Dantes Theologie: Beatrice

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1.10 Hermeneutik in konstruktivistischer Perspektive als Bezugsrahmen der theologischen Interpretation der Divina Commedia

Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, die Göttliche Komödie als (auch) theologisches Werk herauszustellen. Damit wird implizit ihrem Verfasser Dante theologische Kompetenz zugestanden, er selbst als ›Theologe‹ ausgezeichnet. Die folgenden Ausführungen, die sich an einen Gang durch das gesamte Werk anlehnen – allerdings beginnend mit den Gesängen des ›Irdischen Paradieses‹ aufgrund der eschatologisch-bedeutsamen Perspektive des Paradieses als Ziel und somit Maßstab aller Jenseitsvorstellung – setzen jedoch keine spezifische Theologie voraus, die sich ja nach zeitlichem Kontext und kultureller Einbettung sowie individueller Präferenz des jeweils Theologisierenden auch divergierend und damit für den binnentheologischen Diskurs gewinnbringend und innovativ präsentiert.

So bietet auch die Divina Commedia keine umgrenzte, systematische Theologie ; als Dichtkunst leben alle theologischen Aussagen geradezu von ihrer bleibenden Symbolkraft, Fiktionalität und Interpretationsbedürftigkeit. Dante bietet auch unabhängig von der lyrischen Form keine typisch mittelalterlich-scholastische Theologie. Er denkt selbstständig und zuweilen auch mutig, wenn er etwa Heiden ins Paradies und Päpste in die Hölle versetzt. Der theologische Beitrag und Akzent der Göttlichen Komödie liegt daher weniger auf ihrer inhaltlichen Ebene als vielmehr in der Art und Weise ihrer Vermittlung, die stets personal in Begegnungen geschieht.

Der Anspruch dieser Arbeit, die Liebe als Zielgrund menschlichen Strebens in der Divina Commedia zu untersuchen, fokussiert also keine Theologie im Sinne eines geschlossen-systematischen Systems, vielmehr den personalen Bezugspunkt des Werkes und der darin aufscheinenden theologischen Qualifizierung, ist doch der ›Gegenstand‹ aller Theologie personal, Gott als Beziehung gar trinitarisch und dreipersonal.

Wenn die Liebe als Grund und Ziel menschlichen Strebens ausgezeichnet ist, dann birgt somit zunächst ihr Antriebs- und Sehnsuchtsmoment im Spannungsgefüge eines ›Wovonher › (Dantes Erfahrung mit der irdischen Beatrice) und eines ›Woraufhin‹ (die Liebe des dreieinigen Gottes als Hoffnung auf Erfüllung der Kontingenz irdischer Liebe) entscheidenden Wegcharakter, wobei Beatrice in ihrer Bedeutung innerhalb der Göttlichen Komödie diese dynamische Liebesbewegung ermöglicht und versinnbildlicht. Dantes Jenseitsweg ist insofern auch immer schon Ziel, als durch das Geleit Beatricens die Dynamik der Liebe immer weiter gesteigert wird bis sie zurücktritt, da sie selbst nur Ermöglichungsgrund ist für und Hinweisfunktion hat auf Gott, der die Liebe ist.

Ausgangspunkt bleibt jedoch die Person Dantes, die wir aus heutiger Perspektive nicht letztlich als solche in ihrem historischen Befinden und ihrer Intentionalität herausstellen können, die Bedeutung Beatricens für ihn (in ihrer Differenz aber auch notwendigen Integration von irdischer und himmlischer Erfahrung) wie auch alle anderen Begegnungen im Werk. Dazu kommt entscheidend die Begegnung des Lesers mit den Personen des Werkes hinzu, bedingt durch seine jeweilige Subjektivität und entsprechende Perspektive, was einen hermeneutischen Bezugsrahmen verlangt, der die subjektbedingte Verfassung menschlichen Erkennens und Empfindens als Voraussetzung jeglicher Interpretation anerkennt. Hierzu bietet sich der Konstruktivismus mit seinem Verständnis der Beobachtungs- und Erfahrungsabhängigkeit des Weltverstehens an.

