Drei bekannte Neonazis entwarfen daraufhin ein neues Organisationsmodell. Bei ihnen handelt es sich um Thorsten Heise, vor ihrem Verbot niedersächsischer Landeschef der FAP, Thomas Wulff und Christian Worch. Statt neue Parteien oder bundesweit aktive, größere Gruppen aufzubauen, die wieder verboten werden könnten, entwickelte das Trio ein Konzept, demzufolge künftig lokale „Kameradschaften“ ohne Mitgliederlisten und ohne rechtliche Strukturen aktiv sein sollten. Regional vernetzt werden sollten die „Kameradschaften“ durch „Aktionsbüros“ (Nord, Süd, Mitte, West).52

Ein Teil der „Kameradschaften“ stellte sich in den 1990er- und 2000er-Jahren offen in die Tradition von Hitlers Straßenkämpfertruppe SA. So nutzten diese manchmal Zahlencodes, die sich auf lokale SA-Gruppen beziehen: Die „Kameradschaft Celle 73“ war angelehnt an die SA-Standarte 73, einst stationiert in Hannover, die verbotene „Kameradschaft Hauptvolk“ hatte eine Untergruppe „Sturm 27“, benannt nach einer ehemaligen SA-Gliederung in Brandenburg. Andere „Kameradschaften“ nannten sich etwa „Sturm Baden“ und „Hamburger Sturm“. Das „Aktionsbüro West“ schrieb im Juli 2006 etwa: „Es wird Zeit, dass der Nationale Widerstand sich nicht mehr nur darauf beschränkt sein Terrain zu verteidigen, sondern anfängt dem Gegner das Feld streitig zu machen! Lassen wir aus dem Nationalen Widerstand einen Nationalen Angriff werden!“53

Als Ende 2011 der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) enttarnt war, gingen die Sicherheitsbehörden verstärkt gegen „Kameradschaften“, „Freie Netze“ und „Aktionsbüros“ vor. Entstanden war der rechtsterroristische NSU aus dem Neonazi-Verbund „Thüringer Heimatschutz“ (THS), einer Art Überbau für „Kameradschaften“ in Thüringen. Zum THS gehörte auch die „Kameradschaft Jena“, aus der die drei NSU-Haupttäter stammten.

So kam es ab 2012 zu Ermittlungen und einer Verbotswelle. Verboten wurden bspw. die „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL), der „Nationale Widerstand Dortmund“ (NWDO), die „Kameradschaft Hamm“, die „Kameradschaft Köln“, die auch als „Kameradschaft Walter Spangenberg“, „Freie Kräfte Köln“ (FKK) oder „Freies Netz Köln“ (FNK) bekannt war.

In der Nacht zum 1.5.2011 marschierten mehr als 200 Neonazis durch die Kleinstadt Bautzen. Sie trugen weiße Masken vor den Gesichtern und brennende Fackeln in den Händen und nannten sich die „Unsterblichen“. Feuerwerkskörper explodierten, rechtsextremistische Parolen wie „Frei, sozial und national“ wurden skandiert. „Damit die Nachwelt nicht vergisst, dass du Deutscher gewesen bist“ war die propagandistische Botschaft auf dem Transparent an der Spitze des Zuges. Dieser Marsch, der an eine Mischung aus Ku-Klux-Klan und NS-Propaganda-Aktion erinnerte, dauerte ca. 20 Minuten.54

Wenige Tage später tauchte ein professionell produziertes Video von dem Aufmarsch im Internet auf. Hinterlegt wurden die Szenen mit dem Soundtrack des Hollywood-Films „Matrix“. Mehr als 20.000 Mal wurde das Video innerhalb weniger Tage angeklickt, dutzendfach wurden die Aufnahmen immer wieder neu bei allen relevanten Videoplattformen eingestellt. Die Zuschauerzahlen dieses Videos liegen bei weit über 200.000.

Die Symbolkraft der weißen Masken wurde strategisch gewählt, es geht darum, möglichst modern, poppig, ungewöhnlich und trotzdem ästhetisch ansprechend aufzutreten. Dies ist eine stilistische Modernisierung, die vor einigen Jahren in der rechtsextremistischen Szene noch undenkbar gewesen wäre. In einem Positionspapier der Gruppe der „Unsterblichen“ heißt es: „Es geht um Propaganda – um Propaganda, die unmissverständlich das System als Grund dafür erkennt und benennt, dass unser Volk seinem Tod entgegengeht“55.

