Das verschleierte Tor

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Die Wärter waren stumm wie Fische und das Essen war widerlich. Es gab nichts zu tun, außer zu warten und zu hoffen oder zu verzweifeln. Er hatte schon tausend Mal die kleine Zelle von vorne bis hinten abgeschritten, jeden Zentimeter der Wand auf eine Möglichkeit für eine Flucht untersucht und tausend Mal geschrien, seine Unschuld beteuert, bis er heiser war, alles ohne jede Reaktion. Sonst gab es nichts zu tun.

Manchmal beobachtete er einen halben Tag lang den Sonnenstrahl, der durch die winzige fensterähnliche Öffnung oben an der Mauer hereinkam, beobachtete, wie der Strahl langsam durch den Raum wanderte, von der Mitte des Fußbodens bis zur Mitte der Mauer ihm gegenüber. Und wenn eine Wolke die Sonne verdeckte und ihm damit die einzige Ablenkung des Tages genommen wurde, dann stieg ein unbändiger Zorn in ihm auf, ein Zorn auf die Ungerechtigkeiten des Lebens, der Ungerechtigkeiten der Welt ihm gegenüber. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte er sich die linke Hand gebrochen, als er seiner Wut Luft machen musste und gegen die Wand geschlagen hatte. Seitdem schmerzte ihn die Hand. Oft wachte er nachts auf, weil er sich aus Versehen auf die Hand gelegt hatte.

Er war verlaust und verdreckt. Sein Bart war mittlerweile struppig und ungepflegt, sein in Strähnen herunter hängendes Haar hatte dringend einen Haarschnitt nötig, seine Kleider wurden mehr und mehr zu Lumpen. Aufgrund des schlechten Essens hingen sie ihm sowieso nur noch am Leib herunter. Was tat er hier, was wollten sie von ihm, was warf man ihm vor, er hatte keine Ahnung, er hatte wirklich keine Ahnung. Es gab kein stilles kleines Geheimnis, das diese Behandlung rechtfertigte, er war sich absolut keiner Schuld bewusst. Sein Vater war Tof in Hallkol und damit ein angesehener Bürger, wie konnten sie den Sohn eines angesehenen Bürgers des benachbarten Dorfes einfach einsperren ohne Grund, nur weil es der Tom so befohlen hatte? Er war ratlos und döste weiter vor sich hin.

Stonek schreckte hoch, anscheinend war er jetzt doch eingenickt. Was hatte ihn geweckt? Dann hörte Stonek, was ihn geweckt hatte, es waren schwere Stiefelschritte auf dem Gang zu hören und gerade jetzt hörten die Schritte auf, genau vor seiner Tür. Er setzte sich auf und war hellwach. Das war sehr ungewöhnlich, das war kein einziges Mal in den letzten Wochen vorgekommen. Was ging da vor? Der Schlüssel wurde in das Schloss gesteckt und Stonek hörte, wie das schwere Schloss zurück schnappte, dann wurde der Riegel zurückgeschoben.

Stonek stellte fest, dass er aufgestanden war. Er war bis in die Haarspitzen alarmiert. Dass man ihn mitten in der Nacht aufsuchte, nach all der langen Zeit, war höchst verdächtig, was gab es, das nicht noch bis zum Morgen hätte warten können?

Instinktiv schaute sich Stonek nach etwas um, mit dem er sich verteidigen konnte, aber in diesem Raum gab es nichts als den festgeketteten stinkenden Eimer, seinen Essnapf und den Löffel, beides aus Blech. Das Bett war so befestigt, dass es sich nicht von der Wand lösen ließ. Es gab nichts, was er zur Verteidigung hätte benutzen können. Trotzdem nahm er den Löffel an sich und steckte ihn sich rasch in die Tasche. Man konnte nie wissen. Stonek zog sich zurück an die Wand und brachte zwischen sich und die Tür so viel Abstand wie möglich, viel war es nicht.

Die Tür schwang quietschend auf. Vorsichtig spähte Stonek hinaus in den Gang, konnte aber aufgrund der Dunkelheit rein gar nichts erkennen. Dann hörte er ein schleifendes Geräusch und ein leises Fluchen. Die Tür, die ganz langsam wieder zu geschwungen war, wurde mit einem starken Ruck aufgestoßen, sodass sie erneut quietschend aufschwang und an die Mauer knallte. Stonek hatte die ganze Zeit den Atem angehalten, sein Herz raste, er fühlte hinten den Druck der Wand in seinem Rücken und vorne den Druck der Angst auf seiner Brust, den Löffel hatte er krampfhaft in der Tasche umklammert. Er zwang sich auszuatmen und sich ein klein wenig zu entspannen. Was ging da vor?

