Dantes Theologie: Beatrice

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1.9 Ewigkeit als Realität oder Fiktion – Aufriss eines ›theologischen Konstruktivismus‹
1.9.1 Zum Grundverständnis des Konstruktivismus

Es gibt keine Beweise für das Jenseits und seine Beschaffenheit, auch keine theologischen. Der Glaube betont die Möglichkeit der Hoffnung, begründet diese mit der Auferstehung Jesu und seiner Reich-Gottes-Botschaft und ermutigt, vertrauensvoll das eigene Leben zu gestalten. Der Mensch hat also die Wahl : Er muss sich entscheiden, in welchen Deutungshorizont er den Tod (und damit auch sein Leben) hineinstellt. Fernab von der unergiebigen Suche nach Hinweisen oder gar Belegen für oder wider eine nachtodliche Fortexistenz des persönlichen Lebens in einer wie auch immer gearteten Jenseitigkeit ist daher der Blick auf den Vorgang selbst zu lenken : Wie und warum entwickelt der Mensch eine Jenseitsvorstellung ? Gewinnbringend für die theologische Reflexion ist dabei der Ansatz des Konstruktivismus. Bereits Ludwig Feuerbach hat in seiner Kritik des christlichen Jenseitsglaubens – und damit auch an seiner am Platonismus orientierten philosophischen Grundlegung (und der darauf aufbauenden Metaphysik) – eine projizierte Jenseitigkeit als reines Konstrukt des Menschen angenommen. Feuerbachs Projektionstheorie, nach der sich der Mensch nach seinen unerfüllt bleibenden Sehnsüchten ein Jenseits konstruiert, welches ihm die Erfüllung seiner Wünsche verheißt, leitet Jenseitsvorstellungen aus den Erfahrungen des Diesseits ab, die sich darin wiederum abbilden. Der Glaube wird so zur Projektionsfläche irdischer Nöte und Hoffnungen. Seine konsequente Forderung hieraus ist, dass aus Theologie Anthropologie werde, Jenseits und Gottesglaube aufgegeben werden, der Atheismus als wahrer Humanismus sich durchsetze.93

Im Gegensatz zu dieser den Glauben als Fiktion betrachtenden, religionskritischen Sicht Feuerbachs betont der Konstruktivismus der Gegenwart die Subjektabhängigkeit aller (!) Wirklichkeit. Auch die wissenschaftliche Weltsicht wird von ihm als notwendig konstruiert ausgewiesen. Diese Konstruktivität allen Denkens ermöglicht nun einen neuen Zugang der christlichen Eschatologie zum Diskurs der Wissenschaften.