„Mir gefällt besonders daran die Farbe Weiß“, hieß es auf einer neonazistischen Website. „Ich hatte bereits […] angeregt, dass man statt eines linken ‚Black Bloc‘ einen deutschen ‚Weißen Block‘ erschafft. Dieser hat die Vorteile des Block-Auftretens; aber der Deutsche kann erkennen, dass hier die ‚Guten‘ am Werk sind.“ Die Begeisterung der Neonazi-Szene war eindeutig: „Echt attraktiv. Das hat Mobilisierungskraft und Attraktivität, mindestens intern!“, lobte ein anderer User. Und die Zeitschrift „Zuerst!“ schwärmte: „In nicht einmal zwei Minuten entfaltet das Video eine atemberaubende Atmosphäre voller Kraft und Entschlossenheit“56.

 

„Die Demokraten bringen uns den Volkstod“, lautet eine Parole der ersten „Unsterblichen“, die auch als „Spreelichter“ bekannt wurden. Die „Spreelichter“ haben ein elitäres Verständnis: Sie wollen nicht die „Masse“, sondern die „Ideengeber“ und „Vordenker“ sein. Dieses Konzept ging auf, da die „Aktionsform“ die „Unsterblichen“ auch von westdeutschen und süddeutschen Aktionsgruppen und „Kameradschaften“ kopiert wurde. So soll es deutschlandweit ca. 50 „Volkstod-Flashmobs“ und Aufmärsche gegeben haben.57

Nach Angaben des Brandenburger Verfassungsschutzes soll dieses Neonazi-Netzwerk Lesekreise mit Werken von Darwin, paramilitärische Gewaltmärsche und nationale Kampfsportturniere veranstaltet haben. Die Ideologie hinter den „Unsterblichen“ ist offen rassistisch: Durch Zuwanderungund „Völkervermischung“ soll angeblich „das deutsche Volk ausgerottet“58 werden.

4.2Weitgehend unstrukturierte, meist subkulturell geprägte Rechtsextremisten

Der aktuelle Verfassungsschutzbericht von 2020 zählt in Deutschland ca. 13.500 weitgehend unstrukturierte, meist subkulturell geprägte Rechtsextremisten.59 Die meist subkulturell geprägte rechtsextremistische Szene ging aus der Ende der 1960er-Jahre in Großbritannien entstandenen Skinhead-Szene hervor und breitete sich in den 1970er-Jahren auch in Deutschland aus. Diese Szene wird von den deutschen Verfassungsschutzbehörden als heterogen und ohne feste Struktur beschrieben.60 Es mangelt ihr an der Bereitschaft zur Bildung von überregionalen Organisationsformen. Die Mitglieder dieser Szene treten eher in kleinen Cliquen auf, die außerhalb des virtuellen Raumes vor allem lokal-regional agieren. Die einzige Ausnahme hiervon stellen die „Hammerskinheads“ dar, die nach dem Verbot der neonazistischen Skinhead-Organisation „Blood & Honour“ im Jahr 2000 die einzig verbliebene bundesweite rechtsextremistische Skinheadorganisation mit festem hierarchischem Aufbau ist.61 Ein Trend der letzten Jahre liegt darin, dass Gruppierungen dieser Szene Strukturelemente der neonazistischen Szene adaptieren. Dies ist auch daran festzustellen, dass neben dem Vorhandensein fester innerer Strukturen, autoritärer Führungspersonen oder der Finanzierung über Mitgliedsbeiträge das aktionsorientierte Verüben von Straftaten nicht mehr im Vordergrund steht.

