Dantes Theologie: Beatrice

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1.5 Dantes Divina Commedia als Anregung, Theologie existentiell als Beziehungsgeschehen zu verstehen

Im Gegensatz zur Religionsphilosophie setzt die Theologie den Glauben der Kirche nicht nur in seiner Gegebenheit, vielmehr in seiner Wahrheit voraus. So gesehen ist der Theologe nicht vorurteilsfrei, seine Wissenschaftlichkeit ist eingebettet in den Glauben der Kirche. Dieser Glaube ist ihm aber nicht einfach vorgegeben, vielmehr gilt im dialektischen Miteinander, dass die Theologie dem Glauben der Kirche (in Schrift, Tradition und Lehramt) verpflichtet ist, der Glaube aber wiederum von der Theologie Interpretation, Vertiefung und Erweiterung in dem Bemühen um seine jeweilige Aktualisierung erfährt. Die Lebendigkeit des Glaubens (in ihrer Vorfindlichkeit und in ihrem Ideal) ist dabei Motivation der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten und -formen. Es entspricht dem Selbstverständnis von Theologie, dass sie sich nicht nur bewusst dem naturwissenschaftlichen Kriterium einer möglichen Falsifizierbarkeit ihrer Untersuchungsgegenstände entzieht, sondern zudem Voraussetzungen aufweist, die auch anderen hermeneutischen Wissenschaften fremd sind.

Die Prämisse einer Existenz Gottes, der sich in der Geschichte offenbart und (nicht nur) in seiner Gemeinschaft (der Kirche) bleibend anwesend ist, führt letztlich dazu, dass die Theologie nicht nur inhaltlich-thematisch, sondern auch in ihrem Vollzug nicht neutral oder indifferent dieser Wirkungskraft Gottes gegenüberstehen kann. So wie der Glaube als solcher Begegnung ist (mit Gott und in seiner Gemeinschaft untereinander), so ist dies auch ein Anspruch von und an die Theologie. Im wissenschaftlichen Diskurs gilt dies für die inhaltliche Auseinandersetzung ebenso wie für die Art und Weise der Argumentation und Ergebnissuche. Hierbei wird deutlich, dass es keine beliebige Verfügungsgewalt über die göttlichen Wahrheiten seitens der darüber nachsinnenden Menschen geben kann. Theologie setzt den Glauben voraus, um ihn neu zu reflektieren und zu aktualisieren, in die jeweilige Zeit hinein zu versprachlichen. Ebenso wird der Glaube des Theologen vorausgesetzt, welcher ja gerade in seinem Denken (und Handeln) zum Ausdruck kommt. Der Glaube ist auch und gerade in der theologischen Auseinandersetzung ein lebendiger – oder er ist nicht. Theologie ist somit nicht nur intellektuelle Angelegenheit des über Thematiken des Glaubens an Gott Reflektierenden, sondern auch personale Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Konsequenzen dieses Denkens. Davon hängt auch die Glaubwürdigkeit beider ab – des Glaubens wie der Theologie, des Glaubenden wie des Theologen. Theologie existentiell54 zu verstehen, bedeutet dann, die eigene Betroffenheit und Auseinandersetzung mit zur Sprache zu bringen. Es geht nicht vorrangig um ein Lehrgebäude theoretischer Glaubensinhalte, die der Person und dem Lebensschicksal des Einzelnen unverbunden gegenüberstünden. In dieser existentiellen Bedeutung gewinnt Theologie Lebendigkeit und Anschauungskraft, auch und gerade im Bemühen, den Glauben anderen zu vermitteln. Diese Vermittlungsfunktion von Theologie dient dann nicht nur dazu, einem kirchlichen Glauben das Wort zu reden, sondern meint immer auch den persönlichen Glauben, der mit dem Glauben der Kirche auch in einem Spannungsverhältnis stehen kann, solange die genannte Dialektik trägt, welche das theologisch bereichernde und schöpferische Moment darstellt, ohne das Theologie bloße Rekapitulierung im (bestenfalls) neuen Kleide wäre.

