Dantes Theologie: Beatrice

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3 Die Sehnsucht des Menschen nach der Erfüllung seines Liebesstrebens als Maßstab seines Handelns : Paradiso
3.1 Das irdische Paradies 201
3.1.1 Die Begegnung mit Beatrice als Ablösung der Philosophie durch die Theologie

Am Ende der siebten Stufe des Läuterungsberges, wo die Wollust (luxuria) gebüßt wird, müssen Vergil und Dante (zu denen sich zuvor Statius gesellte)202 durch eine Feuerwand hindurchschreiten, um ins irdische Paradies zu gelangen. Dort verlässt Vergil Dante und kehrt wieder in den Limbus zurück, da nun Beatrice dessen Begleitung übernimmt.203

Dem Interesse dieser Arbeit an der Bedeutung Beatricens entsprechend soll zunächst das Paradies (in Einheit mit dem am Ende des Purgatorio stehenden irdischen Paradieses) bzgl. seiner theologischen Ausrichtung untersucht werden, bevor Purgatorio und Inferno als läuternde Vorstufe bzw. Negativbild des Vollendungshorizontes menschlichen Lebens (als berufenes zur glückselig machenden Schau – visio beatifica) in den Blick genommen werden.204 Dies liegt deshalb nahe, da Beatrice im irdischen Paradies Dante erstmals gegenübertritt. Im Fegefeuer bzw. in der Hölle übt sie ihre Begleiterrolle nur indirekt über (den von ihr gerufenen) Vergil aus, und erst nach Dantes Entsühnung und Absolution unternimmt sie mit ihm den Gang durch die Sterne :205

»Dort wird man sehn, was wir hier unten glauben

Ohne Beweis ; es wird sich offenbaren

Gleich der von uns geglaubten ersten Wahrheit.«206

Wie Dante demnach durch die Verstrickung in die Sünde (Inf. I) Beatrice als sein Idealbild der Tugend und Liebe aus den Augen verlor, so vermag er sie nach Sühne und Vergebung wiederzusehen, sich unter ihren Zauber, aber auch unter ihre Fittiche zu begeben, denn als die in den Himmel Erhobene blickt er stets demutsvoll zu ihr empor. Im Durchgang durch das Feuer macht Vergil dem zagenden Dante207 mit den Worten Mut :

Gli occhi suoi già veder parmi.208

Er verheißt Dante am Ende der Feuerwand das lang ersehnte Wiedersehen mit Beatrice. In dieser Zusage überwindet jener seinen Kleinmut und ist bereit, durch das Feuer zu gehen (Purg. XXVII, 46 ff.)209.

Im irdischen Paradies angelangt, fällt Dante – es ist inzwischen Abend geworden210 – in tiefen Schlaf und empfängt die dritte Traumvision211 auf dem Läuterungsberg und analog zu den beiden anderen Visionen an entscheidender Stelle (eben beim Eintritt in das irdische Paradies). In dieser erblickt er eine junge Frau, blumenpflückend, die sich als biblische Lea212 zu erkennen gibt und im Gegensatz zu ihrer Schwester Rahel als Sinnbild der vita activa (gegenüber der vita contemplativa) auftritt.213 Lea und Rahel werden parallel zu den nun in die Handlung unmittelbar eingreifenden Matelda214 und Beatrice genannt ; Lea und Matelda stehen hierbei für das auf das anschauliche Leben vorbereitende215 (und diesem untergeordnete) aktive Wirken. Die Zuordnung Beatricens zur vita contemplativa ergibt sich auch aus ihrer Position in der Himmelsrose als dem – in Stufen aufgeteilten216 – Sitz aller Seligen im Himmel bei der erwähnten Rahel.217

Nach Sonnenaufgang gehen Vergil und Dante die letzten Stufen empor, wobei der Führer ihm die Erfüllung all seiner – irdisch unerfüllbaren – Sehnsüchte verspricht. Sodann überlässt er ihn sich selbst, beendet somit seine Führerschaft und stellt Dante gar über weltliche und kirchliche (im Sinne der pilgernden Kirche auf der Erde)218 Machtansprüche :

»[…] Das zeitliche und ewige Feuer

Hast du gesehn, mein Sohn ; du bist gekommen

Dahin, wo ich von mir aus nichts mehr kenne.

Mit Geist und Kunst hab ich dich hergeleitet.

Nun nimm zum Führer deinen eignen Willen […]

Erwarte von mir nicht mehr Wort und Zeichen.