Zunächst nimmt das lebendige Beziehungsgeschehen (des Autors mit seinem Werk, der Personen im Werk, des Lesers mit dem Werk) seinen Ausgangspunkt aus der Dichtung in ihrer eigenen Dynamik und ihrem prinzipiellen Verweischarakter (entsprechend der immer wieder betonten Unzulänglichkeit von Dantes eigenem künstlerischen Schaffungsvermögen) auf das ausstehende Erkennen, welches Gnade und damit vom menschlichen Erkenntnisvermögen letztlich doch unableitbar ist. Der Dialogpartner dieser fiktiven Jenseitsdichtung ist der sich in diese jenseitige (und damit vorbehaltliche) Vorstellungswelt mit hineinbegebende Leser und Interpret. Dantes Konstruktion bzw. Fiktion ist damit Ermöglichung und Einladung für den Leser, sich in diese Konstruktionalität und Fiktionalität mit hineinzubegeben, niemals vergessend, dass er selbst wiederum nicht vorurteils- und interessensfrei seine Begegnung mit Dante und seinem Werk konstruiert. Der zirkuläre Konstruktionsprozess erweist sich vor diesem Hintergrund als stets neu gestaltbar und prinzipiell unabgeschlossen. Das Interesse der Perspektive der Begegnung des Lesers mit dem Werk nimmt somit gerade diese Beziehung in den Blick in ihrer beidseitigen Bedingtheit.

Die vorliegende Dissertation mit ihrem theologischen Bezugspunkt bringt die Sichtweise des gläubigen Rezipienten mit ein und erweitert durch diese Subjektorientierung den literatur- bzw. philologiehistorischen Zugang. Der Text der Dichtung wird damit zum Anlass einer konstruktivistisch fundierten Auseinandersetzung, als Gegenstand wird er als Voraussetzung hierfür zum Ausgangspunkt konstruierender, subjektbedingter Dynamik des Verstehens und vermag so existentielle Bedeutsamkeit zu gewinnen.

Die Fiktionalität der Divina Commedia steht allerdings ihrem Wahrheitsgehalt nicht entgegen, insofern konstruktivistisch Wahrheit immer eine er- und gefundene ist. Die Wahrheit erschließt sich in der Konstruktion der oben angesprochenen Zirkularität von Text und Leser in einem beidseitig und gegenseitig sich erschließenden Konstruktionsprozess. Fiktion ist damit mehr als willkürliche Erfindung einer nicht als real gesicherten Wirklichkeit, sondern durch die mit ihr verbundene und zu suchende Deutung ihrer Aussage wächst aus ihr Bedeutung in der Auseinandersetzung (Begegnung) der sich dabei konstruierenden existential-bedeutsamen Inhalte.

Auch die poststrukturalistische136 bzw. dekonstruktivistische Position zur Fiktionalität von Sprache geht von der Korrelation Ersterer mit der sozialen Wirklichkeit und dem Subjektempfinden der Rezipienten (die stets auch Konstruierende sind, insofern die dargebotene Sprache durch sie verstanden, interpretiert wird und weiterführende Versprachlichung findet) aus. Wenn Sprache Realität erst erschließt und kontingente Möglichkeitsräume für den Lesenden (wie Sprechenden, Hörenden) schafft, dann ist ihr innovativ-kreativer Anspruch und ihre Aufnahme selbst wirklichkeitsverändernd und -setzend. Sinnkonstruktionen erweisen sich daher als prinzipiell offen und veränderbar. So verweisen die poststrukturalen Konzepte der Fiktion auf die Bedeutung der Sprache als (Er)Dichtung, als Ausgedachtes, da eine derartige Entlarvung der Sprache als Fiktion zugleich über die Frage nach der realen Vorfindbarkeit des Ausgesagten in der materialen Weltwirklichkeit hinaus verweist. Die Phantastik von Dantes Jenseitswelt lehnt sich ja zunächst an die Realistik der irdischen Welt an. Sprache erweist sich darüber hinaus jedoch als weltgestaltende sowie werthaltige Position, ist performativ.

Für einen hermeneutischen Zugang, der den Konstruktivismus bei der Untersuchung der Fiktionalität sprachlicher Repräsentationen berücksichtigt, erweist sich dieser Prozess als stets unabgeschlossen-offen, d. h. es kann ihm nie nur um vermeintlich rein Faktionales gehen. Wenn sich die fiktionale Darstellung an faktionale anlehnt, markieren daher beide notwendig diesen Konstruktionsprozess, da andererseits die reine Fiktion eine Begegnung von Text und Leser verunmöglichen würde, insofern sich eine solche immer an die Erfahrungswirklichkeit und -möglichkeit von Letzterem anschließt, darüber aber stets auch hinausgehend. So gilt entsprechend für eschatologische Aussagen, dass sie in Analogie zu irdischer Weltwirklichkeit stehen müssen, um überhaupt aussagbar zu sein. Gerade diese analoge Rede impliziert aber bereits ihr eigenes Ungenügen und ihre prinzipielle Unähnlichkeit mit dem Gemeinten, welches raumzeitlich eben nicht erfassbar ist.