Der Konstruktivismus geht der Frage nach, wie der Mensch wissen kann, was er zu wissen glaubt. Dieser Glaube entspricht nach Paul Watzlawick einer konstruierten Annahme. Er verweist darauf, »dass jede Wirklichkeit im unmittelbarsten Sinne die Konstruktion derer ist, die diese Wirklichkeit zu entdecken und erforschen glauben […]. Das vermeintlich Gefundene ist ein Erfundenes, dessen Erfinder sich des Aktes seiner Erfindung nicht bewusst ist, sondern sie als etwas von ihm Unabhängiges zu entdecken vermeint und zur Grundlage seines ›Wissens‹ und daher seines Handelns macht.«94 Der Konstruktivismus geht nicht mehr von einer Entsprechung von Wissen und Wirklichkeit aus, von einer Korrespondenz von Erkenntnisobjekt und -subjekt ; vielmehr spricht er von einer funktionalen Anpassung, über die hinaus nichts gesichert ist. Ernst von Glasersfeld verdeutlicht in seiner Darstellung des radikalen Konstruktivismus diese (An-)Passung bzw. ›fitness‹95, womit er den Zusammenhang von Erlebniswelt und dazu passenden, brauchbaren kognitiven Strukturen meint. Der funktional-pragmatische Weg des radikalen Konstruktivismus schreibe der Erkenntnistheorie lediglich »die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens«96 zu. Die Annahme einer Nichterkennbarkeit objektiver Strukturen in der Welt kann auch mit dem Begriff der Wahrheit (als übereinstimmend mit der ontologischen Wirklichkeit) nichts mehr anfangen. Erkenntnis fällt dabei ganz auf das erkennende Subjekt und seine Art der Wirklichkeitskonstruktion zurück. Hierbei wird die Erfahrungsabhängigkeit aller Erkenntnis betont, die mit der Zweckdienlichkeit des Erkannten in Zusammenhang steht. Im Verweis auf Jean Piagets Theorie der Assimilation und Akkommodation dienen nach Glasersfeld die passenden Denk- und Verhaltensweisen dazu, sich »eine mehr oder weniger verlässliche Welt zu bauen.«97 Dabei spielen Kausalität und Finalität in der Erkenntnis keine Rolle mehr. Vielmehr verweist nach Rupert Riedl eine evolutionäre Erkenntnislehre darauf, dass die Suche nach Ursachen die Welt in eine wahrgenommene und eine gedachte spaltet, »in Seele und Leib, in Geist und Materie. Dies ist die Wurzel des Streites zwischen Rationalismus und Empirismus, Idealismus und Materialismus, Geistes- und Naturwissenschaft, Zweck- und Kausalerklärung, Hermeneutik und Szientistik, der seit zweieinhalb Jahrtausenden unsere ganze Kulturgeschichte durchzieht.«98 Der Konstruktivismus sieht den Grund der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften in der Position einer vermeintlichen Ausschließbarkeit ihrer jeweiligen Erklärungswege.99 Die hermeneutischen und im Blick auf Finalität sich verstehenden Geisteswissenschaften wollen aber keine andere Welt erklären als die szientistischen, die Kausalität prüfenden Naturwissenschaften. Der Konstruktivismus will daher auch zur Überwindung der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften beitragen, indem er als gemeinsame Grundlage dienen kann.

1.9.2 Die Divina Commedia vor dem Hintergrund des Konstruktivismus

Obgleich die Zeit der Science-Fiction erst im 19. Jahrhundert (u. a. mit Jules Verne) anhebt, so kommt doch deren Charakteristik als Darstellung alternativer Möglichkeit realer Begebenheit auch durch Dantes Göttliche Komödie zum Ausdruck.100 Die fiktive Annahme intendiert im Gegensatz zur wissenschaftlichen Hypothese keinen Wirklichkeitsbeweis. Sie bleibt von Verifikation und Falsifikation unberührt. Aber auch die (natur)wissenschaftliche Erkenntnissuche lebt nach dem Konstruktivismus von ihren fiktiven Vorannahmen. Der Weg zu einer neuen Beleuchtung der Göttlichen Komödie im Wissenschaftsdiskurs ist damit – vor dem Hintergrund des Konstruktivismus – geebnet. Hierbei sind die von Paul Watzlawick aufgezeigten Merkmale des konstruktivistischen Verständnisses hilfreich wie die wirklichkeitsschaffende Weltsicht, das Phänomen der Rückbezüglichkeit, die Bedeutung des analogen Sprechens, die Stufen des Wissens und die Auffassung, dass Wirklichkeit Ergebnis von Kommunikation ist.

Nach Watzlawick erschafft der Mensch seine Wirklichkeit : »Was wir die Wirklichkeit nennen, wird also nicht von uns entdeckt, sondern recht eigentlich geschaffen.«101 Insofern ist der Mensch auch für seine wirklichkeitserschaffende Weltsicht verantwortlich. Dante erschafft sein Jenseits mit einer bestimmten Intention : Er konstruiert es in Anlehnung an die Kunst und Theologie seiner Zeit, um das Diesseits besser zu verstehen.102 Er erschafft eine Wirklichkeit, für die er nicht nur Verantwortung trägt, sondern wodurch verantwortliches Handeln im Diesseits einen Sinn- und Deutungshorizont (vom konstruierten Jenseits her) erfährt.