Frei, grade und gesund ist nun dein Wille,

Und Sünde wär es, wenn du ihm nicht folgtest.

Drum krön ich dich zu deinem eignen Herren (per ch’ io te sopra te corono e mitrio) !«219

Nachdem Dante also durch Hölle und Purgatorium (il temporal fuoco e l’eterno ; Purg. XXVII, 127) gegangen ist, begleitet von Vergil als Allegorie der natürlichen Gotteserkenntnis bzw. der auf die Theologie zuarbeitenden Philosophie220, überlässt ihn dieser seinem eigenen Dünken (piacere), da sein Wille nun frei (libero), gerade (dritto) und gesund (sano) und daher der erbsündlichen Neigung zum Bösen (Konkupiszenz) nicht mehr unterworfen ist.221 Als letzte Handlung setzt Vergil ihm Mitra (mitrio) und Krone (corono) auf ; diese Krönung ist Versinnbildlichung der neuen Situation : Dante ist im irdischen Paradies, er genießt dessen ursprüngliche Freiheitssituation im status naturae elevatae et integrae.222 Nach Dantes Welt- und Heilsverständnis dienen Kaiser- und Papsttum (im dialektischen Verhältnis gegenseitiger Zuordnung und doch prinzipieller Abgegrenztheit)223 zur Erlangung irdischer Zufriedenheit und himmlischer Seligkeit.

3.1.2 Lethe und Eunoe – die erlangte Vergebung

Im 28. Gesang des Purgatoriums kommt Dante durch den Garten Eden gehend – in seiner Schönheit eindeutig dem dunklen, undurchdringlichen Sündenwald in Inf. I gegenübergestellt – an einen unvergleichlich klaren Bach, der ihm den Weg versperrt : Lethe224. Dort begegnet ihm auch die schöne, vor sich hin singende, jungfräuliche Frau (bella donna225) mit Namen Matelda,226 die ihm das Geheimnis von Schöpfung und Sündenfall wie folgt kundtut :

»Das höchste Gut, das nur mit sich zufrieden,

Erschuf den Menschen gut, und dies Asyl

Gab’s ihm zum Pfande für den ewigen Frieden.

Er weilte hier nicht lange, da er fiel ;

Sein Fall verwandelte in Angst und Beben

Ein züchtiges Lachen und ein süßes Spiel.«227

Die Erlangung der Urstandsgnade228, die unzerrüttete Ursprungsnähe von Gott und Mensch im irdischen Paradies, wird im Folgenden im Anblick Beatricens, in der Versenkung in ihre Augen, dichterisch-zentriert zur Darstellung gebracht. Mit den Worten des Hohen Liedes Veni sponsa de Libano229 leitet der Dichter das Wiedersehen mit seiner seligen Jugendliebe ein. Mit weißem Schleier (wie eine Braut geschmückt) erscheint Beatrice, sie trägt ein rotes Kleid unter einem grünen Mantel, die Symbolfarben von Glaube, Hoffnung und Liebe.230 Noch in der Verschleierung (der unverschleierte Anblick wird ihm erst nach seiner Beichte in Purg. XXXI, 133 ff. gewährt) erkennt Dante Beatrice (Purg. XXX, 34 ff. : E lo spirito mio […] d’antico amor senti la gran potenza […] conosco i segni dell’ antica fiamma), und dies ist der Augenblick, da ihn Vergil (dolcissiomo patre ; Purg. XXX, 50) verlässt (Purg. XXX, 46 ff. als Erfüllung des Freispruches in Purg. XXVII, 127 ff.), worauf Dante in Tränen ausbricht. Beatrice mahnt ihn, Tränen der Reue, nicht des Abschiedes zu weinen (Purg. XXX, 55–57 und 73–75). Dies ist die einzige Stelle in der DC, in der Dantes Name genannt wird (Purg. XXX, 55) – entgegen dichterischer Gepflogenheit231 nennt sich hier der Verfasser (durch den Mund Beatricens) selbst (womit deutlich wird, dass die Form Dienerin des Inhaltes ist, demnach die eigentliche Intention der DC nicht in der künstlerischen Darstellungskraft, sondern in ihrer existentialtheologischen Ausrichtung zu suchen ist).232