Jetzt wurde eine gebückte Gestalt sichtbar, die rückwärts in die kleine Zelle kam. Sie flüsterte.

„Schnell hilf mir mal. Ich denke auf das Bett wäre gut.“

Stonek starrt die Person an, drückte sich noch mehr an die Wand und rührte sich nicht.

Seufzend richtete sich die Gestalt auf und drehte sich um. Dabei konnte Stonek erkennen, dass eine zweite Gestalt zu Boden sank.

Als sich die Person ganz aufgerichtet hatte, erkannte Stonek, dass es sich um einen Mann handeln musste. Der Mann war ungefähr so groß wie er selbst und wirkte muskulös. Einen Moment suchte ihn der Mann mit den Augen in der Dunkelheit, vermutete ihn an der Wand und tastete dann mit seiner Hand nach ihm. Als er ihn tatsächlich berührte, flüsterte er.

„Na, Stonek. Mit mir hast du scheinbar nicht gerechnet“

Stonek sagte nichts, er war zu erstaunt und hatte an dem Flüstern immer noch nicht erkannt, wer der Mann war.

„Stonek. Ich bin es, dein Bruder Hanrek. Was ist los? Erkennst du mich nicht?“

„Ha ... Hanrek. Du. Aber ...“

Und dann war er Hanrek um den Hals gefallen und stammelte wild auf seinen Bruder ein und alles klang ungefähr wie „... ich habe es immer gewusst, dass du mich hier raus holen wirst. Ich habe es immer gewusst ...“

„Ist ja gut. Ist ja gut. Wir müssen uns beeilen. Komm Stonek. Hilf mir den Kerl auf dein Lager zu hieven. Er ist ganz schön schwer.“

Stonek löste sich endlich von seinem Bruder und half ihm den ohnmächtigen Wärter, um den es sich handelte, auf sein Bett zu heben. Hanrek fesselte den Wärter und knebelte ihn. Dann verließen sie die Zelle, nachdem Hanrek seinen Bruder unnötigerweise warnte, ja leise zu sein.

Hanrek verschloss die Tür sorgfältig, steckte den Schlüssel ein, schob den Riegel vor und nahm dann seinen Bruder an der Hand. Er zog ihn mit sich. Es war stockdunkel, aber Hanrek wusste anscheinend, wohin er gehen musste. Sie bogen um drei Ecken, ehe sie in einen größeren Raum kamen, scheinbar der Aufenthaltsraum der Wachen.

Hier war es etwas heller, da durch ein Fenster etwas Mondlicht hereinfiel. An der Wand lehnte lässig ein Mann. Stonek meinte ihn zu kennen, auch wenn er ihn nur zweimal gesehen hatte. Er wusste, dass es ein Freund seines Bruders war, nur an den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern.

„Alles in Ordnung, Mico?“

„Alles bestens. Aber es wird Zeit, dass wir hier herauskommen. Es fängt an, mir zwischen den Schulterblättern zu jucken, genau dort wo man mit den Fingerspitzen gerade nicht mehr hinkommt. Und das ist normalerweise ein schlechtes Zeichen.“

Mico reichte Stonek eine Waffe. Es war ein Stab. Gut, das war besser als ein Schwert und noch viel besser als ein Blechlöffel. Genau wie sein Bruder kämpfte Stonek lieber mit einem Stock als mit dem Schwert. Stonek umklammerte den Stab mit aller Kraft und genoss das Gefühl, auch wenn ihm die linke Hand dabei heftig schmerzte, dann ließ er die Hand in seine Tasche gleiten, holte den Löffel heraus und legte ihn verschämt auf den nächsten Tisch.

Erst jetzt sah Stonek, dass in einer Ecke des Raums zwei reglose Gestalten an der Wand lehnten. Sie waren ebenfalls geknebelt und gefesselt. Es waren Wärter, die Stonek zwar sicherlich kannte, aber jetzt nicht erkannte, da es zu dunkel war. Es war ihm auch egal, nichts wie raus hier.

Seine beiden Befreier gingen voraus, Stonek folgte ihnen. Es ging noch um einige Ecken und eine Treppe hinunter immer in tiefer Dunkelheit und sehr leise, dann waren sie an einer Tür. Vorsichtig und leise öffnete Mico sie und lugte durch den Spalt. Dann öffnete er sie ganz und schlüpfte nach draußen. Hanrek und Stonek folgten ihm.

