Für eine Kultur der Anerkennung

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Das hat der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth bereits Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erkannt, als er sein Buch „Kampf um Anerkennung“ schrieb. Es hat sich als ein weit vorausschauendes Buch erwiesen. Mit dem B egriff der Anerkennung hat Honneth einen Schlüsselbegriff zum Verständnis vieler gegenwärtiger Konflikte gefunden. Anerkennung ist eine harte Währung geworden. An ihr hängt nicht nur die Möglichkeit der Teilhabe, sondern auch die Würde des Einzelnen.

Es zeigt sich, dass jede Erklärung des Menschen und der Gesellschaft zu kurz greift, die nicht das grundlegende menschliche Angewiesensein auf Anerkennung berücksichtigt. Der Mensch ist und bleibt ein Beziehungswesen und von Anfang an abhängig von der Anerkennung durch andere. Er ist ein Wesen, das im Eingebettetsein wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse leben muss. Und deshalb ist eine Gesellschaft, der es um das Wohl aller ihrer Mitglieder geht, gut beraten, auf die Gewährung und Gewährleistung von Anerkennung zu achten.

Das vorliegende Buch möchte den Nährboden dieses Diskurses über Anerkennung, dem sich auch die Religionen stellen müssen, zusammenfassend darstellen: die wichtigsten gegenwärtigen sozialphilosophischen, psychoanalytischen und theologischen Konzepte einer Anerkennungstheorie. Dies geschieht jeweils verbunden mit Überlegungen zu den Folgerungen der einzelnen Konzepte für die Rolle der Religion in der jeweiligen Form einer Kultur der Anerkennung. Im zweiten Teil soll dann genauer nach den besonderen Elementen der Religion gefragt werden, die eine Kultur der Anerkennung fördern oder hemmen können.

Wohlgemerkt: Es gibt nicht nur die bad news von den deformierenden Auswüchsen der (unreifen) Religion, die sich der Anerkennung des Anderen verweigert. Es gibt auch hoffnungsvolle religiöse Entwicklungen hin auf eine anerkennungs- und differenzfähige Religion. Dafür sei als Beispiel die Erfahrung des amerikanischen Neurologen und Autors Oliver Sacks (1933–2015) erwähnt. In seinem letzten Buch mit dem Titel „Dankbarkeit“ beschreibt er, wie er als Heranwachsender die schlimme Erfahrung einer ausgrenzenden, entwertenden und beschädigenden Form von Religion machen musste – ein Beispiel für das große Ausgrenzungspotential verabsolutierter Religion. Oliver Sacks erzählt von einem Erlebnis aus seinem achtzehnten Lebensjahr: „Damals fragte mein Vater mich nach meinen sexuellen Neigungen und gab keine Ruhe, bis ich zugab, eine Vorliebe für Jungs zu haben. ‚Ich habe nie etwas getan‘, sagte ich, ‚es ist nur ein Gefühl – aber sag Ma nichts, sie würde es nicht verkraften.‘ Doch er sagte es ihr. Als sie am nächsten Morgen herunterkam, sah sie mich voller Abscheu an und rief: ‚Du bist ein Gräuel. Ich wünschte, du wärest nie geboren.‘ (Zweifellos dachte sie an die Verse im 3. Buch Mose: ‚Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen.‘)“ Dieses Erlebnis entfremdete ihn von seiner Herkunftsreligion. Doch am Ende seines Lebens nimmt er die Einladung zur Geburtstagsfeier seiner 100-jährigen Cousine in Jerusalem an – und begibt sich wieder in die Mitte seiner jüdisch-orthodoxen Großfamilie: „Ich hatte ein wenig Angst gehabt, da ich meine orthodoxe Familie zusammen mit meinem Liebhaber Billy aufsuchte – die Worte meiner Mutter lasteten noch immer auf meiner Seele, aber Billy wurde herzlich willkommen geheißen. Wie grundlegend die Einstellung sich selbst bei orthodoxen Juden gewandelt hatte, zeigte sich, als Robert John [sc. der strenggläubige Cousin] Billy und mich einlud, am Freitagabendmahl im Kreis seiner Familie teilzunehmen.“18