Dantes theologische Aussagen in seiner Göttlichen Komödie sind allesamt existentiell. Dadurch, dass sein eigenes Schicksal so dramatisch mit den Kernaussagen der Eschatologie und der Gnadenlehre verwoben ist, gewinnen die theologischen Aussagen eine persönliche Bedeutung, die größer für den Jenseitswanderer und den mit ihm gehenden Leser nicht sein könnte. In der Erfahrung des Jenseits wird überhaupt erst die eigene Existenz ins rechte Licht gesetzt. Die Perspektive nach dem Tod ist gleichfalls die Perspektive Gottes auf diese Welt und das irdische Leben, womit Letztere ihren eigentlichen, relativen Platz erhalten und damit allen Übererwartungen an sie zu entgehen vermögen. Der Mensch kommt dann erst zu seiner eigentlichen Existenz, wenn er lernt, sie sub specie aeternitatis zu betrachten, wenn er sie auf ein Fundament und ein Ziel gründen kann, das ihn auch dann sinnvoll leben lässt, wenn alles andere im Horizont seiner irdischen Lebenszeit sinnlos erscheinen muss. Insofern ist Theologie die Lehre von dem, was den Menschen im Innersten betrifft, ihm an die Existenz geht, und ihn zugleich über diese hinaus erhebt. Damit wird die christliche Eschatologie zum Schlüssel seiner Existenz und zum Schlüssel der ganzen Theologie. Der ›Mehrwert‹ des Glaubens beruht letztlich auf der Hoffnung, ohne die der eigenen Existenz eine unerschütterliche Verankerung fehlte und die angesichts der Bodenlosigkeit irdischer Lebenserfahrungen umso notwendiger erscheint. Andererseits erschüttert die eschatologische Dimension auch jegliches Bemühen, es sich in der Welt bequem zu machen. Hierbei wird die Dialektik von Zeit und Ewigkeit in der Krise deutlich, »durch die das Ewige jegliche Stabilität in der Zeit bedroht. Das Ewige muß darum als die Grenze der Zeit verstanden werden – nicht im Sinne einer quantitativen Begrenzung, sondern als kritische Qualifikation alles Zeitlichen durch das Ewige«.55

Die personale, existentielle Betroffenheit meint dabei nicht ein isoliertes, individuelles Geschehen. Lebendigkeit des Glaubens verlangt Begegnung. J. Ratzinger verankert die christliche Sichtweise der Unsterblichkeit im dialogischen Charakter der Beziehung von Gott und Mensch. Der Mensch ist deshalb unsterblich, weil er aus diesem Dialog mit Gott nicht hinausfällt. Beziehungen und Begegnungen der Menschen untereinander sind in Konsequenz ausgerichtet auf die Beziehung mit Gott und lassen sich von der ersehnten Begegnung mit Gott in der Ewigkeit her interpretieren : »In jeder zwischenmenschlichen Liebe liegt ein Ruf nach Ewigkeit, den sie aber nie einzulösen vermag. Gott tritt in Christus als Mensch in diese unsere Suche nach dem Wort der Liebe ein.«56 Dies trifft auch für Dantes Begegnung mit Beatrice zu, die in ihm die Sehnsucht nach der Liebesfülle Gottes durch ihre Begleitung weckt. Er erlebt und veranschaulicht theologische Inhalte durch seine Gespräche mit den verschiedensten Menschen in den drei Jenseitsreichen. Der Weg zur Begegnung mit Gott besteht aus der Auseinandersetzung und dem Dialog mit anderen. Theologie als Möglichkeit und Motivation zur Begegnung und Gemeinschaft hat ihr Bild in dem Sonnenhimmel der Theologen des Paradiso gefunden, wo selbst Siger von Brabant in den Reigen der Großen aufgenommen wurde (vgl. Par. X, 133–138). Die Aufgabe des Theologen (auch und gerade aus eschatologischer Perspektive) ist es, sich in diese gemeinschaftliche Suchbewegung hineinzubegeben, die doch nur Gott selbst (durch die Begegnung mit ihm) zum Ziel bringen kann.