Die Begegnung mit Beatrice im irdischen Paradies, am Ende seines Läuterungsweges, mündet in Beichte und Lossprechung ein. Seine volle Schuld erkennt Dante erst im Angesicht der Gottesweisheit (Beatrice), da sie ihm von seinem befangenen, raumzeitlich bedingten Erkenntnisvermögen aus (Vergil) nicht in ihrer unmittelbaren und weitreichenden Schwere ins Bewusstsein gebracht werden kann. Die Liebe als Grund der Umkehr entlässt aus sich heraus die eigene Betroffenheit hinsichtlich des persönlichen Versagens und Scheiterns. Vor Beatrice wandeln sich die in Infernum und Purgatorium ausgesprochenen Mitleidsbekundungen gegenüber den Verlorenen und Büßenden in die eigene Reue in der Erkenntnis der eigenen Schuld. In Purg. XXX, 102 ff. nimmt Beatrice die in Inf. II vorgebrachte Anklage (welche durch Dante selbst in Inf. I als Bekenntnis der eigenen Schuldverstrickung aufgegriffen wird) wieder auf, indem sie ihm vor der Zeugenschaft der Heiligen und Engel (die den Eindruck eines neuzeitlichen Geschworenengerichts erwecken) ins Gewissen redet :

» […] durch das reiche Maß von Gottes Gnade […]

War dieser so in seinem jungen Leben

Geschaffen, daß ihm jede gute Gabe

Sich hätte wunderbar entfalten können.

Doch soviel böser wächst und soviel wilder

Das Ackerland mit schlechtem, rohem Samen

Je mehr es in sich trägt an guten Kräften.

Für kurze Zeit gab ihm mein Antlitz Stärke ;

Indem ich ihm die jungen Augen zeigte,

Führt’ ich ihn mit mir auf dem rechten Wege.

Sobald ich auf der Schwelle angekommen

Des zweiten Alters und das Leben tauschte,

Verließ mich dieser und ergab sich andern.

 

Als ich vom Fleisch zum Geist emporgestiegen,

In Schönheit und in Tugend noch gewachsen,

Ward ich ihm weniger genehm und teuer.

Er wandte seinen Schritt auf falsche Wege

Und folgte trügerischen Wunschgebilden,

Die kein Versprechen jemals ganz erfüllen. […]

So tief fiel er, daß alle andern Wege

Zu seinem Heile schon vergeblich waren,

Außer dem Anblick der verlornen Seelen.«233

Die durch Beatricens Anklage initiierte Gewissenserforschung Dantes knüpft an Purg. IX an, wo er am Eingangstor zum eigentlichen Läuterungsberg (mit seinen sieben Stufen der jeweiligen Sündenschuld) in seine Buße eingewiesen wird.234 Das Sakramentenverständnis der Kirche einholend (in der Reihenfolge Reue [contritio], Bekenntnis [confessio], Genugtuung [satisfactio] und Lossprechung [absolutio])235 rufen die Worte Beatricens in ihm zunächst Reue hervor, indem sie von seiner hohen Begnadung spricht ; das Vergeuden eines Talentes wiegt umso schwerer, je mehr Erwartungen an es geknüpft waren (gemäß Lk 14,15 ff. und v. a. Lk 19,11 ff.).236 Die einzige Möglichkeit seiner Umkehr sieht Beatrice in der drastischen Anschauung derjenigen, die in Ewigkeit scheiterten und des Ganges mit jenen, die vor ihrem Eintreten in die ewige Glückseligkeit selbst nach Läuterung streben, angetrieben von ihrer noch verbliebenen Restschuld (Purg. XXX, 136–141, vgl. analog hierzu die Aussagen in Inf. II). Der (An)Klage (accusatio) folgt in Purg. XXXI die Beichte (confessio). In Purg. XXXI, 22–30237 wiederholt Beatrice die Anklage – fragend nach den Gründen seines Verirrens – und Dante gibt eine schuldeingestehende Antwort, die gerade nicht eine Relativierung ihrer selbst durch Anführung mildernder Umstände intendiert und wieder auf die fehlende Orientierung an Beatrice anspielt.238 Gerade das Eingeständnis Dantes (dessen Bedeutung für die gesamte Beichte ist in Purg. XXXI, 37–42 angesprochen) nach der Anklage Beatricens, die ihm (schon allein ihr Name) Ehrfurcht und Respekt einflößt (Par. VII, 13–15), zeigt, dass nicht ihr vermeintliches Fernbleiben, ihre Unerreichbarkeit, Grund seiner Schuldbefangenheit ist, vielmehr er selbst seine Augen von der Erhöhten abwandte (dem entspricht Purg. XXXI, 46 ff.). Auch der tote Leib (carne sepolta) hätte ihm Führer sein müssen, ja viel mehr als der irdische239, derweil die Unbedingtheit des irdischen Erlebens (sozusagen der Einbruch des Transzendenten ins Immanente) nicht wieder durch Bedingtheiten des Lebens eingeholt werden kann, sondern Grunderlebnis für alles Weitere und insbesondere des Strebens nach der glückselig machenden Anschauung Gottes ist.240