II. Anerkennungaus sozialphilosophischer Sicht

1. Anerkennung als Grundbedürfnis und Ziel sozialer Bestrebungen: Axel Honneth

Wirkungsvoll hat – wie bereits erwähnt – der Sozialphilosoph Axel Honneth mit seinem 1992 erschienenen Buch „Der Kampf um Anerkennung“ den Begriff der Anerkennung neu fruchtbar gemacht für den philosophischen und gesellschaftspolitischen Diskurs darüber, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen und sollten. Er knüpft darin an jenes allgemein beobachtbare Phänomen an, dass der Einzelne in hohem Maße abhängig ist von den Beurteilungen und Wertzuschreibungen seiner Mitmenschen. „Aus Alltagsbeobachtungen und Literatur dachte ich zu erkennen, dass soziale Konflikte viel eher mit empfundener Missachtung zu tun haben, mit Stolz, mit Empörung darüber, nicht angemessen respektiert zu werden“, so Honneth und führt als Beispiel den Umgang mit Arbeitslosigkeit an. Von vielen Betroffenen werde sie als Schmach empfunden – und zwar nicht nur, weil die eigenen Interessen verletzt würden. „Nein, weil Arbeitslosigkeit eben auch bedeutet, keinen Wert mehr zu besitzen in den Augen der Gesellschaft.“19 Mit Hegel erkennt Honneth am Anfang seiner großen Studie über den „Kampf um Anerkennung“ die Ursache für diesen Vorgang:

„Es ist der Anspruch der Individuen auf die intersubjektive Anerkennung ihrer Identität, der dem gesellschaftlichen Leben von Anfang an als eine moralische Spannung innewohnt, über das jeweils institutionalisierte Maß an sozialem Fortschritt wieder hinaustreibt und so auf dem negativen Weg eines sich stufenweise wiederholenden Konfliktes allmählich zu einem Zustand kommunikativ gelebter Freiheit führt.“20

Insofern ist tatsächlich das elementare Bedürfnis nach Anerkennung als jene Triebkraft anzusehen, die gesellschaftliche Entwicklungen vorantreibt: Subjekte streben nach Veränderung der Verhältnisse, in denen sie ihre Identität nicht vollständig anerkannt finden. Dieser aus einem sozialen Konflikt resultierende Kampf um Anerkennung ziele letztlich auf die intersubjektive Anerkennung der spezifischen Individualität eines Menschen.21

Hegel unterscheidet dabei zwei natürliche Formen der Anerkennung: der emotionale Austausch in der ursprünglichen Beziehung zu den primären Bezugspersonen und die gesellschaftlich zuerkannte Rolle als Rechtssubjekt.22 Entscheidend ist Hegel zufolge der intersubjektive und der reziproke Charakter der Anerkennung, das heißt: Anerkennung wird erworben, gewährt und aufrechterhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen es auf die Wechselseitigkeit dieses Anerkennungszuspruchs ankommt. Honneth erkennt drei Stufen der sozialen Anerkennung im Hegel’schen Werk: Zunächst das „affektive Anerkennungsverhältnis“ in der Familie, dann das „kognitiv-formelle Anerkennungsverhältnis“ des Rechts sowie das „emotional aufgeklärte Anerkennungsverhältnis“ des Staates.23

Explizit von „Anerkennung“ spricht Hegel allerdings zunächst nur im Zusammenhang mit der Erfahrung der Liebe, die er als ein Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung definiert – beruhend auf dem Vorgang des Sich-imanderen-Erkennens. Diese elementarste Form der zwischenmenschlichen Anerkennung begründet das gesellschaftspolitische Element im Subjekt: „dass ein Individuum, das seinen Interaktionspartner nicht als bestimmte Art von Person anerkennt, auch sich selbst nicht vollständig oder uneingeschränkt als eine solche Person zu erfahren vermag.“ Für die Anerkennungsbeziehungen bedeutet das, dass sie gewissermaßen einen Zwang zur Reziprozität enthalten, der die sich begegnenden Subjekte gewaltlos dazu nötigt, auch ihr soziales Gegenüber in einer bestimmten Weise anzuerkennen.24