Wenn nun Hans Vaihinger in seinem Hauptwerk Die Philosophie des Als-ob erkenntnistheoretisch Fiktion als bewusste Annahme nicht belegbarer oder gar falscher Tatsachen um ein bestimmtes Ziel zu erreichen akzentuiert, so stellt er ihre dienende Funktion heraus, d. h. auch ihre Verüberflüssigung nach Zweckerfüllung. Eschatologisch gesehen kann diese Sichtweise auf Dantes Werk wie auf alle eschatologischen Aussagen überhaupt übertragen werden, insofern sie auf etwas verweisen, das als solches raumzeitlich nicht eingeholt werden kann, sich daher als transzendental-jenseitig versteht und in einer angenommenen (geglaubten) Einholung nach dem Tod als überholt erweisen muss (und gegebenenfalls vor dem Hintergrund dieser Erfahrung auch als fehlerhaft, korrigiert). In diesem Zusammenhang ist der Verweis von G. Gabriel, dass fiktionaler Sprache Referenzialisierbarkeit ermangele137, d. h. sie keine Referenz in der (positivistisch verstandenen) Weltwirklichkeit habe und daher keine reale Erfüllung aufweist bzw. intendiere, als Herausforderung zu sehen, eschatologische wie generell theologische Sprache neu zu überdenken. Wenn die Referenzialisierbarkeit fiktionaler Sprache ihren Gehalt auszeichnet und daher Kriterium ihrer Bedeutung ist, so kann theologisch-eschatologisch Sprache nur mittels der Referenz in der Existenz des Beteiligten und sich in den Dialog mit der Sprache Begebenden als gehalt- und bedeutungsvoll ausgewiesen werden. Die ausstehende Erfülltheit jenseitiger Verheißung verändert bereits im Diesseits den Rezipienten durch ihre Darstellung und Verkündigung. Die Ansage einer postmortalen Qualifizierung des eigenen (un)moralischen Handelns etwa hat Relevanz auf dieses in der prämortalen Existenz, insofern das transzendentale Gericht vom Subjekt geglaubt und persönlich präjudizierend angenommen wird, woraus sich Verantwortung wie auch Nächstenliebe erst in ihrem spezifisch christlichen Gehalt erschließen.

 

Die Funktionalität der Fiktion verweist in diesem Zusammenhang auf die hinter ihr stehende Intention, die etwa nach Searle die Differenz zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Sprache kennzeichnet, die sich ansonsten nicht in ihrer Struktur unterscheiden.138 Wenn nun nach einer möglichen Intention in der Sprache gesucht wird, dann ist diese Suche nach ihrem Zweck und ihrer Absicht auch immer geprägt vom interessegeleiteten und erfahrungsabhängigen Blickwinkel des Suchenden. Konsequenterweise kann in dieser Sichtweise die Intentionalität der Divina Commedia aus konstruktivistischer Perspektive nicht beobachter- bzw. leserunabhängig erschlossen werden. Insofern kann auch nie die wirklichkeitsabbildende Intention Dantes letztlich definiert werden, vielmehr gilt es, stets neu Zugänge zu erschließen, die ausgehend von dem Text für eine wirklichkeitsschaffende und erschließende, eine suchende, dialogal-prozesshafte Intentionalität offen sind. Eine derartige Intentionalität steht immer unter einer Vorläufigkeit und lehnt sich so an den Vorbehalt aller eschatologischen Aussage an.

Damit ergibt sich als Ziel der vorliegenden Arbeit, unter Ausgangskenntnisnahme der sprachlich-philologischen und theologisch-eschatologischen Aspekte der Divina Commedia, die ›Intention‹ in einem konstruktivistisch-dialogalen Modus zu verorten, d. h. selbst die theologischen Aussagen als bedingte, interpretationsbedürftige und gerade so als über vermeintliche intentionale Festlegungen hinausgehende zu verstehen. In dieser Begegnung mit dem Text, in der Begegnung mit seinem Verfasser und dessen Begegnung mit Beatrice etc. kommt nämlich im Eigentlichen zum Ausdruck, worin die Intention eschatologischer Sprache besteht : in ihrer Vorsicht, ihrer eingestandenen Ungenügsamkeit, ihrem Vorbehalt.