1.6 Hermeneutik und Symbolgehalt theologischer Aussagen

Hermeneutik als die Lehre zwischenmenschlichen Verstehens nimmt die unterschiedlichen Wirklichkeitsdeutungen der Kommunikationspartner in den Blick, ihr jeweils eigenes hermeneutisches Vorgehen. Während F. Schleiermacher von der Möglichkeit eines kongenialen Verstehensprozesses, einem Ineinandergreifen von Verstehen und Sprache ausgeht57, weist H.-G. Gadamer auf den zirkulären Charakter aller Verständigung hin. Danach findet im gegenseitigen Verstehen eine Horizontverschmelzung der beiden – in einem bestimmten vorurteilsbehafteten Kontext sich befindenden – Interaktionspartner statt : In einem produktiven Vermittlungsprozess entsteht ein neues Sinnsystem.58 Nach P. Ricoeur kommt daher Verstehen auch nie zu einem Abschluss. Theologische Texte (zu denen die Divina Commedia hier gezählt wird) zu verstehen, bedeutet daher immer auch Verzicht und Verfremdung und geschieht aus und in dem Horizont des jeweiligen Interpreten. Die Annäherung an den Verständnishorizont des anderen ist notwendige Bedingung von Verstehen, bedeutet zugleich aber auch eine Grenzziehung. Verstehen ist demnach nicht Entdecken von Wirklichkeit, sondern deren Konstruierung im Horizont der eigenen, aktiven Wahrnehmungs- und Verstehensmöglichkeiten (bedingt etwa durch den sozialen und kulturellen Kontext). Rezeption und Produktion gehen dabei Hand in Hand, in diesem Kommunikationsprozess korrelieren Herauslesen und Hineinlegen von Bedeutung miteinander.

Wie eine theologische Hermeneutik begründet werden kann, legt Ricoeurs Symbolbegriff nahe. Das Symbol hat die Struktur eines Doppelsinns und ist stets überdeterminiert : »Symbol ist dort vorhanden, wo die Sprache Zeichen verschiedenen Grades produziert und sich nicht damit begnügt, etwas zu bezeichnen, sondern einen anderen Sinn bezeichnet, der nur in und mittels seiner Ausrichtung zu erreichen ist.«59 Symbole sind also bewusst mehrdeutig und interpretationsbedürftig. Die Verwendung der Symbolsprache impliziert daher einen Prozess der Verständigung, der prinzipiell unabgeschlossen bleiben muss. Verständnis und Missverständnis gehen dabei Hand in Hand. Konsequenterweise kann K. Berger von der Notwendigkeit der Fremdheit als Bedingung von Wirkung und von einer »Hermeneutik des Unverständnisses«60 sprechen. Das Symbol legitimiert sozusagen dieses nie ganz zu vermeidende Unverständnis. Die Symbolsprache verhindert ein vermeintlich gesichertes, vorurteilsfreies, verfügbares Wissen vom Verständnis des anderen. Insofern ist die Symbolsprache auch für die theologische Reflexion über Gott angemessen.

 

Da sich die Bedeutung des Symbols nie ganz erschöpft und es einen weiten Raum für seine Interpretation öffnet61 (im Gegensatz zu der Funktion des Zeichens, welches mit einem bestimmten Gegenstand korrespondiert), sind Symbole offene Vorstellungsträger mit einem Deutungsüberschuss. Theologische Hermeneutik kann mit Hilfe der Symbolsprache als stets neu deutungsbedürftig gesehen und theologische Rede damit als prinzipiell unabgeschlossen herausgestellt werden, was vom undurchdringlichen Wesen Gottes her einleuchtend erscheint. Einen umfassenden Versuch, theologische Sprache als Symbolsprache zu verstehen, unternimmt P. Tillich : »[…] Glaube als der Zustand des Ergriffenseins von dem, was uns unbedingt angeht, kennt keine andere Sprache als die des Symbols. Auf eine solche Feststellung erwarte ich immer die Frage : Nur ein Symbol ? Aber wer so fragt, beweist damit, dass ihm der Unterschied zwischen Zeichen und Symbol fremd ist. Er weiß nichts von der Macht der Symbolsprache, die an Tiefe und Kraft die Möglichkeiten jeder nicht-symbolischen Sprache übertrifft. Man sollte niemals sagen ›nur ein Symbol‹, sondern vielmehr : ›nichts Geringeres als ein Symbol‹.«62

Da Symbole über sich selbst hinaus verweisen63 und eine Tiefendimension der Wirklichkeit berühren, die ansonsten verdeckt bleiben würde, stellen sie einen Transzendenzbezug her und haben – theologisch gesprochen – einen eschatologischen Charakter (sie sind sozusagen der Realität immer voraus). Wird dieser Symbolcharakter theologischer Rede verkannt, droht sie zum Missverständnis zu werden, ziehen Fundamentalismen in sie ein.64

Die theologische Symbolsprache schützt somit das Geheimnis Gottes und stellt alle Theologie unter den eschatologischen Vorbehalt.