Dabei stelle die fundamentale Erkenntnis, dass die sich begegnenden Subjekte wechselseitig angewiesen sind auf die jeweilige Anerkennung des anderen die Basis für jede Gesellschaftsorganisation dar. Denn den Schutz vor Verletzung der eigenen Person kann man sich nicht selbst geben. Bei Hegel ist es die Wahrnehmung der Sterblichkeit, die diese Wechselseitigkeit des Anerkennungsverhältnisses begründet: dass man aufgrund der eigenen Verletzlichkeit ein Mindestmaß an Schutz bedürfe, der nur auf dem Weg der wechselseitigen Gewährung gesichert sei. Bei Honneth ist es dagegen die Wahrnehmung der moralischen Versehrbarkeit des Gegenübers, die verbindliche Anerkennungs- und Rechtsverhätnisse entstehen lasse.25 Bei diesen grundlegenden Formen wechselseitiger Anerkennung gehe es letztlich um Weisen eines „Bei-sich-selbst-Seins im Anderen“:

„Wenn der Wert, den eine Person der anderen in der Anerkennung einräumt, nämlich zugleich ein wichtiger Teil ihres eigenen Selbstverständnisses ist, dann darf sie die anerkennende Reaktion jenes anderen als eine öffentliche Bekräftigung ihres Selbstseins begreifen, welches damit in der sozialen Welt ein zwangloses Zuhause findet.“26

In einem weiteren Schritt unterscheidet Honneth mit Hegel die drei Anerkennungssphären der Liebe, des Rechts und der Sittlichkeit, in welchen sich stufenweise die Freiheitsspielräume des Individuums in einem immer größer gespannten Netzes wechselseitiger Anerkennung erweitern. Unter Sittlichkeit verstehe Hegel „die Art von sozialen Beziehungen, die entsteht, wenn sich die Liebe unter dem kognitiven Eindruck des Rechts zu einer universellen Solidarität unter den Mitgliedern eines Gemeinwesens geläutert hat“. Weil in dieser Einstellung jedes Subjekt den Anderen in seiner individuellen Besonderheit achten könne, vollziehe sich in ihr die anspruchsvollste Form der wechselseitigen Anerkennung.27

Honneth arbeitet nun diese drei Anerkennungsformen der Liebe, des Rechts und der Solidarität zu einer kritischen Theorie der modernen Gesellschaft aus. Unter Liebe versteht er dabei alle Primärbeziehungen, soweit sie nach dem Muster von erotischen Zweierbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen. Dabei werde eine Erfahrung von Abhängigkeit gemacht, die dem Subjekt sein grundlegendes Angewiesensein auf Andere eröffnet. Unter Rückgriff auf psychoanalytische Erkenntnisse beschreibt Honneth die Anerkennungsform der Liebe als einen Prozess, „dessen Gelingen von der wechselseitigen Aufrechterhaltung einer Spannung zwischen symbiotischer Selbstpreisgabe und individueller Selbstbehauptung abhängig ist.“ Es geht um die Vorstellung, dass die Liebesbeziehung idealerweise eine durch Anerkennung gebrochene Symbiose darstellt. Ohne die gefühlsmäßige Sicherheit, dass die geliebte Person auch nach der erneuten Verselbstständigung ihre Zuneigung aufrechterhält, wäre dem liebenden Subjekt die Anerkennung der Unabhängigkeit gar nicht möglich. In der Anerkennungsform der Liebe geht es um den doppelten Vorgang einer gleichzeitigen Freigabe und emotionalen Bindung der anderen Person.28

 

Im Anerkennungsverhältnis des Rechts als nächster Stufe wird dann versucht, die Reziprozität des Anerkennungsverhältnisses zwischen den einzelnen Subjekten einer Gesellschaft eine institutionalisierte Form zu verleihen. „Die Rechtssubjekte erkennen sich dadurch, dass sie dem gleichen Gesetz gehorchen, wechselseitig als Personen an, die in individueller Autonomie über moralische Normen vernünftig zu entscheiden vermögen.“ Dabei garantiere das Recht eine Anerkennung, die unabhängig von der affektiven und leistungsbezogenen Dimension des Anerkennungsvorgangs ist. In modernen Gesellschaften würden diese Formen auseinandergehalten, indem das Recht einerseits allgemeine Normen anwendet und garantiert und die soziale Wertschätzung eines Menschen aufgrund seiner Eigenschaften oder Fähigkeiten davon unabhängig praktiziert wird. Ein Ausschluss aus der rechtlichen Anerkennung bedeutet dabei nicht nur den Entzug der rechtlichen Teilhabe an der Gesellschaft, es schmälert auch die Selbstachtung und führt zu „sozialer Scham“, was dann wiederum Antriebskraft für soziale Kämpfe zur Erweiterung rechtlicher Anerkennungsverhältnisse sein kann.29