Das Phänomen der Rückbezüglichkeit103, welches im Konstruktivismus eine zentrale Rolle einnimmt, liegt dieser doppelten Konstruktion zugrunde, denn Dante konstruiert nicht nur das Diesseits aus der Perspektive des Jenseits, ebenso wird das Jenseits von der diesseitigen Erfahrung her neu interpretiert, von der Perspektive des Diesseits her kreativ konstruiert. Diesseitiges und Jenseitiges legen sich somit gegenseitig aus, sie sind in Dantes Werk zirkuläre Erscheinungen (circuli vitiosi), ihre Kommunikationsstruktur ist letztlich kreisförmig. Dante begibt sich entsprechend in seiner Jenseitswanderung selbst in diese Rückbezüglichkeit hinein : Seine irdischen Erfahrungen deuten das Jenseits, dieses wiederum ist ihm Interpretation seines irdischen Schicksals, das ihm ja auch Zukunft ist. Die so verstandene Rückbezüglichkeit in der Sichtweise des Konstruktivismus öffnet eine neue Perspektive »der Partizipation und Interpretation, in der Subjekt und Objekt untrennbar miteinander verbunden sind […]. Daß die Welt von so plastischer Beschaffenheit sein soll, weder subjektiv noch objektiv, weder einheitlich noch trennbar, noch zweierlei und untrennbar, ist faszinierend.«104

Eine christliche Sicht der Rückbezüglichkeit leuchtet generell im Verständnis des ›Schon-und-noch-nicht‹ auf : Die Erfahrung des Heils setzt seine Erwartung als endgültige Erfüllung voraus, die endgültige Erfüllung ihre Vorerfahrung als Verweis darauf. Wer nach dem Heil sich sehnt, hat es implizit schon erfasst. Ewigkeit ist daher schon immer, fällt mit der Zeit zusammen.105 Zeit ist auf Ewigkeit rückbezogen, diese auf die Zeit, in welcher Dante sich mit seiner Jenseitigkeit konfrontiert sieht.

Ein weiteres charakteristisches Merkmal bei Dante wie im Konstruktivismus ist die Bedeutung analogen Sprechens. Watzlawick unterscheidet zwischen digitaler und analoger Kommunikation. Letztere fällt in den Bereich der menschlichen Beziehungen. Digitale Kommunikation erweist sich hierbei als ungenügend. Der digitale Inhaltsaspekt wird stets von dem ihn beherrschenden analogen Beziehungsaspekt überlagert.106 Die Übersetzung des jeweils Gemeinten ist in beide Richtungen notwendig, wobei die Übersetzung vom Digitalen zum Analogen Verlust an Information, die Übersetzung vom Analogen ins Digitale Verlust von Beziehungsrealität mit sich bringt. Auf die analoge Welt jenseitiger Erfahrung in der Göttlichen Komödie bezogen bedeutet dies, dass im Bereich der Theologie durch eine derartige Darstellung Inhalte zugunsten von Beziehungsgeschehen zurückstehen müssen. Andererseits verlangen die geschilderten Begegnungen ihre inhaltlich-theologische Reflexion. Ohne die Begegnungen im Jenseits wäre die eschatologische Wanderung Dantes empfindungsleer, ohne theologische Bedenkung wäre sie blind.

 

Schließlich unterscheidet Watzlawick drei Stufen des Wissens : Wissen von etwas (das über die Sinne vermittelt wird), Wissen über etwas (ein Metawissen zweiter Ordnung) und schließlich ein Weltbild als sinnvolle Prämisse der eigenen Existenz. Während auf der zweiten Stufe Anpassungen kein Problem darstellen, würden auf der dritten Stufe Widersprüchlichkeiten zur Sinnlosigkeit des Ganzen und damit auch zur Sinnlosigkeit der eigenen Existenz führen. Die Frage nach dem Sinn und ihre Beantwortung in einem bestimmten Weltbild sind allerdings existentiell von grundlegender Bedeutung und gehören dieser dritten Stufe an. Eine Änderung auf dieser dritten Stufe kann nach Watzlawick nur durch ein intuitives, empathisches Erlebnis hervorgerufen werden. Um das eigene Weltbild noch einmal zu übersteigen, bedarf es daher einer Erfahrung, die alles Bisherige in Frage stellt. Für Dante wird seine Jenseitsreise zu dieser Erfahrung. Sein eigenes Weltbild wird aus der Perspektive der Ewigkeit in Frage gestellt und neu interpretiert. Ermöglichungsgrund dieser Erfahrung ist seine Liebe zu Beatrice ; sie lässt ihn zunächst durch die Hölle gehen als Voraussetzung, für das Purgatorium und Paradies überhaupt bereit zu sein.107