Symbole können auch Beziehungserfahrungen repräsentieren und dadurch in den spezifischen Glauben und die theologische Sprache des Glaubenden einfließen. Insofern lässt sich sagen, dass für Dante Beatrice Symbol der Gotteserkenntnis ist. Wenn Glaube (auch) ein Akt des Ergriffenseins, ein existentielles Widerfahrnis ist, dann stellt die Hineinnahme dieser Erfahrung in das Theologisieren nicht nur bei Dante einen Gewinn dar, der sich in einem tieferen Verständnis der theologischen Symbolsprache ausdrückt. Beatrice ist damit nicht einfach die Theologie, auch nicht für Dante ; aber sie ist ihm in genanntem Sinn Symbol dafür, wie Theologie sich selbst als Symbol(sprach) system verstehen kann. Beatrice wie die Theologie bleiben notwendigerweise interpretationsbedürftig : Der Bedeutungsüberschuss der gesamten Divina Commedia in ihrer Symbolsprache trifft v. a. ihren theologisch-eschatologischen Charakter. Die Rolle der Beatrice im Werk hilft dabei, seine theologischen Aussagen angemessen einzuordnen. Von daher verbietet sich gerade aus theologischer Perspektive eine abgeschlossene, vermeintlich-endgültige Deutung Beatricens wie der Göttlichen Komödie insgesamt.

1.7 Die Eschatologie als hermeneutischer Schlüssel aller Theologie

Nach dem klassischen Aufbau der Dogmatik ist die Eschatologie ihr letzter Traktat. Sie nähert sich den letzten Dingen, die ein Mensch nach seinem Tod erfährt. Da aber der eschatologische Niederschlag für den Glauben von größter Bedeutung ist, könnte sie ohne weiteres auch am Anfang aller theologischen Überlegung stehen.65 So wie vom Auferstehungsglauben der Jünger her sich das gesamte Neue Testament entfaltet und verstehen lässt (und darauf aufbauend die Theologiegeschichte bis heute), so stellt sich auch das einzelne christliche Glaubensleben von Beginn an unter den Horizont ewiger Vollendung in Gott.66 Die Eschatologie wird damit zum Schlüssel aller Theologie. Alles vorher Gesagte findet dort seinen Widerhall oder es verhallt am Ende des einzelnen Lebens. Der Eschatologie kommt es daher zu, die einzelnen dogmatischen Traktate, ja die Gesamtheit der Theologie, in Korrelation zu stellen im Blick auf das, was seine Relevanz behält über alle Raumzeitlichkeit hinaus.

Ohne eschatologischen Bezug hat das Scheitern kirchlichen und theologischen Bemühens das letzte Wort, obliegt die Theologie der fundamentalen Gefahr, sich selbst zu verabsolutieren. Das Mysterium Gottes wird erst in der Vollendung erkannt oder ER wird in seiner Fülle nie erkannt : Die letztlich zutreffende Theologie als Einsicht in das göttliche Geheimnis ist in der visio Dei beheimatet.67 Dante selbst bemerkt ja mehrfach, dass irdische Worte ungenügend sind, dass ein angemessenes Sprechen über die Gotteserfahrung nicht möglich ist. Dieser eschatologische Vorbehalt ist Kernbestand aller kirchlichen wie theologischen Aussage. Die Ideale, welche im Neuen Testament selbst – etwa in der Bergpredigt – zum Ausdruck kommen, sind daher nur im Blick auf die eschatologische Einholung all dessen, was hinter diesen Idealen zurückbleibt bzw. zurückbleiben muss, zu deuten und aufrechtzuerhalten. Die Differenz von Ideal und Wirklichkeit – auch in Fragen der Kirchendisziplin oder kirchlichen Morallehre – ist vor dem Hintergrund der eschatologischen Erwartung zu interpretieren als eine Spannung, die dem ›Schon-und-noch-nicht‹ der Reich-Gottes-Botschaft Jesu entspricht. Erst in der Verheißung Gottes auf Erlösung und Vollendung sind diese Ideale als solche dem Glaubenden trotz persönlichen Scheiterns Ziel und Motivation : Der Christ kann die Brüchigkeit und das Nichterreichen seiner Ideale – angesichts der Realität des irdischen Scheiterns – akzeptieren, weil sie letztlich eschatologisch verankert trotz allem ihre Gültigkeit bewahren.68 Im Horizont der christlichen Jenseitsvorstellung können Ideale letztlich niemals scheitern, müssen nicht aufgegeben werden. Die Dialektik von Diesseits und Jenseits stärkt somit beide Seiten : Alle irdische Sehnsucht hat in der Eschatologie ihren sie aufrechterhaltenden Horizont, alle Eschatologie verleiht der irdischen Realität gerade auch angesichts ihrer Brüchigkeit Sinn. Damit ist die Rede von einem jenseitigen Leben nicht Weltflucht, sondern Katalysator der Weltbejahung. Die Rede von einem Leben nach dem Tod dient dem Leben vor dem Tod. Es wäre zutiefst missverständlich, würde man Dantes Göttliche Komödie als Minderachtung irdischer Realitäten verstehen. Gerade weil er seinen konkreten Erfahrungen nicht seine Ideale opfern will, gerade weil das reale Leben für ihn als solches einen größeren Verstehenshorizont braucht, um daran nicht irrezugehen, wird die Jenseitswanderung für ihn zum Schlüssel seines Lebens, in das er gestärkt wieder zurückkehren kann. Seine eschatologische Erfahrung lässt Dante sein Leben wieder aufnehmen. Durch die hinzugewonnene Jenseitsperspektive schaut er gelassener auf die ihm in der Verbannung aus seiner Heimatstadt Florenz begegnende Missachtung. Seine Erlebnisse in der DC sind ihm Interpretationshorizont aller diesseitigen Erfahrungen. Damit ist ihm Furcht und Angst genommen, selbst die vor dem eigenen Tod.