Nach und nach rückte das Planen und Durchführen versammlungsrechtlicher Aktionen immer mehr in das Betätigungsfeld der Szene. Eine klar definierte Abgrenzung zum Neonazismus ist daher kaum noch möglich. Erschwerend für die Sicherheitsbehörden kommt hinzu, dass von dieser „Mischszene“ auch Strukturen und Erscheinungsformen anderer, nicht extremistischer Strukturen, wie Rocker oder Hooligans, übernommen und Personen dieser Strukturen rekrutiert werden.62

Daneben erschwert die immer öfter festzustellende Verlagerung von rechtsextremistischen Aktivitäten in den virtuellen Raum des Internets den Sicherheitsbehörden die Beschreibung der subkulturellen Szene und die Bewertung bzw. Prognose möglicher Gefahren. Hier nutzen Rechtsextremisten soziale Netzwerke und Messengerdienste zunehmend nicht nur als Propagandainstrumente, sondern finden sich hierüber einfach und vor allem schnell in virtuellen Gruppen zusammen. Besonders im Bereich der gewaltorientierten Szene sind es dann Themen mit Gewaltbezug gegen Ausländer oder politische Gegner bzw. gar Anschlagsszenarien, die in Gruppendiskussionen festzustellen sind. Daher ist es für die Sicherheitsbehörden entscheidend, das Übertragen derartiger virtueller Strukturen in die Realwelt und potenzielle Gewalt frühzeitig zu erkennen.63

4.3Die „Artgemeinschaft“

Die „Artgemeinschaft“ ist im Augenblick die größte deutsche neonazistische Organisation. Sie vertritt völkisch-rassistisches Gedankengut und rekrutiert ihre Mitglieder aus der gesamten neonazistisch geprägten Szene, vor allem aus dem Parteienspektrum und den militanten „Kameradschaften“. In der dritten öffentlichen Anhörung der Präsidenten der Nachrichtendienste des Bundes durch das Parlamentarische Kontrollgremium im Deutschen Bundestag am 29.10.2019 bezeichnete der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, die rechtsextremistische „Artgemeinschaft“ als „Nährboden für verfassungsfeindliche Grundeinstellungen mit rassistischen, antisemitischen und rechts-esoterischen Weltbildern“64. Die rechtsextremistische „Artgemeinschaft“ bekennt sich zum Germanentum, bezeichnet sich als „größte heidnische Gemeinschaft Deutschlands“, lehnt die christliche Zeitrechnung ab und orientiert sich an der „endgültigen Ausbaustufe von Stonehenge“, dem mehrere Tausend Jahre alten Kultort im Süden Englands.65 Die „Artgemeinschaft“ wird von den Verfassungsschutzbehörden als älteste neonazistische Organisation in Deutschland bewertet. Der eingetragene Verein „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“ zeichnet sich durch ein rassistisches sowie sozialdarwinistisches Weltbild und eine scharfe antisemitische Rhetorik aus. Damit hat die „Artgemeinschaft“ eine große Anziehungskraft innerhalb der rechtsextremistischen Szene. Der Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt beobachtet sie schon länger und beschreibt sie als „Bindeglied zwischen verschiedenen rechtsextremistischen Strömungen“66. Seit dem rechtsterroristischen Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 prüft die Bundesregierung mögliche Verbote von rechtsextremistischen Gruppierungen, dazu zählt auch die „Artgemeinschaft“. Im Sommer 2018 hatte sich das Thüringer Ex-NPD-Mitglied Ralf Wohlleben nach seiner Haftentlassung in die Obhut des Anführers der „Artgemeinschaft“ begeben. Wohlleben war als Unterstützer der Terroristen des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) wegen Beihilfe zum Mord zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden.67 Im Sommer 2019 wurde bekannt, dass der Tatverdächtige im Mordfall Walter Lübcke, Stephan Ernst, Mitglied der „Artgemeinschaft“ war, bis er 2011 ausgeschlossen wurde, weil er seine Mitgliedsbeiträge nicht mehr bezahlt hatte.

Die Wurzeln der „Artgemeinschaft“ reichen bis vor die Zeit des Nationalsozialismus zurück, als sich verschiedene germanischgläubige Gruppierungen gründeten, bündelten und wieder spalteten. Im Nationalsozialismus gab es auf höchster politischer Ebene Sympathien für das Germanentum. 1935 wurde die Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ u.a. auf Anregung Heinrich Himmlers gegründet und später der SS untergeordnet. Zentrale Ziele der Einrichtung waren laut Satzung „Raum, Geist und Tat des nordischen Indogermanentums zu erforschen“ und „jeden Volksgenossen aufzurufen, hierbei mitzuwirken“. In dieser Tradition steht die „Artgemeinschaft“.