Schließlich ist die bereits erwähnte Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung in modernen Gesellschaften zu beobachten. Hierbei kommt die Vorstellung einer von allen universell geteilten menschlichen Würde besondere Bedeutung zu, die eine grundsätzliche Anerkennung jenseits sozialer Zugehörigkeiten und Fähigkeiten sichere. Darüber hinaus bemisst sich das soziale Ansehen der Subjekte an den individuellen Leistungen, die sie im Rahmen ihrer Formen der Selbstverwirklichung gesellschaftlich erbringen. Wobei es auch hier wohlgemerkt einen Kampf um Anerkennung gibt, in dem ausgehandelt wird, welche Leistung und Fähigkeit als gesellschaftlich gewertschätzt gelten kann. Der Begriff der Solidarität bezeichnet demgegenüber aber ein Interaktionsverhältnis, in dem sich die Subjekte wechselseitig in ihren unterschiedlichen Lebenswegen wertschätzen. Diese „symmetrische Wertschätzung“ sei Voraussetzung für die Solidarität in modernen Gesellschaften, denn sie ermögliche einen gemeinsamen Wertehorizont, in dem die unterschiedlichen Fähigkeiten als gesellschaftlich bedeutsam erscheinen.30

Von diesen drei Anerkennungsformen hebt Honneth am Ende noch spiegelbildlich drei Formen der Missachtung ab, die als Formen verweigerter Anerkennung betrachtet werden können: die Vergewaltigung, die Entrechtung und die Entwürdigung, die das intersubjektive Anerkennungsgefüge eines Subjekts zerstören und es damit als ganze Person beschädigen. Während Folter oder Vergewaltigung die Grundlage der Subjektwerdung sprengen – das Vertrauen in einen Respekt gegenüber dem eigenen Körper – und damit einen Zusammenbruch des Vertrauens in die Zuverlässigkeit der sozialen Welt und der eigenen Selbstsicherheit herbeiführen, geht mit der Entrechtung oder dem sozialen Ausschluss ein Verlust der Selbstachtung und der Fähigkeit einher, sich auf sich selbst als gleichberechtigten Interaktionspartner seiner Mitmenschen zu beziehen. Die Herabwürdigung von individuellen oder kollektiven Lebensweisen innerhalb einer Gesellschaft, die sich als Beleidigung oder Respektlosigkeit äußern kann, verursacht einen Entzug der Gruppensolidarität und die Behinderung der Selbstverwirklichung. Während Folter oder Vergewaltigung den psychischen Tod des betroffenen Individuums zur Folge haben, kann bei der Entrechtung vom sozialen Tod und bei der kulturellen Herabwürdigung von einer Kränkung gesprochen werden.31

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Mensch grundlegend abhängig ist von der Erfahrung intersubjektiver Anerkennung seines Lebens und seiner Leistungen, um sowohl in einer sozialen Gemeinschaft zu bestehen als auch zu einer geglückten Selbstbeziehung zu gelangen. Missachtungserfahrungen sind deshalb so verheerend, weil menschliche Subjekte sich untereinander mit Anerkennungserwartungen begegnen, an denen die Bedingungen ihrer psychischen Integrität haften. Insbesondere das aus der Missachtung resultierende Gefühl der sozialen Scham muss demzufolge als eine wesentliche Triebkraft für die Auslösung sozialer Widerstandsprozesse in sozialen Bewegungen angesehen werden. Mit diesem Widerstand eröffnet sich der missachtete/entrechtete/ausgeschlossene Einzelne eine Äußerungsform, anhand derer er sich indirekt von seinem eigenen moralischen oder sozialen Wert überzeugen kann. Und er versorgt sich mit der „antizipierten Anerkennung einer zukünftigen Kommunikationsgemeinschaft“32.

Axel Honneth fasst seine Analyse so zusammen:

„Demzufolge sind es die drei Anerkennungsformen der Liebe, des Rechts und der sozialen Wertschätzung, die erst zusammengenommen die sozialen Bedingungen schaffen, unter denen menschliche Subjekte zu einer positiven Einstellung gegenüber sich selber gelangen können; denn nur dank des kumulativen Erwerbs von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung, wie ihn nacheinander die Erfahrung von jenen drei Formen der Anerkennung garantiert, vermag eine Person sich uneingeschränkt als ein sowohl autonomes wie auch individuiertes Wesen zu begreifen und mit ihren Zielen und Wünschen zu identifizieren.“33

Der Weg zu einer Kultur der Anerkennung hat demzufolge immer wieder jene Formen zu etablieren, die der einzelnen Person ihr Dasein als ein anerkanntes, geachtetes, berechtigtes und gesichertes erscheinen lassen und ihm damit sowohl eine Selbstachtung gewähren als auch die Teilhabe an der Gesellschaft.