Der Hof, in den sie kamen, wurde durch den Mondschein in silbriges Licht getaucht. Auch hier wartete eine Gestalt auf sie. An diesen Freund Hanreks konnte sich Stonek besser erinnern. Auch ihn hatte er zweimal gesehen, aber an Dressons Namen konnte er sich sofort erinnern, da er den Namen als sehr ungewöhnlich empfand. Außerdem hatte Dresson die Geige des Wirts repariert, da er Instrumentenbauer war. Die Geige des Wirts war das einzige Instrument im Dorf, und sie wurde bei jedem größeren Ereignis gespielt. Dresson hatte also dem ganzen Dorf einen Gefallen getan.

Nun zu viert verließen sie leise den Hof. Sie kamen am Eingang zum Hof an zwei weiteren bewusstlosen geknebelten und gefesselten Körpern vorbei. Seine drei Befreier hatten ganze Arbeit geleistet. Endlich standen sie im Freien. Mit schnellem aber nicht zu auffälligem Schritt gingen die Vier die Straße entlang. Stonek nahmen sie in die Mitte. Schnell bogen sie in kleinere Seitenstraßen ab. In einer dieser Straßen wurden sie von einem Mann erwartet, mit dem Hanrek leise einige Worte wechselte. Dann gingen sie weiter und schlugen eine Richtung ein, die sie eindeutig in eine Gegend führte, in die Stonek sich alleine nie getraut hätte. Herunter gekommene Spelunken, alte verfallene Häuser, merkwürdige Gestalten auf den schmutzigen Straßen. Aber als merkwürdige Gestalten konnte man Stonek, Hanrek und seine beiden Freunde auch bezeichnen. Stoneks Erscheinung, blass von den Wochen ohne Sonne, sein langes strähniges und dreckiges Haar, der Bart lang und ungepflegt, die Kleider mehr Lumpen als alles andere, alles Merkmale, die nach Gefängnis schrien. Ja, zumindest eine Gestalt der kleinen Gesellschaft konnte man ebenfalls als sehr merkwürdig bezeichnen.

Aus einem Gebüsch unter irgendeinem Brückenabsatz klaubte Mico plötzlich einen Sack hervor und drückte ihn Stonek in die Hand.

„Wenn du nachher etwas Zeit hast, zieh dich um. Ich denke die Kleider darin werden dir passen. Sie gehören Hanrek und ihr habt ungefähr die gleiche Statur.“

Er klopfte Stonek auf den Rücken.

„Zumindest, wenn du einige Tage wieder richtige Nahrung zu dir genommen hast. Übrigens findest du darin auch eine Kleinigkeit zu essen.“

 

Das hätte er Stonek nicht sagen sollen. Sofort öffnete dieser den Sack und stöberte darin nach dem Essen. Gierig verschlang er im Gehen die Wurst, die er fand. Als Nächstes beschäftigte er sich mit einem Apfel und dann mit einem Stück Brot, das er zusammen mit einer halben Flasche Bier verzehrte. Daher merkte Stonek erst, als Hanrek ihn ansprach, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Es handelte sich um ein verfallenes Haus, das alle vier durch eine große Tür betraten. Sie folgten einem langen Gang, an dessen Ende sie von einer dunklen, in einen schwarzen Mantel gewickelten Gestalt erwartet wurden. Stonek merkte, dass das Haus nur von außen verfallen aussah, von innen machte es einen ganz anderen Eindruck. Die Gestalt in dem Mantel streckte eine weiße Hand aus einem großen Ärmel. Alles andere an der Gestalt war dunkel, wahrscheinlich künstlich mit Ruß geschwärzt.

Mico zog einen Beutel aus einer seiner Taschen und legte ihn auf die weiße Hand. Die Hand wurde zurückgezogen und der Beutel wanderte in eine der Taschen des Mantels.

Die dunkle Gestalt trat beiseite und gab den Weg frei auf eine Tür. Ein wortloses Kopfnicken wies sie an, durch die Tür zu gehen.

Es dauerte nicht lang, da hatte eine ähnliche Gestalt sie durch ein Gewirr von Gängen sicher auf die andere Seite der Stadtmauer geführt. Sie verließen den letzten Gang und die dunkle Gestalt in einem kleinen Wald weit von der Mauer entfernt. Von der Stadtwache hatten sie keine Spur gesehen.

