Lehrbuch Psychomotorik

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Der Begriff Körper findet sich in der Literatur zur Psychomotorik vor allem in der funktionalen, der kompetenztheoretischen und erkenntnisstrukturierenden Perspektive. In der sinnverstehenden Perspektive wird der Leibbegriff favorisiert. Hier drücken sich unterschiedliche Verständnisse der Bedeutung von Bewegung und des Körpers / Leibs also auch in der Begriffswahl aus (Kap. 1.2).

Körperlichkeit Als neuer Begriff wird zunehmend „Körperlichkeit“ in Publikationen genutzt, die damit in der Regel den international gebräuchlichen Begriff Embodiment übersetzen.

Embodiment Dieser beschreibt (stark vereinfach) die nicht-leibphänomenologisch basierte Auffassung, dass die Psyche durch den Körper beeinflusst wird und daher psychische und kognitive Aspekte immer als körperlich eingebettet betrachtet werden müssen.


„Der Begriff Embodiment baut also auf einem Verständnis auf, nach dem jedes Lernen und Wissen grundlegend auf körperliche und sinnliche Erfahrungen basiert. Sogar sehr abstrakte kognitive Prozesse haben ihren Ursprung in körperlichen Erfahrungen und dadurch wird der Körper zur Grundlage jeder Art der Erkenntnis und des Wissens innerhalb aller Gebiete des Lernens (kognitives, emotionales, soziales, motorisches Lernen) sowie Entwicklung von Persönlichkeit und Identität“ (Moser 2016, 19).

Psychisches Erleben drückt sich in diesem Verständnis nicht nur in Körperhaltung, Gestik oder Mimik aus, sondern Körperhaltung, Gestik oder Mimik bewirken psychisches Erleben. Psychisches Erleben würde also körperliches Erleben spiegeln.

Abschließend wird festgehalten, dass bei der Verwendung der Begriffe Körper, Leib, Körperlichkeit / Embodiment letztendlich immer im Einzelfall geprüft werden muss, in welchem Verständnis welcher Begriff konzeptionell verwendet wird.

Zusammenfassung

Mit dem Begriff Körper wird in der Leibphänomenologie der objektivierbare, von außen erfassbare Körper bezeichnet. Der subjektiv gespürte Leib kann hingegen nicht von außen erfasst werden. Motorik schafft die Voraussetzung für die Bewegung im Sinne einer Lageveränderung im Raum. Bewegung kann sowohl äußere als auch innere Bewegungen umfassen. Des Weiteren wird der Begriff der Körperlichkeit (engl. Embodiment) in Publikationen verwendet für eine nicht-leibphänomenologisch basierte Betrachtung der Wechselwirkung psychischer und körperlicher Aspekte.


1. Bewegung wird in der Psychomotorik als anthropologische Bestimmungsgröße verstanden, die für die (Leib-) Entwicklung des Menschen von hoher Bedeutung ist und ihre biografischen Spuren hinterlässt. Welche Spuren hat die Bewegung in Ihrem Leben hinterlassen?

2. Finden Sie Beispiele, mit denen die folgende Aussage von Thomas Fuchs belegt werden kann: „Unsere Kultur ist charakterisiert durch eine zunehmende Verdinglichung des gelebten Leibes zum instrumentalisierten und manipulierten Körper. Diese beruht einerseits auf dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt, andererseits auf der Selbstvermarktung der Individuen in der Warengesellschaft“ (Fuchs 2015, 149).

3. Begründen Sie die folgende Aussage: „Streng genommen gibt es gar keine Bewegung ohne Beteiligung psychischer und gefühlsmäßiger Prozesse“ (Zimmer 2012, 21).

1.6.3 Ganzheitlichkeit

„Unabhängig von der jeweiligen theoretischen Grundlage haben aktuelle psychomotorische Ansätze eine zentrale Gemeinsamkeit: Sie betrachten den Menschen ganzheitlich als Wesen, dessen Emotionen, Kognitionen, sinnliche Wahrnehmung, Bewegungen und soziale Kommunikation in enger Wechselbeziehung geschehen“ (Haas 2014c, 11).