Immer wieder scheinen dafür Kämpfe nötig zu sein, um diese keineswegs selbstverständlichen Formen der Anerkennung zu erhalten oder zu erweitern. Innerhalb solcher Kämpfe um „unverzerrte Formen der Anerkennung“ sei es laut Honneth wichtig, einen „hypothetischen Vorgriff auf einen kommunikativen Zustand zu gewinnen, in dem die intersubjektiven Bedingungen personaler Integrität als erfüllt erscheinen“34. Dies ist meines Erachtens als ein bedeutendes Moment anzusehen, um zu einer echten Kultur der Anerkennung zu gelangen: dass man einen Begriff von dem hat, wie es sein sollte beziehungsweise wie es nicht sein sollte. Es ist möglicherweise jener Prozess, den Adorno einmal folgendermaßen beschrieben hat: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“35 Dabei ging es Adorno nicht um die Ausmalung eines Paradieses, sondern um die Überwindung jener Verhältnisse, die das Leben der Einzelnen beschädigen und entwürdigen durch Herrschaft und Verdinglichung. Was demgegenüber Erlösung sei, deutete Adorno einmal als negative Utopie an, die über den Weg des kritischen Denkens entstehe als „eine Ordnung des Möglichen, Nichtseienden, wo die Menschen und Dinge an ihrem rechten Ort wären“36.

Es fällt nicht schwer und liegt wohl auch nicht fern, an dieser Stelle den Begriff der Anerkennung einzufügen und jene Verhältnisse, in denen die Menschen und Dinge an ihrem rechten Ort wären, als einen Zustand gelingender und gesicherter Anerkennungsverhältnisse zu verstehen – im Gegensatz zu den Zuständen der Entwürdigung, Entrechtung und Missachtung, die als beschädigende Verhältnisse beschrieben werden müssen. Axel Honneth deutet skizzenhaft an, wie solche beschädigenden Zustände auf dem Weg des sozialen Widerstands durch soziale Bewegungen kritisiert, bekämpft und überwunden werden können : Entscheidend für solche kollektiven Formen des Widerstandes seien „subkulturelle Semantiken, in denen für die Unrechtsempfindungen eine gemeinsame Sprache gefunden ist, die wie indirekt auch immer auf die Möglichkeiten einer Erweiterung von Anerkennungsbeziehungen verweist“37.

Möglicherweise könnte in diesem Zusammenhang auch der Religion eine unterstützende Rolle zukommen, da sie in ihren Traditionsbeständen durchaus „hypothetische Vorgriffe auf einen kommunikativen Zustand“ enthält, „in dem die intersubjektiven Bedingungen personaler Integrität als erfüllt erscheinen“ (Honneth). In der jüdischchristlichen Tradition ist dies sogar ein wesentlicher Zug, da insbesondere die alttestamentliche Prophetentradition sowie die neutestamentliche Jesus-Tradition genau dies zum Thema haben: die Anklage von Zuständen der Ungerechtigkeit, der Entwürdigung und der Entrechtung und das Einklagen von Zuständen, in denen allen Menschen Recht widerfahre und Teilhabe an der Gesellschaft möglich werde.

2. Die fatale Unterscheidung zwischen betrauerbarem und unbetrauerbarem Leben: Judith Butler

Einen gewichtigen Entwurf für die Analyse gegenwärtiger Bedingungen gesellschaftlicher Anerkennung legt auch die amerikanische Philosophin Judith Butler mit ihrem Konzept des betrauerbaren Lebens vor. Grundsätzlich geht auch sie von der unhintergehbaren Tatsache der sozialen Verflochtenheit und des Angewiesenseins des Einzelnen auf zwischenmenschliche Beziehungen aus. Butler nennt das die „grundlegende Sozialität des leiblichen Lebens“ oder die „primäre Sozialität“, die eine Definition des Menschen als grundsätzlich verletzbares und ausgesetztes Wesen begründe.38