Dantes ›Theologie‹ mit Beatrice gleichzusetzen meint insofern gerade nicht eine Gleichsetzung im Sinne einer objektivierbaren Erfassung oder klar umgrenzten Festmachung. Die Theologie des Werkes ist nur in aktueller Begegnung greifbar, verlangt den existentiellen Einbezug und das Sich-Einlassen des Lesers, der immer auch Interpret in konstruktivistischer Sicht ist, kann doch seine Subjektbefindlichkeit, sein Fragen und bisheriger Erfahrungsstand davon nicht abstrahiert werden. Es geht daher nicht um die Herausstellung einer besonders gearteten Theologie oder gar einer vermeintlichen Theologie an sich (die es in ihrer Geschichte nie gegeben hat), sondern um das Moment personaler Auseinandersetzung, ohne die es Theologie im Sinne des Einbezugs der eigenen Existenz (des eigenen Glaubens, Hoffens und Liebens) nicht geben kann. Von daher lässt sich sagen, dass die Theologie Dantes, die Theologie der Divina Commedia, eine eschatologische in Inhalt, mehr noch aber der dichterischen Gestalt nach ist, deren Dreh- und Angelpunkt – die Begegnung mit Beatrice – hervorhebt, wie Poesie die Liebe, die Gott selbst als ihr Zielgrund ist, adäquater verdeutlicht, als eine diese Poesie analysierende Theologie in ihrer vermeintlichen Objektivierung dessen, was nur im Modus des Erlebens und Empfindens wahrhaft zum Ereignis wird.

2 Grundlegung : Die Verirrung im Wald oder die Ausweglosigkeit in der Lebenskrise
2.1 Das Gefühl, etwas im Leben verpasst zu haben

Nel mezzo del cammin di nostra vita

Mi ritrovai per una selva oscura,

Chè la diritta via era smarrita.

Ahi quanto a dir qual era è cosa dura,

Esta selva selvaggia ed aspra e forte,

Che nel pensior rinnova la paura !

Tanto è amara, che poco è più morte ;

Ma per trattar del ben ch’io vi trovai,

Dirò dell’altre cose ch’io v’ho scorte.

Io nor so ben ridir com’io v’entrai,

Tanto era pien di sonno in su quel punto

Che la verace via abbandonai.139

Der Einleitungsgesang der Commedia – der als solcher vor alle ihre Gesänge gestellt ist und dessen eingeschlagener Bogen erst im letzten Gesang (Par. XXXIII) zu seinem Endpunkt kommt140 – beginnt mit der Schilderung von Dantes Verirrung im Wald. In der Mitte seiner Lebensreise steht der Dichter mit 35 Jahren141 vor der vermeintlichen Orientierungs- und Ausweglosigkeit seines Daseins, er hat seinen Weg verloren. Der dunkle Wald142 ist ebenso allegorisch zu sehen wie der verloren gegangene Pfad ; der Wanderer sucht nach (s)einem wegweisenden Lebensziel in dem Moment, da er sich in die Dunkelheit irdischer Wirrnisse verläuft. In ihr wird ihm seine Situation der Krisis bewusst, die er allein nicht überwinden kann. Seine Abwendung vom direkten Weg (diritta via, V.3) beschreibt er später im irdischen Paradies des Läuterungsberges beim ersten Wiedersehen mit Beatrice, die zu ihm spricht.143

Dantes Lebenskrise, seine Verirrung und Abweichung vom rechten Weg, ist somit zunächst auf den Tod seiner Jugendliebe (sol che pria d’amor)144 zurückzuführen, die in das zweite, bessere Leben hinüberging (wodurch sie an Schönheit und Tugend noch zunahm). Beatricens Tod wird in der Dichtung mit dem Ausbleiben der Möglichkeit ihres Anschauens gleichgesetzt, sein Ideal ist ihm aus den Augen und somit aus dem Sinn geraten145, er trägt mit der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen auch die Hoffnung auf ein gelingendes Leben zu Grabe.146

Da Dante also den Blick auf Beatrice – zu Beginn der Untersuchung zunächst noch als idealisierte Erfahrung der ersten Liebe verstanden – verloren hat, findet er sich in dunklem, bedrohlichem Gelände wieder. Der bloße Gedanke daran flößt dem Dichter noch Jahre nach dem Erlebnis Furcht und Schrecken ein. Seine Orientierungslosigkeit lässt ihn erstarren ; der Verirrte ist zur Fortführung seiner Wanderschaft nicht mehr fähig, will er sich nicht den Gefahren des zur höchsten Vorsicht mahnenden Waldes ausliefern. Doch zu Beginn klingt bereits an, dass einem das Heil nicht als Ausweg aus der Verirrung zufällt, es ist vielmehr in der Wirrnis der Krise selbst zu finden und setzt die Bereitschaft voraus, auch durch die – nicht zu vermeidende – Hölle zu gehen. Das Gute liegt im Wald selbst verborgen, die Dunkelheit des Waldes wird Dante Bedingung der Möglichkeit einer neuen Lichterfahrung, die alles bisher Gewesene übertrifft und auf die unendliche Schau des Schöpfers selbst vorbereitet.