Gegenpol zum Dualismus Sie bilden damit einen Gegenpol zu der in Kap. 1.6.2 genannten dualistischen Annahme, die Körper und Geist als zwei voneinander unabhängige Bestandteile des Menschen auffasst. Der Körper-Geist-Dualismus geht auf den französischen Philosophen René Descartes (1596–1650) zurück. Dieser ging von einem denkenden Ich als einer ausschließlich denkenden Substanz aus (lat. res cogitans). Diese denkende Substanz beschreibt er als strikt vom rein körperlichen Dasein und den materiellen Dingen (lat. res extensa) getrennt. Der Körper wird als „Maschine“ beschrieben. Die Folge dieser über viele Jahrhunderte rezipierten Vorstellung führte unter anderem dazu, dass die Medizin sich ausschließlich auf die Behandlung des Körpers und seiner Funktionen beschränkte und psychische Aspekte der Krankheitsentstehung und -bewältigung ignorierte.

Gegenpol zum mechanistischen Menschenbild Dabei hat die ganzheitliche (lat. holistische) Betrachtung des Menschen durchaus eine lange Tradition: Der griechische Philosoph Sokrates (469–399 v. Chr.) betonte in seinem Krankheitskonzept den gegenseitigen Einfluss von Seele und Körper, der auch in der modernen psychosomatischen Medizin als grundlegendes Prinzip verstanden wird (Schmidbauer 1974, 7ff.).

Der Kreis als Sinnbild des ganzheitlichen Denkens findet sich bereits beim griechischen Arzt Hippokrates (460 v. Chr.–ca. 370 v. Chr.): „Alle Teile des Organismus bilden einen Kreis. Daher ist jeder Teil sowohl Anfang als auch Ende.“ (Hippokrates zit. in Watzlawick et al. 2016, 47).

Weizsäckers Gestaltkreis In seinem Werk „Der Gestaltkreis – Theorie und Einheit von Wahrnehmung und Bewegung“ nimmt der deutsche Arzt Viktor von Weizsäcker (1886–1957) das Kreismodell auf. Er zeigt, dass Wahrnehmung und Bewegung, Mensch und Umwelt sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Der menschliche Organismus und seine Umwelt werden als eine miteinander verschränkte Einheit beschrieben.


Abb. 11: Die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung im Gestaltkreis

Ganzheitlichkeit des Verhaltens und Erlebens Abbildung 11 verdeutlicht, dass sich nach von Weizsäcker in jedem Verhaltensakt gleichzeitig Wahrnehmen und Bewegen vollziehen. Menschliches Erleben ist damit per se ganzheitlich, denn es findet immer gleichzeitig körperlich und psychisch statt (Geuter 2015, 2): „Geht man vom Erleben aus, kommt man zwangsläufig zum Körper. Denn das Erleben schließt immer vegetative, motorische und kognitive Prozesse ein, die von Emotionen und Intentionen durchzogen und bestimmt werden“ (Geuter 2015, 5).

Subjektivität der Wahrnehmung Von Weizsäcker (1996) betont die Subjektivität der Wahrnehmung und verweist damit darauf, dass es keine objektive Wahrnehmung geben kann: „Das Wahrnehmungsorgan ist nicht einfach ein Photoapparat, der ‚Bildchen‘ ins Hirn sendet. Das Subjekt selbst nimmt seine Welt wahr […] im Wahrnehmen selbst wird die Umwelt schon gegliedert und auch verstanden. Wahrnehmung ist Erlebnis und Vergegenwärtigung, die nahtlos mit unserem Handelnkönnen verwoben sind.“

Selbstbewegung Mit Selbstbewegung unterscheidet von Weizsäcker dabei die Bewegung lebender Wesen von der Bewegung unbelebter Materie.