Nach Reue241 und Bekenntnis (die satisfactio ist durch den Aufstieg zum irdischen Paradies gegeben) sieht Dante erstmals im Laufe seiner Jenseitsreise in die Augen der geliebten Gottesführerin, die ihm Vorausgleichnis der visio beatifica sind. Beatrice verweist somit Dante auf sein Gewissen, sie redet ihm nicht Schuld ein, sondern öffnet ihm vielmehr die Augen, bewegt ihn zur Selbsterkenntnis, indem sie ihn den Weg der Selbstwerdung einschlagen lässt, ihn auf den rechten Weg der Gottsuche bringt. Durch ihren Eintritt in die Ewigkeit verklärte sie sich zum Sehnsuchtsbildnis unbedingter, absoluter Liebe und steht so für die Rückgewinnung der Blickrichtung hin zum Unbedingten, nachdem Dante durch die Verabsolutierung irdischer Güter das ewige Gut selbst aus den Augen verlor. Sie ist die personifizierte Aufforderung zur Transzendentalisierung kontingenter (scheiternder) Lebenswirklichkeit.

Das Bad (das Trinken bzw. die Taufe242) im Lethefluss (Purg. XXXI, 91 ff.) durch Matelda versinnbildlicht Dantes Absolution ; er wird aufgenommen in den Reigen der Kardinaltugenden (Purg. XXXI, 104 in Anlehnung an Purg. XXIX, 130–132) und erblickt in Beatricens Augen (zunächst noch verschleiert) Jesus Christus (in der Greifengestalt ; Purg. XXXI, 115 ff. in Anlehnung an Purg. XXIX, 108–114). Die vier weltlichen Tugenden bereiten auf die drei theologischen (Purg. XXXI, 111) vor243, die sich ihm im (nun unverschleierten) Anblick Beatricens zeigen, da sie sich in die Anschauung Gottes versenkend ihrer zweiten Schönheit erfreut (la seconda bellezza ; Purg. XXXI, 138). H. Gmelin schreibt in seinem großen Dantekommentar hierzu : »Der Schluß des Gesanges bringt die abschließende Szene des Beichtaktes, das sichtbare Zeichen der Gnade für den Geläuterten, die Enthüllung Beatrices […] in dem sich das Augenmotiv der Minnedichtung mit dem Spiegelmotiv der transzendentalen Lichtsymbolik verbindet […]. Dieses Spiel der Blicke, in dem Beatrice die Mittlerin zwischen Dante und Christus darstellt, ist begleitet […] durch […] den Tanz der drei geistlichen Tugenden«.244 Beatrice, die Seligmachende, Allegorie des Gottschauens und der dahin führenden Gottesweisheit, ist hier als Mittlerin245 ausgezeichnet ; in ihr und durch sie erblickt Dante die Unbedingtheit der göttlichen Liebesfülle. In der Transzendierung irdischer Liebeserfahrung (im Gegenüber/Anblick des geliebten Du) gewinnt diese erst ihre Tiefe, da sie als Abbild der Liebe des Dreieinigen246 auch in ihm ihren Zielgrund weiß und dadurch vor Selbstvergottung geschützt ist. Selbstrelativierend ob ihrer Abkünftigkeit von Gott und ihrer Zukünftigkeit in Gott erfährt irdische Liebessehnsucht Mut zur Einholung der eigenen Bedingtheit und Anfälligkeit angesichts der Bedrohung aller kontingenten Wirklichkeit. Der Sackgasse der Verabsolutierung des Endlichen wird in der DC mit der Transzendierung irdischer Liebessehnsucht247 begegnet, die neue Wege gangbar macht, den Horizont und den Blick auf die Sterne eröffnet : Puro e dosposto a salire alle stelle.248