Das „Sittengesetz“ der „Artgemeinschaft“ gebietet den Mitgliedern „Wehrhaftigkeit bis zur Todesverachtung gegen jeden Feind von Familie, Sippe, Land, Volk, germanischer Art und germanischem Glauben“. Statt „Rasse“ wird der Begriff „Art“ verwendet. So heißt es im „Artbekenntnis“: „Menschenarten sind verschieden in Gestalt und Wesen“. Man bekenne sich zur Erhaltung und Förderung „unserer Menschenart als höchstem Lebensziel“.68 Mitte der 1990er-Jahre hatte die „Artgemeinschaft“ nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes noch weniger als hundert Mitglieder, aktuell sollen es bis zu 300 sein. Das Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt führt aus, dass die „Artgemeinschaft“ „klar als eine neonazistische Organisation einzuschätzen ist, die ihre Anhängerschaft aus dem gesamten Bundesgebiet rekrutiert“. Sie erhebe einen „Führungsanspruch im völkisch-rassistisch geprägten Milieu des deutschen Neonazismus“.69 Mit der „Nordischen Zeitung“ besitzt die „Artgemeinschaft“ gar eine eigene Zeitschrift.70

Die im Jahr 1951 gegründete germanisch-heidnische „Artgemeinschaft“ hat ihren Sitz in Berlin. Sie versteht sich als Glaubensbund, der „die Kultur der nordeuropäischen Menschenart bewahren, erneuern und weiterentwickeln“71 will, und verbindet dabei germanisch-heidnische Glaubensansätze mit rassistischen Vorstellungen und Zielen. Ihrem Selbstverständnis nach sieht sich die „Artgemeinschaft“ als „größte heidnische Gemeinschaft Deutschlands“72. Hinsichtlich ihrer Programmatik fordert sie in ihrem „Artbekenntnis“ und dem „Sittengesetz unserer Art“, sich für die „Wahrung, Einigung und Mehrung der germanischen Art“ einzusetzen, „dem besseren Führer“ Gefolgschaft zu leisten und eine „gleichgeartete Gattenwahl (als) Gewähr für gleichgeartete Kinder“ anzustreben.73 Zu diesem Zweck ist die „Artgemeinschaft“ bestrebt, nur „Artverwandte nordischen Menschentums“74 zu gewinnen. Die „reine Weitergabe unseres Erbes“ wird als das höchste Gut angesehen. Die Anerkennung des „Führertums“, die Forderung nach „Unterordnung des Einzelnen unter die Gemeinschaft“ wie auch die „Verpflichtung zur Reinheit der Rasse“ bzw. Art stehen den Wertprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, insbesondere den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, entgegen.75

4.4Der rechtsextremistische Teil der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“
4.4.1Definition und Analysemerkmale

Die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ ist nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden personell, organisatorisch und ideologisch sehr heterogen. Diese Szene setzt sich aus Einzelpersonen ohne Organisationsanbindung, Kleinst- und Kleingruppierungen, länderübergreifend aktiven Personenzusammenschlüssen und virtuellen Netzwerken zusammen. Das verbindende Element der Szeneangehörigen ist die fundamentale Ablehnung der Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland sowie deren bestehender Rechtsordnung.76 Im Jahr 2019 zählten die deutschen Sicherheitsbehörden etwa 19.000 „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ in Deutschland, davon wurden 950 als Rechtsextremisten eingestuft.77

Die deutschen Verfassungsschutzbehörden definieren die „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Szene wie folgt:

„‚Reichsbürger‘ und ‚Selbstverwalter‘ sind Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen – u.a. unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren und deshalb die Besorgnis besteht, dass sie Verstöße gegen die Rechtsordnung begehen.“78