Die Eschatologie als Lehre von dem, was letztlich im Jenseits auf den Menschen zukommt, ihn erwartet bzw. was er selbst erwarten, erhoffen kann, wird so zum Kriterium aller Theologie, die auf ihren jeweiligen eschatologischen Gehalt und Vorbehalt geprüft werden muss. Sie bildet den Interpretationsrahmen von Kirche und Glaube, die gerade dadurch sich als lebensbejahend und lebensermöglichend ausweisen. So wie die Auferstehung Jesu hermeneutischer Schlüssel zu den Evangelien und zur Entstehung der ersten christlichen Gemeinschaften ist69, so auch für alles Weitere, was auf diesem Glauben und dem darin enthaltenen Erweis der Gottessohnschaft Christi und seines Erlösungswerkes (die Verheißung der Auferstehung aller) aufbaut.

Allerdings weiß eine eschatologische Hermeneutik immer nur unter Vorbehalt Aussagen zu treffen – im permanenten Verweis darauf, dass die letztgültige und alles klärende Selbstoffenbarung Gottes jenseitige Verheißung ist. Sie hält sich zurück mit eindeutigen Bestimmungen Gottes Heilszusagen (oder -absagen) betreffend.70 Sie ist vorsichtig in der Definition letztgültiger Lehrsätze über das Wesen Gottes, da sie gegenüber der Offenbarung Gottes in seiner visio immer zurückstehen bzw. zurückbleiben muss.71 In dieser Hermeneutik ist alles Reden über Gott bestenfalls analoge Annäherung, zugleich aber auch Verheißung und Hoffnung, Vorarbeit.72 Aus dem Horizont der Eschatologie leuchtet die noch ausstehende Erfüllung des gläubigen Hoffens und Vertrauens auf. Auch die Möglichkeit theologischen und kirchlichen Scheiterns wäre in diesem hermeneutischen Rahmen mit ausgesagt, da die entscheidende Dimension der Einholung des Glaubens dort beheimatet ist, wo Gott von sich aus darüber befinden wird. Alle kirchliche Verkündigung, die von den Konsequenzen irdischen Lebens im Jenseits spricht, muss daher von Letzterem ausgehen. Der hermeneutische Schlüssel zum Diesseits ist das Jenseits, nicht umgekehrt.73 Da die Theologen aber über dieses Jenseits nur unter eschatologischem Vorbehalt sprechen können, muss dieser – bei aller analogen Koppelung von irdischem Verhalten und entsprechendem jenseitigem Niederschlag – in der Lehre der Eschatologie konstitutiv verwurzelt sein und von dorther auf das Gesamt der Theologie ausstrahlen. Damit mahnt Theologie zur Vorsicht, auch und v. a. sich selbst gegenüber. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass eschatologische Aussagen im Lauf der Dogmengeschichte unterschiedlich gedeutet wurden. Deshalb muss Eschatologie nach F.-J. Nocke den Fehler vermeiden, den Eindruck zu erwecken, „sie versuche eine Totalerklärung der Welt und eine verobjektivierende Beschreibung der Zukunft […].«74