Stonek war mittlerweile sehr erschöpft. So anstrengende Dinge wie in der Stadt und durch dunkle Abwasserkanäle zu laufen hatte er seit Wochen nicht mehr gemacht. Er schätzte, dass es mittlerweile kurz vor Sonnenaufgang war, da der schwarzen langsam eine graue Dunkelheit wich.

„Was meinst du Stonek, bist du in der Lage in deinem Zustand noch etwas zu reiten? Wir sind noch nicht in Sicherheit. Dazu müssen wir erst über den Fluss, bis dahin ist es aber noch ein Stück.“

Stonek nickte. Er würde alles tun, nur um möglichst weit von diesem Gefängnis weg zu kommen.

Sie fanden die vier Pferde, die angepflockt in einem Gebüsch auf sie gewartet hatten. Sie saßen auf und ritten los, und obwohl Stonek zu Tode erschöpft war, genoss er jeden Moment der wiedererlangten Freiheit. Wieder und wieder strich er seinem Pferd über das glatte Fell, er lauschte der erwachenden Natur, den Vögeln, die mit ihrem Lied den Tag begrüßten. Wochenlang hatte er in diesem stinkenden Loch gelebt, hatte nur eckige Steine und Langeweile um sich herum gehabt, doch jetzt genoss er den Ritt durch den Wald. Er genoss den Schritt der Pferde auf dem weichen Waldboden, den Geruch der Blumen und der Bäume. Er sog alles in sich auf und das, obwohl es sich bei diesem Ritt um eine Flucht handelte.

Und jetzt hatte er auch endlich Zeit sich mit seinem Bruder zu unterhalten.

„Danke Hanrek, danke euch allen, dass ihr mich befreit habt.“

Hanrek schüttelte den Kopf.

„Du brauchst dich bei mir nicht zu bedanken. Ich weiß, du hättest das Gleiche für mich getan.“

„Ja natürlich, aber trotzdem hast du riskiert, dass man dich, dass man euch erwischt und ebenfalls einsperrt.“

„Ja. Darauf war es angelegt. Es war eine Falle. Sie ist nur nicht zugeschnappt.“

Stonek schaute Hanrek verwirrt an.

„Eine Falle?“

„Ja, eine Falle. Der Tom hat sie gestellt, aber seine Gefängniswärter waren zu dumm, und sie haben wohl nicht wirklich geglaubt, dass jemand kommen würde, um dich zu befreien.“

„Was habe ich mit dem Tom zu schaffen? Was wollte er von mir? Ich habe ihn nie getroffen und trotzdem lässt er mich einsperren.“

„Kennst du den Spruch: - Wenn du dich heute noch nicht geprügelt hast, heißt das nicht, dass du keine Feinde hast, es heißt nur, dass du ihnen heute noch nicht begegnet bist -“

Stonek schüttelte den Kopf.

„Der Tom ist einer dieser Feinde. Er ist nicht dein Feind, sondern meiner. Der Tom war früher der Kommandant der Armee, der den Überfall der Drachenkrieger zurückschlagen sollte. Er hat Mico und mich genauso wie Jorgen und Binno zwangsrekrutiert. Damals sind wir an einander geraten. Ich habe ihn mir damals zum Feind gemacht und das hat er nicht vergessen. Und dann waren wir auch noch so dreist und sind desertiert. Er hat uns durchs ganze Königreich verfolgen lassen, und auch heute, Jahre nach dem Krieg versucht er, uns noch zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Du warst dabei nur zufällig zur Hand, ein Faustpfand, um den Einsatz zu erhöhen. Außerdem siehst du mir zufällig sehr ähnlich. Wahrscheinlich hat dich einer seiner Spione aufgrund einer Beschreibung verwechselt und erst später festgestellt, dass er einen Fehler gemacht hat. Da war es nur praktisch, dich als Köder ins Gefängnis zu stecken.“

Dresson meldete sich mit einem amüsierten Ton.

„Im Moment seht ihr euch aber nicht sonderlich ähnlich.“

Stonek war still und dachte nach. Es war ihm gerade einiges klar geworden.

Hanrek fuhr fort.

„Tut mir leid, dass sie dich wegen mir ins Gefängnis gesteckt haben. Du siehst, du brauchst dich bei mir nicht zu bedanken.“

„Wie hast du davon erfahren?“

„Oh, der Tom hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er dich eingelocht hat. Er hat Vater und Mutter darüber informiert und ...“

„Sie haben es die ganze Zeit gewusst?“

Hanrek nickte.