„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind kein neues Phänomen, sondern in verschiedenen Ausprägungen schon seit Jahrzehnten aktiv. Sie lassen sich dabei kaum unterscheiden, denn sie bedienen sich meistens nahezu identischer Argumentationsmuster: Die „Reichsbürger“ fokussieren sich auf die Fortexistenz eines wie auch immer gearteten „Deutschen Reiches“ und lehnen die Bundesrepublik Deutschland deswegen ab. Die „Selbstverwalter“ wiederum fühlen sich als dem deutschen Staat nicht zugehörig und erklären sich für unabhängig oder ausdrücklich ihren „Austritt“ aus der Bundesrepublik Deutschland.79 „Selbstverwalter“ berufen sich häufig auf eine UN-Resolution, die es angeblich ermöglichen soll, sich zum „Selbstverwalter“ zu erklären. Gelegentlich markieren sie ihr Wohnanwesen durch „Grenzziehungen“, „Schilder“, „Wappen“ oder andere Kennzeichen, aus denen die „Selbstverwaltung“ hervorgehen soll. Teilweise wird dieser erschaffene „Verwaltungsraum“ auch gewalttätig verteidigt. Ein Teil der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ zeigt sich offen rechtsextremistisch. Dabei sind antisemitische Ideologieelemente und Argumentationsmuster zu beobachten. Vor allem im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien – wenn es um angebliche Hintergründe der etablierten Politik geht – agitieren „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ mitunter offen antisemitisch. Dabei reicht die Bandbreite von Schuldzuweisungen Einzelner, welche „die Juden“ als Gesamtheit für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich machen, über offen antisemitische Verschwörungstheorien, wonach bspw. der Erste Weltkrieg von „den Juden“ als Gesamtheit geplant worden sei, bis hin zur Leugnung des Holocaust. Die deutschen Sicherheitsbehörden stufen die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ als staatsfeindlich ein.80

 

Ein Vorbild für die „Selbstverwalter“-Szene sind die „Souveränen Bürger“ („Sovereign Citizens“) in den USA. Ähnlich wie diese gründen „Selbstverwalter“ seit einigen Jahren „Samt-“ oder „Landgemeinden“ sowie andere Fantasiegebilde. Die eigens dafür geschriebenen „Verfassungen“ dokumentieren in der Regel deutlich, wie grundlegend dieses Milieu die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnt. Der demokratische Rechtsstaat in Form einer unabhängigen Justiz hat in den Vorstellungen der „Selbstverwalter“, die auf Fehlinterpretationen natur- und vernunftrechtlicher Überlegungen fußen, keinen Platz. Hinzu kommen weitere Einzelpersonen, die als „Milieumanager“ ein wirtschaftliches Interesse an einer Vergrößerung des Milieus haben. Meistens verbreiten sie esoterisches und verschwörungstheoretisches Gedankengut über Seminare, Bücher, Zeitschriften und Internet-Plattformen sowie über die sozialen Netzwerke. Einige treiben zusätzlich Handel mit eigenen Pässen, Nummernschildern und anderen Fantasiedokumenten. „Milieumanager“ sind in der Regel gesinnungsfest und wirken oft über die Grenzen einzelner Bundesländer hinaus.

Die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ ist zu circa drei Vierteln männlich. Obgleich der Frauenanteil gering erscheinen mag, ist er, verglichen mit der rechtsextremistischen Szene, erkennbar höher. Zudem sind Frauen in herausragenden Funktionen in einigen Gruppierungen tätig und führen diese teilweise an. Die meisten „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind zwischen 40 und 60 Jahre alt.81

Die deutschen Sicherheitsbehörden analysierten in den letzten Monaten und Jahren, dass ein Teil der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ waffenaffin ist. Dies belegen die regelmäßig im Zuge von Exekutivmaßnahmen sichergestellten Waffen- und Munitionsfunde. Nach aktuellen Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz waren im Juni 2019 490 „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ Inhaber waffenrechtlicher Erlaubnisse. Im Dezember 2018 lag diese Zahl noch bei 910. Insgesamt wurden seit dem Jahr 2016 mindestens 760 „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen. Obwohl die Zahl der Erlaubnisentzüge kontinuierlich angestiegen ist, besteht nach Auffassung der deutschen Sicherheitsbehörden weiterhin das Risiko, dass „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ nach dem Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse einen illegalen Waffenbesitz anstreben.82

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