Gewinnbringend für eine neue theologische Interpretation der Göttlichen Komödie ist auch die Aussage des Kommunikationswissenschaftlers Watzlawick, »dass die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist.«108 Somit steht nicht die Suche nach Ursachen des Verhaltens im Vordergrund (welche letztlich ohnehin nicht befriedigend abgeschlossen werden kann), sondern die Frage nach den kommunikativen Gesetzmäßigkeiten, die zu einer Stabilisierung (bzw. Destabilisierung) des zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechtes beitragen : »Daher kann in allen Fällen, in denen das Warum ? einer Verhaltensform ungeklärt bleibt, die Frage : Wozu ? trotzdem noch eine vollgültige Antwort geben.«109 Schließlich ist Watzlawicks metakommunikatives Axiom »Man kann nicht nicht kommunizieren«110 auch auf die Kommunikation mit Gott bzw. auf die Auseinandersetzung mit der Sinnfrage anzuwenden – dies vor dem Hintergrund, dass jegliche Kommunikation einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt aufweist, wobei Letzterer den Ersteren im Sinne einer Metakommunikation bestimmt : »Der Inhaltsaspekt vermittelt die ›Daten‹, der Beziehungsaspekt weist an, wie diese Daten aufzufassen sind.«111 Wenn Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist, dann sind die Begegnungen Dantes im Jenseits als wirklichkeitsschaffend für das Verständnis des Werkes von zentraler Bedeutung.112 Die Kommunikation Dantes mit den Menschen im Jenseits lässt dessen Wirklichkeit erst lebendig werden, konkret aufscheinen.

1.9.3 Der Konstruktivismus als Hermeneutik der Eschatologie ?

Watzlawick unterscheidet zwischen einer Wirklichkeit erster Ordnung, in welcher Experiment und Beobachtung ihren legitimen Ort haben, und einer Wirklichkeit zweiter Ordnung, durch die den Fakten erster Ordnung Sinn, Bedeutung und Wert erst verliehen werden. Innerhalb des naturwissenschaftlichen Paradigmas bleiben Letztere Desiderat. Theologie ist in diesem Sinn sozusagen Wissenschaft zweiter Ordnung. Wenn Watzlawick allerdings schreibt, »dass die Welt weder einen Sinn noch keinen Sinn hat – dass die Sinnfrage sinnlos ist. Was die Welt nicht enthält, kann sie auch nicht vorenthalten«113, so grenzt er damit die Möglichkeiten konstruktiver Weltsicht ein. Das Feld konstruktivistischer Auseinandersetzung und Interpretation bleibt auf das in der Welt Vorfindbare beschränkt. Hintergrund von Watzlawicks Reserviertheit gegenüber universalen Sinndeutungen ist seine skeptische Sichtweise der Ideologien (in) dieser Welt. Seine Überlegungen drehen sich dabei um die Paradoxien des Ewigkeitswertes und derer von Vollkommenheit und Unendlichkeit. Auf endliche Lehren und auf im Diesseits zu verwirklichende Ideologien bezogen muss sich Enttäuschung und Ernüchterung zwangsläufig einstellen, oftmals erst nachdem die ideologische Irrlehre selbst viele Opfer kostete, um die irrige Position so lange als möglich aufrechtzuerhalten. Nach dem Konstruktivismus kann sich jegliche Lehre nur aus sich heraus begründen (womit wiederum das Problem der Rückbezüglichkeit angesprochen ist). Was die Ideologie auch zu erklären vermag, ihr Erklärungssystem selbst bleibt auf der Metaebene unerklärt.