„Ja. Sie waren beide sehr verzweifelt. Ich habe es dagegen erst letzte Woche erfahren. Ich bin eigentlich nicht wegen dir hier hergekommen. Ich habe etwas anderes vor.“

„Wir müssen Mutter und Vater benachrichtigen, damit sie wissen, dass ich frei bin und sie sich keine Sorgen mehr machen müssen.“

„Nun, dass Mutter und Vater sich Sorgen machen, ich fürchte, daran kann ich nichts ändern, aber mit dem Benachrichtigen, das ist schon organisiert. Kannst du dich an den Mann erinnern, den wir kurz nach dem wir aus dem Gefängnis gekommen sind, getroffen haben?“

Stonek nickte.

„Er wird das übernehmen. Er ist von der Bruderschaft.“

„Ich glaube ich werde mich nie daran gewöhnen, dass du in einer Bruderschaft bist.“

„Bin ich ja gar nicht. Ich bin nur ihr Anführer.“

„Und wo ist da der Unterschied?“

„Na für mich ist da schon ein Unterschied. Wenn du wie ich gesehen hättest, wie viele Stunden die Brüder nutzlos im Garten herum gesessen haben und versucht haben einen toten Baum wieder zum Wachsen zu bringen, dann würdest du verstehen, dass da ein Unterschied ist. Ich habe nie nutzlos im Garten gesessen.“

Zum ersten Mal schaltete sich Mico ins Gespräch ein.

„Oh, wir hatten damals durchaus den Eindruck, dass du nutzlos im Garten herum sitzt.“

Hanrek lachte.

„Ich habe zwar lange im Garten gesessen, aber ich habe den Baum damals tatsächlich wieder zum Wachsen gebracht.“

Es schwang Stolz in Hanreks Stimme mit. Stonek war verwirrt, denn es fehlten ihm einige Hintergründe und er hatte nie richtig verstanden, was dahinter steckte, dass Hanrek der oberste Bruder der Bruderschaft des Baums war. Einmal hatte Hanrek versucht, es ihm zu erklären, aber er hatte dabei wohl wichtige Sachen weggelassen und bei einigen Sachen nur herum gedruckst. Mico schien da besser informiert zu sein.

Hanrek wechselte plötzlich das Thema.

„Hast du dich an der Hand verletzt?“

Stonek war überrascht, dass Hanrek es bemerkt hatte.

„Ja, du hast sie die ganze Zeit geschont. Gib sie mir mal her.“

Stonek streckte den Arm aus, sodass Hanrek sie vorsichtig in seine nehmen konnte.

Er tastete vorsichtig die Hand ab.

„Wie ist es passiert? Haben sie dich geschlagen?“

„Nein. Es war meine eigene Dummheit, ich habe sie vor Wut gegen die Wand geschlagen.“

Hanrek schaute ihn verdutzt an.

„Steht die Wand noch?“

„Ja, leider. Wenn sie eingefallen wäre, wäre ich geflohen.“

„Hmm.“

Hanrek untersuchte weiter die Hand.

„Ich fürchte, ich werde sie dir nochmal brechen müssen. Sie wächst an dieser Stelle falsch zusammen.“

Er deutete auf eine Stelle, die rot geschwollen war.

„Wenn sie nicht nochmal gebrochen wird, wirst du dein Leben lang Schmerzen und Probleme damit haben.“

„Kannst du das denn?“

Mico schaltete sich ins Gespräch ein.

„Du kannst deinem Bruder vertrauen. Er kann es und ich würde es an deiner Stelle lieber ihn als einen anderen machen lassen.“

„Ich werde es mir überlegen.“

Eine Weile stockte das Gespräch. Dann fragte Stonek.

„Wie gehen wir weiter vor? Was habt ihr geplant?“

„Zuerst müssen wir über den Fluss, damit wir aus dem Einflussbereich des Toms kommen. Und danach schlage ich vor, dass du nach Vartel gehst und Miria und meine Kinder besuchst. Dort kannst du wieder zu Kräften kommen, deine Hand auskurieren und vielleicht Miria helfen, bis ich wieder zurück bin. Übrigens, es sind jetzt drei Kinder. Du bist nochmal Onkel geworden.“

„Oh. Glückwunsch.“

Eine Zeit lang unterhielten sie sich über Hanreks neuesten Sohn. Dann fragte Stonek.

„Und was hast du vor? Du tust so geheimnisvoll.“

Hanrek schwieg eine Weile. Dann sagte er leise.