2.2 Die Lebenswende als Sinnkrise kontingenter Selbstverwirklichungskonzepte

Dante lädt den unvoreingenommenen Leser seiner Zeit ein, ihm auf seiner Jenseitsreise zu folgen, er soll an seine Stelle treten, sich im Werk wiederfinden. Es ist die ganze Menschheit, der Mensch als solcher, der sich verirrt hat (die Wege Gottes verlassend), Orientierung und Halt in der Dunkelheit seines Lebens sucht und dabei sich eingestehen muss, auf andere angewiesen zu sein, die ihm fürsprechend und begleitend zur Seite stehen. Die Verwirrung ist Ausdruck der existentiellen Erfahrung der Sinnkrise, das Stehen im Walde. Das persönliche Geschick Dantes (aus der Situation der Verbannung schreibt er seine DC147) lässt sich als Krise der Lebensmitte bezeichnen, als ernüchterndes Eingeständnis, dass das Bisherige nicht mehr trägt und (dadurch bedingt) eine notwendige Zukunftsperspektive auszubleiben droht. Diese Situation der Ausweglosigkeit ist nun allerdings Initiator der Emporläuterung der Seele bis zur Schau Gottes, d. h. durch die Krise hindurchgehend steht ihm die ewige, absolute Liebeserfüllung in Aussicht, nach der er zeitlebens trachtete. Beatrice nennt diesen Umweg über das Höllen- und Fegefeuererleben das allein greifende Mittel zum Heil, da der Dichter schon zu tief gesunken sei.148 Die Bewältigung der Krise gelingt durch die Transzendierung des gegebenen Konfliktes, das Problem wird in den Bereich des Überweltlichen transponiert, die Eschatologie als ewiger, letztgültiger Bezugspunkt irdischen (kontingenten) Handelns – der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit des Schöpfers und dem Zielpunkt alles Seienden entsprechend – zum tröstenden Ausgleichsort irdischen Scheiterns.

In der persönlichen Krisenerfahrung stellt sich die Frage, was eigentlich im Leben trägt, die Frage nach dem ›Warum‹ und ›Wozu‹ des Lebens mit all seinen Problemen. In dieser Situation der Lebensmitte, d. h. gerade in der Zeit der (eigentlich) vollen Entfaltung und Verwirklichung entworfener Lebenspläne und Zielvorstellungen, sieht Dante sich von den Menschen verkannt und von seiner Heimat verraten, er ist mit all seinem politischen Engagement und seiner Unparteilichkeit149 gescheitert. Von daher gesehen ist seine niedergeschriebene Jenseitsreise – neben ihrer gesellschaftskritischen, mahnenden Intention – auch eigene Problembewältigung. Dante schildert die Hölle (die er mit der Hilfe Vergils durchstehen muss), seinen Weg der Sühne, als ein kontinuierliches Emporsteigen in der Zuversicht auf eine Neubegegnung mit Beatrice (seinem persönlichen Inbegriff der eigenen Glückseligkeit) und schließlich auf das Paradies (als die endgültige Erlösung in der Anschauung Gottes). Obgleich damit das Erlebnis himmlischer Erfülltheit nur unter der Bedingung vorheriger Höllenerfahrung möglich ist, bleibt dennoch der Maßstab von allem die zum Paradies berufene Bestimmtheit des Daseins. Das Verlorengehen und Wiederfinden der geliebten Augen Beatricens, die ihm Tor zur Ewigkeit sind, entspricht der Läuterung seines Liebesstrebens als einer Neuausrichtung zur unbedingten Liebesfülle, die Gott ist. Insofern lässt sich sagen, dass Dante seine Gefühlswelt nicht sub specie aeternitatis schreibt, um damit eine dreifache (entsprechend der drei Jenseitsreiche) Weiterführung irdischer Lebensschicksale in der Geronnenheit endzeitlicher Vorstellungen zu geben, vielmehr, um die Möglichkeit und Durchführung der Überwindung individueller Höllen (als Hoffnungs- und Ausweglosigkeit) aufzuzeigen. Das schmerzhafte Erlebnis des Hinscheidens seiner Jugendliebe wird so für ihn zur Erfahrung ihrer erhöhten Daseinsweise, und Beatrice wiederum vermittelt Dantes Anschauung Gottes als den Zielgrund der Schöpfung, d. h. auch seines eigenen Lebens.