Kiphard hat sich in seiner psychomotorischen Arbeit auf den „Gestaltkreis“ und die mit ihm verbundene ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen bezogen. So definierte er Psychomotorik als „eine ganzheitlich-humanistische, entwicklungs- und kindgemäße Art der Bewegungserziehung, in deren Mittelpunkt die Förderung der gesamten Persönlichkeit steht“ (Kiphard 1984, 49). Auch ihre Wirkung beschrieb er als ganzheitlich: „Die Übungsbehandlung vollzieht sich innerhalb vier Ebenen; ihre ganzheitliche Wirkweise berührt die Bereiche des Funktionalen, des Psychischen, des Pädagogischen und des Sozialen“ (Hünnekens / Kiphard 1971, 17).

zirkuläres Denken Für die aktuelle Psychomotorik bedeutet ganzheitlich, in zirkulären (sich wechselseitig beeinflussenden bzw. netzförmig verwobenen) Strukturen zu denken. Dies bedeutet eine Abkehr von einfachen, linearen und monokausalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen (bspw. eine gestörte Wahrnehmung führt zu einer auffälligen Motorik oder bei motorischen Auffälligkeiten muss die Motorik beübt werden). Der Mensch wird als untrennbares Ganzes verstanden, der mehr als die Summe seiner Einzelteile ist. Die Veränderung eines Teils führt nicht nur zur beabsichtigten Veränderung dieses Teils (= linear), sondern zu nicht beinflussbaren Wirkungen auf das Gesamtsystem.

Mensch als lebendiges System Der Mensch ist ein lebendiges System mit verschiedenen Fähigkeiten und Eigenschaften, die in verschiedenen Bereichen (wie Motorik, Kognition etc.) verankert sind, in Wechselwirkung zueinanderstehen und daher nicht unabhängig voneinander betrachtet und gefördert werden können.

ganzheitliches Bewegungshandeln Im Mittelpunkt der Psychomotorik steht damit das ganzheitliche Bewegungshandeln und nicht die Verbesserung einzelner, isolierter motorischer Fähigkeiten (Fischer 2009, 23). Es kann zwar sinnvoll und notwendig erscheinen, Einzelbereiche gezielt zu fördern, der Blick für die Ganzheit des Menschen muss jedoch erhalten bleiben.

 

Das Individuum ist kein isoliertes Wesen, es steht in einer systemischen Vernetzung mit seiner Umwelt. Eine ganzheitliche Psychomotorik muss demzufolge auch den Beziehungsprozess zwischen Individuum und Umwelt miteinbeziehen, denn:

Mensch im Gesamtkontext betrachten „Es reicht nicht aus, den Menschen in seiner Gesamtpersönlichkeit als ‚ganzheitliches Wesen’ anzuerkennen, er muss auch wiederum als ‚Teil des Ganzen’, als Teil sozialer und gesellschaftlicher Zusammenhänge begriffen werden“ (Esser 1992, 84).

Zusammenfassung

Ganzheitlichkeit meint die Einheit von Körper, Geist und Seele des Menschen, die nur gemeinsam betrachtet werden können. In der Theorie des Gestaltkreises wird die Einheit von (subjektivem) Erleben, Denken, Fühlen und Handeln betrachtet. Aus einer ganzheitlichen Perspektive befindet sich der Mensch in einer steten Interaktion mit seiner Umwelt, denn Selbst- und Welterleben sind unmittelbar miteinander verknüpft. Wie sich das Individuum selbst wahrnimmt und wie es sich mit seiner Umwelt handelnd auseinandersetzt, ist unmittelbar mit seinem Bild von der eigenen Leiblichkeit / Körperlichkeit verbunden. Ganzheitlichkeit meint daher auch, die Berücksichtigung des gesamten individuellen Lebenskontextes.


1. Was meint, eine psychomotorische Fachkraft wenn sie erklärt, dass sie ganzheitlich arbeitet?

2. Psychomotorische Förderung richtet sich an „die Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit“ (Fischer 2009, 23). Stellen Sie (anhand von Beispielen) dar, wie sich dies in der psychomotorischen Praxis äußert.

3. Begründen Sie aus der Perspektive der Ganzheitlichkeit die Bedeutung des Leib- und / oder Körperlichkeitsbegriffs (Kap. 1.6.2) für die psychomotorische Arbeit.