Das Christentum unterscheidet sich jedoch nach Watzlawick von politischen Ideologien, da es gerade über die Welt hinaus verweist.114 Der eschatologische Metarahmen ist zwar Konstruktion, vermag aber die Spannung der Widersprüchlichkeit von Ideal und Wirklichkeit – im Gegensatz zu den immanenten Ideologien dieser Welt – aufzulösen. Insofern könnte ein theologischer Konstruktivismus, der um die Möglichkeit und Notwendigkeit konstruierter Reflexion über Gott, die Kirche, das Heil des Menschen weiß, die Sinnfrage gerade deshalb angehen, weil hier etwas in den Blick genommen wird, was die Welt so nicht enthält und so nicht in ihr einfach vorfindbar wäre.

Ein eingestandener theologischer Konstruktivismus bekennt sich dazu, eine bestimmte und konstruierte Wirklichkeitssicht zu vertreten.115 Er baut auf der Grundannahme des Konstruktivismus auf, dass auch jede innerweltliche und wissenschaftliche Sichtweise sich letztlich als konstruiert erweist.116 Innerhalb aller Konstruktion hat aber die Sinnfrage ihren legitimen Ort, ist treibendes Moment der Konstruktion selbst, die damit eine sinnstiftende werden kann.117 Auch wenn Watzlawick jeglicher Metaphysik kritisch gegenübersteht, so ist für ihn doch unbezweifelbar, dass Menschen aufgrund ihrer existentiellen Fragen und Nöte dazu veranlasst werden, ihre Welt zu deuten (was auch immer wieder durch ihre selektive Aufmerksamkeit Bestätigung erfährt). Im Gegensatz zu Watzlawicks Verständnis der selbsterfüllenden Prophezeiung118 kann sich der Glaubende sein Paradies auf Erden aber nicht erschaffen. Die Verheißung bezieht sich in der Spannung des ›Schon-und-noch-nicht‹ auch und gerade auf ein erhofftes Jenseits. Bleibt zu fragen, ob innerhalb des Konstruktivismus die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod mit einer Realität begründet werden kann, die unabhängig von der menschlichen Konstruktion als Jenseits tatsächlich existent ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Konstruktivismus insofern als möglicher Schlüssel zum Verständnis eschatologischer Aussagen dienen kann, als er die Notwendigkeit und Legitimation analoger Sprechweise über das Jenseits unterstreicht. Die Hermeneutik als Methodik der Geisteswissenschaften unterscheidet dabei zwischen Sinn und Wahrheit der jeweiligen Aussage.119 Im Bereich der systematischen Theologie gilt allerdings, dass die theologische Hermeneutik in Entsprechung der Grundstruktur des christlichen Glaubens angewandt wird.120 Letztlich ist der Glaube – dessen Angebot einer Sinnstruktur für das Leben – Kriterium seiner Hermeneutik, die wiederum diesen in seiner eigentlichen Bedeutung (etwa in der Unterscheidung von Geist und Buchstabe) zur Geltung bringen will angesichts veränderter Bedingungen der Gegenwart (auch und v. a. im interdisziplinären Wissenschaftsdialog). Entscheidend ist dabei, ob der Konstruktivismus selbst den Glauben derart subjektiviert, dass er dessen Heilslehre selbst als bloßes Konstrukt relativiert und so den Glauben im Modus des ›So- tun-als-ob‹ verankert.