1.8 Das Christentum und seine eschatologische Ausrichtung

Da die Annahme eines Jenseits Kernbestand nahezu jeder Religion ist, deren Wesen sozusagen kennzeichnet, stellt sich die Frage nach dem genuin christlichen Selbstverständnis über das, was nach dem Tod kommt und seine Bedeutung für den christlichen Glauben in seiner Gesamtheit.75 Hans-Jürg Braun hat in seinem Buch ›Das Jenseits‹76 unter religionsphänomenologischer Perspektive die unterschiedlichen Religionen und ihre Sichtweisen des Todes und des dadurch eröffneten Jenseits in den Blick genommen. Für das Christentum sieht er in Jesus einen Repräsentanten der Jenseitswelt.77 Er betont, Jesu Tod und »die wenig später erfolgende Auferstehung bilden einen Komplex, den man nicht auseinanderdividieren kann […]. Was in den Texten des NT angeboten ist, stellt keine biographische Berichterstattung, sondern eine Verkündigung, eine Predigt, eine religiöse Predigt dar, die sagt, dass Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits, Gott und Mensch auf eine besondere, neue, revolutionierende Weise zusammenfinden.«78 Bemühungen, den rein irdischen Jesus von der allgegenwärtigen Präsenz des Osterglaubens aus den Evangelien herauszuarbeiten, müssen daher scheitern.79 Der auferstandene Christus ist Schlüssel zum Verständnis der Evangelien und schließlich Schlüssel zum Verständnis des Glaubens der Kirche, der darauf aufbaut. Die Bedeutung Jesu für das Christentum leitet sich vom Osterereignis und -geheimnis ab. Vor diesem Hintergrund erhellt sich auch die ursprüngliche Faszination und existentielle Betroffenheit seitens seiner Anhänger, für die das Auferstehungsgeheimnis Initiationspunkt eigener Verkündigung und Weitergabe dieses Ereignisses und damit ihrer Jesusnachfolge wurde.80 Die Auferstehung Jesu als Beantwortung der Frage nach dem eigenen Tod ist damit Kern des urchristlichen Kerygmas.81 Dante knüpft nach Braun an diese zentrale Perspektive des Christentums an : »Die Verwandtschaft zur Antike bleibt erkennbar, doch die Sinngebung erwächst aus dem Christentum. Das Motiv des Besuches bei den Toten und die unvergessliche Vision gehören in den Rahmen des Christlichen, wo dieser Übergang eines Lebenden in die Jenseitswelt zum ganz Außerordentlichen menschlicher Existenz zu rechnen ist«.82 Der christliche Auferstehungsglaube bildet also den Interpretationsrahmen für Dantes Göttliche Komödie, so wie diese ihm umgekehrt mit künstlerischer Gestaltungskraft Lebendigkeit und Anschauung verleiht. Das Diesseits benötigt so das Jenseits, um überhaupt verstanden zu werden, was Dante an seinem und anderer Menschen Lebensschicksal (auf der Erde und nach dem Tode) verdeutlicht : »Es geht ihm als Mensch um sein Leben im Hier und Jetzt, aber dies ist nur dann relevant, wenn ›sein‹ Jenseits hinzugehört. Ohne Jenseits wird sein Diesseits gestört sein, zerfallen […]. Alles, auch das scheinbar Bedeutungslose, ist jenseitig gerichtet bzw. entrinnt einer Begegnung mit Jenseitigem nicht.«83

 

In religionsphänomenologischer Hinsicht verweist die Frage nach dem Wesen und der Zukunft des Christentums auf seine Eschatologie. Die Perspektive des Jenseits ist daher mehr als nur unaufgebbarer Bestandteil des christlichen Glaubens, sie kennzeichnet sein Wesen (wie das Wesen aller Religion).84 So stellt sich die Frage, ob das Christentum sich den jeweiligen Herausforderungen der Zeit stellen kann, ohne den Verweis auf die eschatologische Vollendung bzw. den eschatologischen Vorbehalt ihrer Mühe und Antwortversuche auf drängende Fragen hervorzuheben. Braun selbst sieht das Christentum unserer Zeit vor diesem Hintergrund in der Pflicht.85