1.6.4 Bewegungshandlung

In Kapitel 1.6.2 wurde herausgearbeitet, dass der Bewegungsbegriff der Psychomotorik über den einer rein motorischen Lage-im-Raum-Veränderung hinausgeht. Sich-Bewegen wird in der Psychomotorik verstanden als ein bedeutungsvoller Dialog zwischen Mensch und Welt. Durch seine Bewegungsaktivität stellt der Mensch gewissermaßen Fragen an seine personale und dingliche Umwelt. Durch den Prozess der ganzheitlichen Bewegung bringt der Mensch Bedeutungen hervor (= Bewegungshandlung).

Erkundungsaktivität In Anlehnung an die ökologische Wahrnehmungstheorie kann Wahrnehmung komplementär zur Bewegungshandlung als Erkundungsaktivität bezeichnet werden. Verdeutlicht wird hierdurch die Verwobenheit von Eindruck und Ausdruck im Handlungsprozess (Bahr et al. 2016, 29).

Ausdruck und Erkenntnisgewinn In der Bewegung findet das Individuum also sowohl ein Ausdrucksmittel zur Entfaltung der Sinne als auch ein Medium der Erkenntnisgewinnung (Bahr et al. 2016, 29). Die Bewegungshandlung selbst wirkt direkt auf das handelnde Individuum zurück. Die Verarbeitung der in der Bewegung gewonnenen Erkenntnisse regt das Individuum zur Veränderung von Denk- und Handlungsweisen an. Hierdurch wird seine Handlungskompetenz mehrdimensional gestärkt:

„Im Zuge immer neuer sozialer wie auch materialer Handlungserfahrungen setzt sich das Kind allmählich von der Umwelt ab. Dabei erlebt es sich zunehmend als frei handlungsfähiges Individuum mit körperlich-seelischer Identität. Seine Unabhängigkeit als freie Persönlichkeit befähigt es nunmehr, eine Spielsituation durch eigenes Eingreifen zu verändern“ (Kiphard 2004, 28).

selbsttätiges Handeln und EigenaktivitätSelbsttätiges Handeln und Eigenaktivität gelten daher in der Psychomotorik als Ausgangspunkt und Ziel. Das bedeutet, dass in der Psychomotorik individueller Raum für Eigenaktivität geschaffen und Handeln ermöglicht wird. Die Betonung liegt also auf der Handlung (= Individuum aktiv) und nicht auf der Behandlung (= Individuum passiv; Fischer 2009, 59). Dieses Verständnis spiegelt sich auch in den Handlungsprinzipien der Psychomotorik (Kap. 4.3) wider und beruht auf den Vorstellungen eines ganzheitlichen, humanistischen Menschenbilds (Kap. 1.6.1).

Einer besonderen Form der Handlung, dem Spiel (Oerter 2011, 1), kommt in der Psychomotorik ein hoher Stellenwert zu, daher wird es in Kapitel 4.3.2 ausführlicher beschrieben.

Abb. 12: Paula erkundet eigeninitiativ ihre Umwelt

Zusammenfassung

Handeln wird in der Psychomotorik verstanden als Erkundungsaktivität und Wahrnehmungslernen, als aktives Suchen des Individuums nach individuell sinnvollen Angeboten in seiner Umgebung, um seine Handlungsziele zu verwirklichen (Bahr et al. 2016, 29). Der Mensch nimmt aktiv Einfluss auf seine Umwelt, die wiederum auf ihn zurückwirkt. Selbsttätiges Handeln und Eigenaktivität gelten daher in der Psychomotorik als Ausgangspunkt und Ziel.


1. Stellen Sie Hypothesen dazu auf, welche Frage Paula (Abb. 12) an ihre Umwelt stellt? Vermuten Sie, welche Erkenntnisse sie durch ihre Handlung über ihre Umwelt gewinnen könnte.