3.1.3 Das Kirchenverständnis in den Gesängen zum irdischen Paradies

Neben der Begegnung mit Beatrice und der damit verbundenen Entsühnung Dantes als Voraussetzung der Weiterführung der Jenseitsreise durch die Himmel des Paradieses ist im irdischen Paradies auf der Höhe des Läuterungsberges das darin gezeichnete Kirchenverständnis bedeutsam.249 Mit Beatrice, der Führerin zur Seligkeit, tritt die Kirche in ihrer himmlischen Pracht (ecclesia triumphans), aber auch in ihrer irdischen Anfälligkeit in Erscheinung. Neben der Anklage Beatricens, dem persönlichen Sündenbekenntnis Dantes und seiner Läuterung wird parallel die Schuldverfangenheit weltlicher Machtansprüche der Kirche zur Sprache gebracht und der Gestalt Beatricens (als Verkörperung der idealen, da sich ganz der Gottsuche und Offenbarungsverkündung anheimgestellten Kirche mit ihrer entsprechenden Theologie) gegenübergestellt.250

In Purg. XXIX begegnet Dante im lichten Wald des irdischen Paradieses einer Prozession, dem Zug der himmlischen Kirche. Sieben Leuchtern (den sieben Gaben des Geistes)251 folgen die 24 Greise der Offenbarung des Johannes (in weißen Kleidern ; Purg. XXIX, 64–66)252 ein Marienlob anstimmend, schließlich die vier Evangelisten (nach Ez 1,4 ff. und Offb 4,6 ff.), bevor im Zentrum der Prozession ein Triumphwagen, der die Kirche repräsentiert253 (und dessen Räder für das AT und NT stehen könnten), gezogen von Christus in der Gestalt eines Greifes – seine Gottmenschlichkeit andeutend254 – zu erkennen ist (Purg. XXIX, 106–114). Das Gefährt (carro ; ebd., 107) begleiten am rechten Rad die theologischen Tugenden (drei tanzende Frauen in den entsprechenden Farben), am linken die vier Kardinaltugenden. Ihnen folgen Lukas (die Apostelgeschichte) und Paulus (dessen Briefkorpus), schließlich bilden die Personifikationen der vier sog. Katholischen Briefe255 und der Apokalypse den Schluss.

Im XXXII. Gesang des Purgatorio folgt die Darstellung der Unterlegenheit der irdischen Kirche gegenüber den Versuchungen der Zeitgeschichte. Die Szene wird durch den Ausruf Adamo (Purg. XXXII, 37, sein Schicksal klingt in Purg XXXIII, 62–64 an) eingeleitet und optisch um einen kahlen Baum (una pianta dispogliata ; Purg. XXXII, 38) gelagert.256 Die Prozession ist an diesem Baum zum Stehen gekommen, an dessen Stamm der Greif die Wagendeichsel mit den Worten festmacht : »So rettet man den Samen der Gerechten.«257 Daraufhin fängt der Baum zu blühen an (die gefallene Menschheit ist durch Inkarnation und Erlösungstod erneuert), und Dante fällt in Schlaf. Nach seinem Erwachen sieht er Beatrice an der Wurzel des Baumes sitzen und zusammen mit den Geistesgaben und Tugenden den Wagen der Kirche bewachen (der Greif ist verschwunden, die Zeit der pilgernden, auf die Wiederkunft des Herrn harrenden Kirche beginnt). Die nun folgenden Anfeindungen versinnbildlichen die Versuchungen der Kirche258 : Der Sturzflug des Adlers auf den Baum und Wagen steht für die Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte durch das römische Weltreich. Ein gieriger Fuchs (häretische Strömungen der frühen Kirche) wird von Beatrice (der Theologie) vertrieben. Der erneute (Federn lassende) Sturzflug des Adlers versinnbildlicht die Verweltlichung der Kirche durch die sog. Konstantinische Schenkung (als Legitimation aller irdischen Machtansprüche der Päpste259 gegenüber des im Jupiterhimmel (Par. XVII–XX) gelobten und in Dantes Monarchia begründeten gottgewollten Kaisertums). Der Drache (nach Offb 12), der den Wagen durchsticht, könnte Satan oder den aufkommenden Islam symbolisieren. Es folgt die Verwandlung des Wagens in das Tier der Apokalypse (vgl. Offb 17) und die Erscheinung einer Dirne, die um einen Riesen buhlt (ebenfalls in Anlehnung an Offb 17 ; vermutlich eine Anspielung auf das französische Königtum), woraufhin beide von dem Tier in den Wald verschleppt werden (womit das Avignonesische Schisma – 1304 unter Clemens V. beginnend – angesprochen ist). Nachdem die Tugenden in Purg. XXXIII, 1 den Psalm 79 anstimmen (Klage über die Zerstörung Jerusalems), wiederholt Beatrice die Worte Jesu aus Joh 16,16 über seine Wiederkunft und gibt eine Deutung des Geschehens (Purg. XXXIII, 26 ff. mit der Hoffnung auf einen Retter, einen das Reich einenden Führer oder Kaiser, in ebd., 40–45).