1.9.4 Eine Eschatologie des ›Als Ob‹ ?

Im Grunde genommen hat bereits Hans Vaihinger in seinem Werk ›Die Philosophie des Als Ob‹121 das Wesen des wissenschaftlichen Konstruktivismus herausgearbeitet. In seinem Vorwort zur 9. und 10. Auflage schreibt er : »Eine besonders wertvolle Befreiung scheint die Philosophie des Als Ob denen gebracht zu haben, welche die in der Religion liegenden ewigen Werte für die Menschheit erhalten wollen, trotz dem Anstoß, den sie an den Fesseln der Formen und Formeln, an dem Buchstaben und an den Buchstaben-Gläubigen nehmen. Jene freieren Geister, jene offeneren Seelen können jetzt ruhig und anstandslos diese Formen und Formeln verwenden, weil sie wissen, dass alles menschliche Denken an solche Formen gebunden ist«122. Vaihinger sieht das ›Als Ob‹ als eigentliches Apriori des menschlichen Geistes, welches ihn konstitutiv auszeichnet. Vorstellungen, die unbewiesen bleiben, im Grunde genommen sich als falsch erweisen müssen, verlieren deshalb noch lange nicht ihre Bedeutung, bleiben nützlich und unentbehrlich. Auch in der Religion kommen die Menschen »zum Richtigen auf Grundlage und mit Hilfe des Falschen.«123 Vaihinger nimmt das menschliche Denken und Verstehen als solches in den Blick, um zu zeigen, dass im Grunde keine Wissenschaft ohne ›Als Ob‹-Annahmen auskommt. Er nennt seine Position einen idealistischen Positivismus, der einerseits auf I. Kant aufbaut124, andererseits den Wert religiöser Fiktion anerkennt, zunächst jedoch nur in ästhetischer und ethischer Hinsicht.125

Die wissenschaftliche Fiktion unterscheidet sich nach Vaihinger von der religiösen dadurch, dass in Letzterer die Imaginationen am Werk sind, »denen kein Wirkliches entspricht.«126 Für jede Art von Fiktion gilt jedoch, dass sie durch ihre pragmatische Zweckmäßigkeit legitimiert wird. Im Gegensatz zur Hypothese fällt die Fiktion als provisorisches Hilfskonstrukt weg, sobald sie entbehrlich wird.127 Das Erfundene dient dem Verstehen, welches ansonsten nicht möglich ist (jegliche Art der Kategoriebildung ist nach Vaihinger bereits Fiktion). Fiktionen128 versteht er daher als Kunstgriffe des Denkens, die als solche psychischer Natur sind. Er führt die Fiktion als dritte Möglichkeit der logischen Erkenntnissuche neben Deduktion und Induktion an. Sie bedient sich dabei notwendiger Denkumwege und gleicht einer Brücke, die man nach ihrer Überquerung nicht mehr benötigt. Fiktionen sind also Umwege bzw. »Durchgangspunkte«129 des Denkens. Die fiktive Theorie ist dabei Mittel und muss sich in ihrer praktischen Zweckmäßigkeit bewähren.

Durch die Fiktion wird es nun auch möglich, Realität und Ideal zusammenzuschauen, wobei Vaihinger sich auf die Empfindungen des Menschen stützt, auf denen das Denken aufbaut (und zu denen es wieder zurückführen muss, soll es in Kontakt mit der Praxis des Lebens verbleiben). Wege und Umwege des Denkens dürfen hierbei nicht mit dem Empfindungsleben selbst verwechselt werden, denn »wirklich ist nur das Empfundene, das in der Wahrnehmung uns Entgegentretende, sei es innerer oder äußerer Natur.«130 In der Empfindung lassen sich allerdings Wahrheit und Irrtum nicht mehr adäquat voneinander trennen, beides vermischt sich ; Wahrheit kann in Gestalt des zweckmäßigen Irrtums erscheinen. Denken und Sein fallen dementsprechend auseinander, aber obgleich das Denken die Wirklichkeit verfälscht, erweist es sich in der Praxis doch als brauchbar.