Ausgehend von der vorgeburtlichen und frühkindlichen Situation des totalen Angewiesenseins auf die primären Bezugspersonen spricht Butler von einer „primären Prägbarkeit und Verletzbarkeit“39 des Menschen, die zugleich sein Wesen als grundsätzliches Gefährdetsein bestimmen. Dieser Zustand beinhaltet einen normativen Anspruch : Er sollte als „gemeinsame Bedingung menschlichen Lebens“ anerkannt werden. Denn „Gefährdung ist nicht einfach als Merkmal dieses oder jenes Lebens zu begreifen; sie ist vielmehr eine allgemeine Bedingung, deren Allgemeingültigkeit nur geleugnet werden kann, wenn das Gefährdetsein selbst geleugnet wird.“ Aus dieser Tatsache, dass menschliche Leben per definitionem gefährdet sind, da sie willkürlich oder versehentlich ausgelöscht werden können und ihr Bestand in keiner Weise garantiert ist,40 ergeben sich zwingende ethische Implikationen:

„Eine Pflicht ergibt sich indes aus der Tatsache, dass wir von Anfang an soziale Wesen und von dem abhängig sind, was außerhalb unserer selbst liegt, von anderen, von Institutionen und von abgesicherten und sichernden Umwelten und dass wir in diesem Sinne von Anfang an gefährdet sind.“41

Hieraus ergibt sich die zentrale Bedeutung, die dem Vorgang der Wahrnehmung und Anerkennung der Verletzbarkeit zukommt. Denn nur durch diese Anerkennung seiner Verletzbarkeit kann der Mensch in den Schutz sozialer und gesellschaftlich organisierter Absicherung seines Lebens gegen Gefährdung gelangen: „Eine Verletzbarkeit muss wahrgenommen und anerkannt werden, um in einer ethischen Begegnung eine Rolle zu spielen, und es gibt keine Garantie, dass dies geschehen wird.“42

Denn es ist keineswegs ausgemacht, dass allen Menschen aufgrund ihres bloßen Menschseins und des damit implizierten Zustandes gemeinsamer Verletzbarkeit automatisch eine Anerkennung als ethische Subjekte zuteil wird, aus der sich dann normative Regelungen und Rechte zur Bewahrung vor Gewalt und Ausgesetztsein ableiten ließen. Es scheint insbesondere im Blick auf internationale politische Konflikt- und Krisensituationen offensichtlich zu sein, dass es keineswegs ein universales Verständnis einer allen gemeinsamen Verletzbarkeit gibt, das zu einer wechselseitigen Verantwortung für die Unversehrtheit des jeweils anderen führt.

Wodurch wird laut Judith Butler also Anerkennung ermöglicht? Durch die Wahrnehmung des anderen innerhalb eines normativen Rahmens, der ihn als anerkennbares Wesen sichtbar werden lässt – seiner Bewertung als Dazugehöriger. Das zum ethischen Handeln zwingende „Antlitz des Anderen“ (Emanuel Levinas) müsse dabei zuallererst aufgenommen werden in die Reihe der anerkannten menschlichen Antlitze – durch einen Vorgang des gesellschaftlich-politischen framings: „Zunächst muss es ein Raster für das Menschliche geben, eines, das beliebig viele Variationen als fertige Beispiele umfassen kann.“ Unsere Fähigkeit, auf ein Antlitz als menschliches zu reagieren, scheint von der Vermittlung durch solche Bezugsrahmen abhängig zu sein, die in dem einen Fall vermenschlichen und im anderen entmenschlichen.43

 

Das bedeutet in letzter Konsequenz eine Entscheidung auf Leben und Tod, denn nur denjenigen kommt Bewahrung vor Beschädigung und Zerstörung zu, die kraft der Legitimation eines gemeinsam konstruierten normativen Bezugsrahmens als Lebendige gewertet werden. Alles, was jenseits dieses definierten Bezugsrahmens existiert, erscheint als Nicht-Lebendiges, als nicht ethisch relevant. „Wenn bestimmte Leben gar nicht als Leben gelten oder von Anfang an aus gewissen epistemologischen Rahmen [frames] herausfallen, dann werden diese Leben im vollen Wortsinn niemals gelebt und auch niemals ausgelöscht.“44