2. Erläutern Sie den Unterschied zwischen Handeln ermöglichen und Behandeln.

3. Begründen Sie, warum die Psychomotorik ein Handlungskonzept und kein Behandlungskonzept ist.

1.6.5 (Persönlichkeits-)Entwicklung

Als eine Handlungsleitlinie der Psychomotorik gilt die Entwicklungsorientierung (Kap. 4.3.5), denn Psychomotorik zielt auf die Begleitung, Unterstützung und Förderung der menschlichen Entwicklung. Je nach Perspektive und Paradigma werden unterschiedliche Schwerpunkte und Vorgehensweisen gewählt, um dieses Ziel zu erreichen.

weiter Entwicklungsbegriff Dabei liegt der Psychomotorik ein weiter Entwicklungsbegriff zugrunde, der individuelle Entwicklungsunterschiede und Entwicklungskontexte über die gesamte Lebensspanne beschreibt. Im Vergleich dazu wird im engen Entwicklungsbegriff auf Stufen- / Phasenmodellen fokussiert. Mit Blick auf die gesamte Lebensspanne werden daher alle Prozesse der Entstehung, der Veränderung bzw. des Vergehens als Entwicklung bezeichnet (Lindenberger / Schneider 2012, 30). Der Mensch entwickelt sich also ständig, nicht nur alterstypisch (durch Reifung) sondern auch personenspezifisch (durch Lernprozesse). Auf der Basis dieses weiten Entwicklungsbegriffs hat die Psychomotorik ihren AdressatInnenkreis von der Kindheit bis in das hohe Erwachsenenalter erweitert.


Definition Entwicklung „Entwicklung ist ein komplexer, mehrdimensionaler Prozess zwischen Anlage, Reifung, Umwelt, Erziehungs- und Lernbedingungen (Sozialisationsbedingungen) sowie Selbstentfaltungskräften der Person, auch als Individualität zu bezeichnen“ (Bundschuh 2007a, 58).

Die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung gilt als zentrales Ziel der Psychomotorik. In der Psychologie wird Persönlichkeit wie folgt definiert:


Definition Persönlichkeit „Unter der Persönlichkeit eines Menschen wird die Gesamtheit seiner Persönlichkeitseigenschaften verstanden: die individuellen Besonderheiten in der körperlichen Erscheinung und in Regelmäßigkeiten des Verhaltens und Erlebens“ (Asendorpf / Neyer 2012, 2).

Persönlichkeit ist „eine komplexe Menge von einzigartigen psychischen Eigenschaften, welche die für ein Individuum charakteristischen Verhaltensmuster in vielen Situationen und über einen längeren Zeitraum hinweg beeinflussen“ (Gerrig / Zimbardo 2008, 504).

Persönlichkeit ist also ein geordnetes Bündel der Eigenschaften, die die Individualität eines Menschen ausmachen. Die Persönlichkeit eines Menschen bildet sich selbst, d. h., es besteht kein direkter methodischer Zugriff auf die Entwicklung der Persönlichkeit. Dabei bilden Körper- und Bewegungserfahrungen das Fundament für die Identitätsentwicklung (Zimmer 2014, 24).

Psychomotorik versteht sich „als entwicklungstheoriegeleitete Handlungswissenschaft mit Ausrichtung auf die Erforschung der dynamischen Personen-Umwelt-Interaktion“ (Fischer 2011, 3). Von Interesse ist daher, wie sich der Mensch in der Auseinandersetzung mit seiner dinglichen und personalen Umwelt entwickelt und welchen Beitrag die Psychomotorik hierzu leisten kann.

dynamisch-systemisches Entwicklungsverständnis Dabei basiert die Psychomotorik auf einem dynamisch-systemischen Entwicklungsverständnis. In diesem stehen alle Entwicklungsdimensionen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander und beeinflussen sich gegenseitig. Bewegung wird dabei als Fundament der kindlichen Entwicklung verstanden.