Von dieser Philosophie des ›Als Ob‹ zu einer Religion bzw. Theologie des ›Als Ob‹ kann es nur ein kleiner Schritt sein, wie Vaihinger selbst in Bezug auf den Aufklärer Friedrich Karl Forberg aufzeigt, dem er attestiert, Kants sogenannten ethikotheologischen Gottesbeweis – mit seiner Voraussetzung eines Jenseits – in seiner wahren Bedeutung erkannt zu haben. Die Annahme Gottes hätte dabei nur praktische Bedeutung für das moralische Handeln des Menschen. Es wird der gesellschaftliche Nutzen von Religion betont, ihre theoretischen Voraussetzungen (die Existenz Gottes, ein Jenseits etc.) aber geleugnet. Religion als Appendix moralischer Pflicht müsste in diesem Zusammenhang darauf verzichten, von der Realität eines erhofften Gottesreiches im Jenseits auszugehen. Das Streben nach moralischer Vervollkommnung wäre als Selbstzweck legitim und notwendig, der Weg also das Ziel, da es ein solches nicht gibt/geben wird.131 So zu leben und zu glauben, als ob ein Reich Gottes im Jenseits den Menschen erwarte, auch wenn zugleich die Überzeugung vorherrscht, dass es gar nicht existiert, wäre letztlich der von der Moral geforderte Weg des pflichtbewussten Christen.132

Während Vaihingers Philosophie des ›Als Ob‹ die Möglichkeit einer jenseitigen Welt verleugnet (obgleich er deren praktischen Nutzen betont), ist der gegenwärtige Konstruktivismus hinsichtlich der Frage nach der Religion und der Existenz Gottes zurückhaltender. Das ›Als Ob‹ verweist auf die Widersprüchlichkeit, etwas im Glauben anzunehmen bei gleichzeitiger innerer Überzeugung, dass es als solches gar nicht existiert. Dem Konstruktivismus hingegen geht es v. a. darum, die Konstruktivität von Wirklichkeit in allen Bereichen hervorzuheben und ein vermeintliches Wissen über die Wirklichkeit als solches zu entlarven. Die theologische Vorstellungswelt, wie sie dem Leser in Dantes Göttlicher Komödie begegnet, ist im Rahmen des Konstruktivismus durchaus interpretierbar. Auch wenn dieser sich einem transzendentalen oder metaphysischen Verständnis der Weltwirklichkeit verschließt, so erkennt er doch die Notwendigkeit der Sinnfrage und ihrer Beantwortung an – eine für den Konstruktivismus selbst innerhalb seines Selbstverständnisses von ihm her nicht einzuholende Herausforderung.133

 

Auf der anderen Seite wird deutlich, dass mit Dante auch die christliche Eschatologie nicht von einem ›Als Ob‹-Verständnis ausgeht. Auch wenn man die DC so lesen kann, dass damit im Diesseits für Dante unerreichbare Ideale aufrechterhalten werden, so lebt sein Werk gerade dadurch, dass ihr Autor von der Existenz und schließlichen Einholung dieser Ideale (im Jenseits) überzeugt ist. Für Dante ist niemals der Weg das Ziel ; vielmehr bestimmt umgekehrt das Ziel den Weg : Die Anschauung Gottes in der Ewigkeit wird ihm zum Kriterium für alles davor und danach in Diesseits und Jenseits Erfahrene. Zugleich gilt aber auch, dass Dantes Gedankenwelt nicht als objektiv wirkliches Geschehen verstanden werden kann. Es steht in Analogie zu irdischer Welterfahrung und stets unter dem eschatologischen Vorbehalt, der ja gerade auch für eschatologische Aussagen selbst gilt. Seine Dichtung ist auch er-dichtet. Erdichtete Vorstellungen sind aber immer mit Phantasie und Realitätsübersteigerung vermischt. Wenn man Dante und die ihm als Korrektiv mitgegebene Eschatologie der Theologie als begründete Hoffnung auf eine Wirklichkeit hinter bzw. über der diesseitigen ansieht, so kann man die folgende Aussage Vaihingers auch als Reverenz für Dantes Divina Commedia lesen : »Die Religion der Zukunft kann nur als Dichtung stehen bleiben.«134 Dem Leser bleibt es zu entscheiden, ob in der Dichtung mehr Wahrheit seiner existentiellen Hoffnung steckt als in der sogenannten Wirklichkeit dieser Welt.135