Der Anerkennung eines Menschen geht also seine grundsätzliche Anerkennbarkeit voraus – also seine grundsätzliche Wahrnehmung als Mensch, der bestimmte Bedingungen, Kategorien und Konventionen erfüllt, um in dieser normativ begründeten Gemeinschaft sichtbar und zählbar zu werden. Ist ein Mensch solchermaßen in seinem mit den anderen Mitgliedern der Bezugsrahmengruppe geteilten Gefährdetsein erkannt, greifen die Verpflichtungen der Gruppe zur Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse.45

In einem weiteren Analyseschritt präzisiert Butler diese Prozesse der Anerkennung eines anderen als ethisches Subjekt über die Rahmensetzungen in einer Gesellschaft mit der Unterscheidung von betrauerbarem und unbetrauerbarem Leben. Ein anerkanntes Subjekt ist folglich jenes, dessen (fiktiv vorgestellter oder tatsächlicher) Tod eine Bedeutung hat, als Verlust qualifiziert ist und Trauer auslöst. „Betrauerbarkeit ist somit Voraussetzung dafür, dass es auf ein bestimmtes Leben ankommen kann.“ Im Umkehrschluss bedeutet das: „Wer nicht betrauerbar ist, lebt außerhalb des Lebens.“ Solche aus- und abgrenzende Verteilung der Betrauerbarkeit in Populationen sei mit dafür verantwortlich, ob wir uns politisch folgenreich berührt fühlen oder nicht, ob wir also Entsetzen, Schuld, Verlust empfinden oder Gleichgültigkeit.46

Als Beispiel für dieses selektiv gestaltete Verhältnis zum Leben führt Butler an, dass wir nie die Namen der im Krieg getöteten unzähligen Afghanen, Kinder wie Erwachsenen, hören.47 Daraus ergeben sich unangenehme Fragen nach der Abseite der Anerkennung, wie sie in der modernen westlichen Gesellschaft konstruiert wird:

„In welchem Umfang sind arabische Völker, überwiegend praktizierende Gläubige des Islam, aus dem ‚Menschlichen‘ herausgefallen, so wie dies durch die zeitgenössischen Mechanismen des Humanismus in seiner ‚westlichen‘ Form naturalisiert wurde? Welche kulturellen Konturen des Menschlichen sind hier wirksam? Welche Grenzen ziehen uns unsere kulturellen Raster, die unsere Vorstellung des Menschlichen prägen, bezogen auf die Sorte von Verlusten, zu denen wir uns als Verlust bekennen können? Und was und wo ist überhaupt der Verlust, und wie findet ein Trauern statt, wenn jemand umkommt und diese Person ein Niemand ist?“48

Insbesondere im Kriegszustand werden solche Rahmensetzungen, die zwischen betrauerbaren und unbetrauerbaren Leben unterscheiden, besonders wirkmächtig. Hier spielen auch die Kriegsberichterstattung und die Inszenierung der Kriegsvorgänge in der medialen Vermittlung eine Rolle. Hierbei wird klarer und manifester als sonst zwischen denjenigen innerhalb des gemeinsam geteilten Bezugsrahmens und denen außerhalb unterschieden, um die Kriegsvorgänge zu legitimieren und aufrechtzuerhalten. Bestimmte „feindliche“ Bevölkerungsgruppen werden als unbetrauerbar und zerstörbar konstruiert, „sie können verloren oder aufgegeben werden, eben weil sie in einem Rahmen dargestellt sind, in dem sie bereits als verloren oder aufgegeben wahrgenommen werden.“ In dieser Rationalisierung ihres Todes gelte ihr Verschwinden als notwendig, um das Leben der „Lebenden“ zu schützen.49 Die von der Wahrnehmung und Anerkennung Ausgeschlossenen gelten als „Niemande“, als Namenlose, als Verlorene, als Negierte, als Nicht-Wahrnehmbare und Nicht-Erinnerbare – ihr Leben wird derealisiert und denominalisiert. Alle Zerstörung und Beschädigung – etwa durch Bomben, Blockaden oder Drohnen im Krieg – gilt als ethisch neutral, denn es trifft in dieser durchframes verzerrten Wahrnehmung keine Gleichen, keine Dazugehörigen, ja nicht einmal wirklich Lebende. Alle Verletzung und Auslöschung derjenigen Körper, die sich unterhalb der Wahrnehmungs- und Anerkennungsschwelle befinden, gilt als legitim und geschieht wie in einer merkwürdigen Unsichtbarkeit. „Nichts davon spielt sich in der Ordnung der Ereignisse ab. Nichts davon findet statt. Im Schweigen der Zeitung gab es kein Ereignis, keinen Verlust – und dieses Fehlen der Anerkennung wird autorisiert durch eine Identifikation mit denjenigen, die sich mit den Gewalttätern identifizieren.“50 Deshalb seien insbesondere die öffentlichen Trauerriten in Zeiten des Krieges entlarvend: Wer wird betrauert? Wer erhält einen Nachruf? Wessen Name wird erinnert? Und wer wird kategorisch ausgeschlossen? Wessen Tod bleibt unbetrauert? Wer gilt nicht als Verlust? „Die Derealisierung des Verlusts – die Unempfänglichkeit für menschliches Leiden und Tod – wird zum Mechanismus, über den die Entmenschlichung erreicht wird.“51