Dantes Kirchenverständnis orientiert sich demnach an dem spirituellen, soteriologischen Auftrag der pilgernden Kirche, die in ihren Sakramenten den Menschen Dienerin ihrer Erlösungssehnsucht sein soll. In seiner Betrachtung treffen sich Schöpfungstheologie (Sündenfall, der entblätterte Baum der Erkenntnis) und Christologie (die Neubegrünung desselben) in einer eschatologisch-apokalyptischen Gesamtschau.260 Er entwirft keine systematische Ekklesiologie, dennoch ist nach der DC die Kirche unter der Perspektive des Seelenheils der Gläubigen (also gnadentheologisch) zu sehen. Die Einmischung der Kirche in weltliche Angelegenheiten, ihre Machtansprüche in Konkurrenz zu dem damit dem Parteienzank ausgelieferten Kaisertum261, werden aufs Entschiedenste verurteilt, da nur ein starkes Kaisertum die Wohlfahrt der gesamten Christenheit seiner Überzeugung nach (v. a. vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen in Florenz262) herbeiführen kann. Dies ist der Grund seiner Mahnung im irdischen Paradies der DC gegenüber dem nach Erkenntnis und Macht strebenden Menschen, dessen letztes Ziel in der Transzendenz, nicht Immanenz, auf ihn wartet :

»So melde diese Worte dort den Menschen

Im Leben, das zum Tode nur ein Laufen (viver ch’è un corre all morte),

Und denk daran, daß du bei deinem Schreiben

Auch nicht verschweigst, wie du den Baum gesehen,

Der nun hier oben zweimal ausgeplündert.

Wer immer ihn beraubet oder schädigt,

Beleidigt Gott mit tätlicher Verlästrung,

Denn heilig schuf er ihn zu eignem Zwecke.«263

Die Bilderwelt des Paradiso terrestre ist aber auch Ausdruck der inneren Gefühlslage Dantes. Sein Umkehrweg hat nun die entscheidende Markierung, den Wendepunkt erfahren, von nun an geht es nicht mehr steinig bergauf, sondern beflügelt durch die Himmel. Was er auf dem Gipfel des Läuterungsberges erlebt, ist somit nicht nur Darstellung des Wesens und der Bedrohung der Kirche, sondern auch Darstellung des Wesens und der Bedrohung des einzelnen Gläubigen. Das Szenarium zeigt die Verbindung von Einzelschicksal und Gemeinschaft. Hier – wie an jedem anderen Ort im Jenseits – findet sich der Protagonist wieder mit all seinen Sehnsüchten, Hoffnungen, Erwartungen.264 Das, was Kirche ist, findet seinen Ausdruck im Erlösungsweg des einzelnen Gliedes. Umgekehrt ist der Einzelne in die Gemeinschaft der Kirche eingebunden und insofern beheimatet, als sie in ihrem Selbstverständnis die Erfahrungen und Schicksalsschläge des menschlichen Lebens aufzugreifen und von der Offenbarung her zu beleuchten sucht. Dieses Ineinander, diese gegenseitige Verwiesenheit von einzelnem Glied und dem ganzen Organismus/Leib kommt v. a. auch in der Beichte Dantes in Purg. XXXI zum Vorschein. Auch dieses Geschehen bleibt eingewoben in die Gemeinschaft der Kirche, ist ein der ganzen Kirche zukommender und sie betreffender Vorgang. »Dante […] ist nirgends, am allerwenigsten hier, wo er den Schwung zum Himmel nehmen soll, von kirchlichem Beistand verlassen. Ja, gerade hier erfährt er, dass die kirchliche Autorität […] im entscheidenden Augenblick seine nachsichtigste und zärtlichste Fürsprecherin ist […]. Der kirchliche Beistand löst in ihm die rettende Träne aus. Damit ist der tiefste und schönste Gedanke der katholischen Kirche entwickelt : dass der Mensch, wenn er dem Geist der göttlichen Wahrheit und der fürchterlichen Stimme seines Gewissens allein, ohne Hilfe entgegentreten wollte, an seinem eigenen Stolz zerbrechen müsste.«265

 

Diese Geborgenheit des Einzelnen in der ihn tragenden Gemeinschaft ist ein Leitgedanke des dritten Liedes der Commedia, dem Paradiso.