„Wir müssen nach Narull.“

„Nach Narull. Wieso? Besucht ihr deinen alten Meister Lucek.“

„Nein, das ist nicht der Zweck unseres Besuchs.“

Hanrek machte ein verschlossenes Gesicht. Stonek schaute sich in der Runde um. Keiner seiner Befreier schien so richtig erpicht darauf, ihn einzuweihen.

„Und was ist der Zweck eures Besuchs in Narull?“, fragte er trotzdem unbedarft.

Wieder herrschte eine Weile Stille, doch dann sagte Hanrek.

„Der Drache.“

„Der Drache! Was denn für ein Drache?“

„Das ist schwer zu erklären.“

Stonek schaute verwirrt in die Runde und dachte, sie hätten sich einen Spaß mit ihm gemacht, aber, nachdem keiner lachte, sagte er leicht hin.

„Gib dir Mühe, ich bin neugierig.“

Hanrek seufzte tief, und nach einer Weile schien er sich zu etwas durchzuringen.

Und dann bekam Stonek eine lange und ausführliche Erklärung von einer Gabe, die sich Flüstern nannte, von Exzarden, von der Bruderschaft des Baums, von der Prinzessin Pilroos und von vielen anderen Dingen, bei denen es ihm schwer fiel, sie zu glauben. Und zuletzt erzählte Hanrek von dem goldenen Drachenei und von dem Drachen, der daraus geschlüpft war. Vor Staunen klappte Stoneks Mund immer weiter auf. Aber nun endlich verstand er so manches.

Als sie den Fluss erreichten, war es hell und Stonek steckte immer noch in den alten Kleidern. Sie wurden von einem Fischer mit dem Namen Soltek erwartet, der ihnen nach kurzer und herzlicher Begrüßung in ein Boot half. Die Pferde stellten sie in einem kleinen Schuppen bei seiner Hütte unter. Alle bis auf Stonek halfen dem Fischer beim Rudern. Jetzt endlich hatte er Zeit, sich umzuziehen. Die alten verdreckten stinkenden Kleider warf er einfach in den Fluss. Am liebsten wäre er hinter den Kleidern selbst in den Fluss gesprungen, um ein Bad darin zu nehmen. In den neuen sauberen Kleidern fühlte er sich um so schmutziger, doch die Körperpflege musste leider warten, nur die schmerzende Hand und die Unterarme konnte er in den kalten Fluss hängen. So schlief er ein, zwar auf der Flucht aber in Freiheit.

Der stechende Schmerz war so stark, dass er das hässliche Knirschen seines Handknochens nicht hörte, als Hanrek ihm seine Hand erneut brach. Obwohl sie ihm ein Stück Holz zwischen die Zähne geklemmt hatten, entfuhr Stonek ein lauter Schrei, bevor er sich wieder beherrschen konnte. Doch leider war es mit dem Brechen nicht getan, denn genauso schmerzhaft war das Richten der Knochen. Nur mit Mühe konnten Hanreks beide Helfer seinen jüngeren Bruder ruhig halten. Laut schreiend bäumte er sich gegen die beiden Befreier, die ihm auf den Gliedmaßen saßen, um zu verhindern, dass er um sich schlug oder die verletzte Hand befreite. Quälend langsam brachte Hanrek die Knochen in die richtige Lage. Dann endlich fixierte er sie mit einigen vorbereiteten Stöcken und einem dicken Verband. Allen Beteiligten stand vor Anstrengung und einem vor Schmerz der Schweiß auf der Stirn. Der von Stonek war eiskalt.

Hanrek strich seinem Bruder zärtlich das nasse Haar aus dem Gesicht.

„Eine Hoffnung habe ich.“, Stonek schaute fragend zu ihm hoch.

„Dass du nach Vartel gehst, während wir nach Narull reisen. Und dass du auf meine Familie acht gibst.“

 

„Ja ich glaube schon, dass ich das mache ...“, sagte Stonek nach einem Moment, „... so brutal, wie du Freunde und Verwandte behandelst, ist es besser, man ist möglichst weit weg von dir.“

Stonek rollte sich mit einem leisen Seufzer auf die Seite und daher sah er nicht, wie sehr er mit seinem Galgenhumor seinen Bruder getroffen hatte.

Voll tiefer Trauer dachte Hanrek.

„Ja. In der nächsten Zeit wird es für alle meine Freunde und Verwandte besser sein, wenn sie sich möglichst weit weg von mir befinden.“