Es überspannt den Bogen wohl nicht, wenn an dieser Stelle auch Assoziationen wach werden zu den sozialpsychologischen Mechanismen der NS-Herrschaft, die in letzter Konsequenz dazu führten, dass die Angehörigen des jüdischen Volkes derart dehumanisiert erschienen, dass ihre Auslöschung geschehen konnte ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Ein Bestandteil der NS-Ideologie war es, „die Juden“ als Gegensatz zu „den Deutschen“ zu konstruieren und sie aus der „Volksgemeinschaft“ auszuschließen. „Die Juden“ waren „die Kehrseite der Phantasie der ‚Herrenrasse‘“. Sie waren dem „‚Wir‘ der geborenen Herren diametral entgegengesetzt“ und als „Gegenrasse“ der Vernichtung preisgegeben.52 Hannah Arendt beschrieb diesen Vorgang der Ent-Menschlichung der Juden als Vorbedingung ihrer massenhaften Ermordung: Aberkennung ihres Subjekt-Status, systematische Entrechtung und Exkludierung aus dem Gesellschaftszusammenhang, Diffamierung als „zerstörererische Elemente“, kollektiv geduldete Verschleppung und Ermordung, ohne dass dabei Schuld oder gar Trauer empfunden wurde, ohne dass ein Verlust gespürt oder postuliert wurde. „Es gab eine Wand zwischen Nichtjuden und Juden“, zitiert sie einen Zeitzeugen.53 Arendt nannte das den „totalitären Versuch, Menschen überflüssig zu machen“: „Wenn die Insassen (sc. der Konzentrationslager) Ungeziefer sind, ist es logisch, dass sie durch Giftgas getötet werden; wenn sie degeneriert sind, sollte es ihnen nicht erlaubt sein, die Bevölkerung zu infizieren.“54

Der Weg zu einer universalen Kultur der Anerkennung ist Judith Butler zufolge auch heute weit, da er an den Grundfesten der westlich-modernen Kultur und ihren zementiert scheinenden Bezugsrahmen rüttelt. Butler skizziert dennoch einige Schritte zur Rückgewinnung einer ethischen Perspektive auf die Ausgeschlossenen, Schritte zur Anerkennung aller Menschen in ihrer gemeinsamen Verletzlichkeit und wechselseitigen Angewiesenheit. Mit Lévinas versucht sie, die Ausgeschlossenen wieder in den Bereich der Sichtbarkeit und Wahrnehmung zu integrieren, indem sich ihren Antlitzen ausgesetzt wird: „Auf das Gesicht zu reagieren, seine Bedeutung zu verstehen heißt, wach zu sein für das, was an einem anderen Leben gefährdet ist, oder vielmehr wach zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich.“ Deshalb gehe es zunächst darum, den aus dem Gesichtskreis der Wahrnehmung Ausgeschlossenen zur Darstellung zu verhelfen, ihre Gefährdetheit sichtbar und hörbar zu machen, dass auf den „Schrei des Menschlichen“ reagiert werden könne.55 Es gehe um die Rückgewinnung ethischer Empörung über die Vernichtung von Leben. Und das gehe nur dadurch, dass in den Menschen, die systematisch ausgeschlossen werden aus der Sphäre der Gleichen, das Menschliche und Verletzliche neu wahrgenommen werde – eine Wahrnehmung also jenseits der vorgegebenen kulturellen oder kriegspolitischen frames.