Die Kirche ist aufgefordert, neu die Fragen der Eschatologie in Lehre und Verkündigung wachzuhalten. Letztlich und entscheidend geht es dabei schließlich um die drängende Frage des Menschen nach dem eigenen Tod, um seine Angst vor dem Sterben.86 Der Anthropologe und Kulturwissenschaftler Constantin von Barloewen sieht im Umgang mit dem Tod kulturgeschichtlich geradezu das Charakteristikum des Menschseins. In der Frage nach dem Tod erweist sich der Mensch als ein auf Religiosität hingeordneter : »Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Toten beerdigt. Hierin verbirgt sich die Wurzel des Religiösen […]. In diesem Sinne ist das Werden des Menschen zum Sapiens ein Werden des religiösen Menschen, des religiosus87 Den Umgang mit dem Tod sieht er entsprechend als Indikator für das religiöse Empfinden des Menschen.88 Die Gegenwart zeichnet sich nach Barloewen dadurch aus, dass sie den Tod möglichst verdrängt : »Die moderne Gesellschaft hat den Menschen seines Todes beraubt und droht, ihn nur zurückzuerstatten, wenn der Tod nicht dazu dient, die Lebenden zu belästigen.«89 Krankheit rücke so durch den Fortschritt der Medizin an die Stelle des Todes, der aus dem Alltag ausgebürgert werde. Der Tod löse die Sexualität als größtes gesellschaftliches Tabu ab.90 Wenn die Metaphysik in der Gegenwart ihre Bedeutung verloren hat91, dann folgert er daraus als Konsequenz für die spezifische Sichtweise des Todes : »Die Moderne hat eine grundlegende Neuartigkeit der Sinngebung des Todes erfahren. Es gibt kein Todesbild mehr, das in einen Sinnentwurf von der Welt im Ganzen eingebettet wäre […]. Es ist bezeichnend, dass wir der These von der Unvorstellbarkeit des persönlichen Todes fast nur im Denken der Neuzeit begegnen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass früher allgemein verbindliche Jenseitsvorstellungen ihre Allgemeingültigkeit verloren haben […]. Heute erleben wir eine Zäsur, bei der durch die Diesseitigkeit an die Stelle der Todesangst die Sterbefurcht tritt.«92

Der christliche Glaube bietet dem Menschen nach wie vor die Hoffnung auf ein Jenseits an. Er verweist so auf eine zusätzliche Dimension seiner Existenz, die Raum und Zeit übersteigt, transzendiert. Das Verständnis dieser Dimension der Ewigkeit kennzeichnet den spezifischen Beitrag der Eschatologie als theologischer Disziplin im Dialog mit anderen Wissenschaften. Gemeinsam ist allen nach Erkenntnis Suchenden die menschliche Problematik des Bewusstseins der eigenen Endlichkeit bzw. des eigenen Sterbenmüssens. Die Auferstehung Jesu greift das Problem des Todes auf und bietet eine Lösung an. Die Voraussetzung der zentralen Erlösungsbotschaft des Neuen Testamentes ist also unmittelbar an das Eingeständnis der eigenen Endlichkeit gekoppelt und baut sozusagen auf der empfundenen, existentiellen Betroffenheit des Einzelnen auf. Die Annahme der Auferstehungsbotschaft und in Folge die Annahme der christlichen Eschatologie verlangen zunächst, die Ernsthaftigkeit des Todes in den Blick zu nehmen, für den dieser Glaube ein Interpretationsangebot darstellt, mit dem Anspruch, darin leben und sterben zu können.

Die Göttliche Komödie nimmt den Tod in den Blick, den Tod der Verstorbenen, denen Dante begegnet, aber auch seinen eigenen, der ihm ja noch bevorsteht und den er in seinem Werk geistig vorvollzieht. Die Erfahrung des Sterbenmüssens und des Todes ist Voraussetzung für alles, was uns in der Divina Commedia begegnet. Insofern ist das Werk Schlüssel zum Geheimnis des Todes. So wie der christliche Auferstehungsglaube die Problematik der eigenen Endlichkeit zu lösen sucht, so baut die Jenseitswanderung auf der Erfahrung irdischer Begrenztheit auf – letztlich verdichtet in der existentiellen Betroffenheit angesichts des eigenen Todes. Nicht zuletzt die Not der empfundenen Endlichkeit menschlichen Lebens ist damit Motivation für Dante, die DC zu verfassen und Motivation des Lesers, sich mit ihr zu beschäftigen.