interaktionistische Entwicklungstheorien Von besonderem Interesse sind interaktionistische Entwicklungstheorien, die sowohl dem Entwicklungssubjekt als auch dem Entwicklungskontext (Umwelt) gestaltende Funktionen zuweisen. Entwicklung basiert im Sinne dieser Theorien auf einer Wechselwirkung von Umwelt- und Personalfaktoren, die miteinander in Interaktion treten. Dieser Ansatz nimmt Abstand von reinen Reifungs- und Milieutheorien und rückt das aktiv handelnde und gestaltende Individuum in seiner personellen und dinglichen Umwelt in den Mittelpunkt. Individuum und Umwelt bilden hier ein Gesamtsystem. Dabei wirkt die Umwelt (beispielsweise Familie und Wohnumfeld) auf das Individuum und das Individuum wirkt auf die Umwelt ein. Auf diese Weise findet eine stetige Aneignung und Auseinandersetzung mit den das Subjekt umgebenden Entwicklungsbedingungen statt.

Komplexität menschlicher Entwicklung Da menschliche Entwicklung einen komplexen Prozess darstellt, müssen unterschiedliche Entwicklungstheorien berücksichtigt werden, die jede für sich genommen, jeweils nur einen Teil des Ganzen (der Entwicklung über die Entwicklungsspanne) erhellen, denn jedes Konzept weist Grenzen, Ausblendungen und Schwerpunkte auf (ausführlich hierzu Seewald 1998). Im Folgenden wird daher als Basis das von Fischer (2000, 23) entwickelte erkenntnistheoretische Dreieck herangezogen, welches anhand dreier Theoriefamilien ein umfassendes Entwicklungsmodell bietet.

Abb. 13: Erkenntnistheoretische Dreieck (Fischer 2000, 23)

triadische Struktur Dieses Modell verdeutlicht, dass „wir kindliche Entwicklung als einen bewegungsgebundenen subjektiven Konstruktionsprozess in der triadischen Struktur zwischen dem Kind und dessen sozialer und materieller Umwelt verstehen können […]. Das Ergebnis der Entwicklung sind die Handlungskompetenzen, die sich immer aus der Wechselwirkung zwischen persönlichen und kontextuellen Faktoren ergeben“ (Fischer 2000, 24, 26).

 

Die triadische Struktur wird anhand der drei, diesem Modell (Abb. 13) zugrunde liegenden Theoriefamilien (Entwicklung als subjektive Sinn-Konstruktion, als Identitätsbildungsprozess und als ökologisch-systemischer Prozess) vertieft.

Jean Piaget Entwicklung als subjektive Sinn-Konstruktion: Dieser Ansatz beruht unter anderem auf den Arbeiten Jean Piagets, der menschliches Verhalten durch Anpassungsprozesse bestimmt sieht, die durch aktive Wechselwirkungsprozesse zwischen Umwelt und Individuum entstehen.

aktive Umwelt-Individuum Wechselwirkungsprozesse Kinder erlernen zunächst als „Handlungs“- beziehungsweise „Aktionswesen“ im konkreten selbstständigen Handeln wichtige Basisfunktionen. Das Kind bildet Handlungsschemata aus, die eine Grundlage für die weitere individuelle Entwicklung bilden, in deren Verlauf ein zunehmender Verinnerlichungsprozess der gewonnenen Handlungserfahrungen entsteht.

konkretes Handeln/geistiges Handeln Das Individuum wird auf diese Weise durch konkretes, über den Körper erlebtes Handeln zu geistigem Handeln befähigt. Konkretes Handeln auf unteren Entwicklungsstufen ist somit eine unabdingbare Voraussetzung für das Denken, das Bilden von Symbolen und den Spracherwerb.

vom Greifen zum Begreifen So lautet das Motto der Entwicklung bis zum Ende des zweiten Lebensjahres „vom Greifen zum Begreifen“ (Eggert / Lütje-Klose 2008, 21). Denken wird als entmaterialisierter und verinnerlichter Handlungsprozess verstanden (Piaget 1975; Piaget / Inhelder 1973). Schwierigkeiten in der kindlichen Entwicklung werden als Konsequenz ungenügender Handlungserfahrungen beschrieben.

Kritik Piagets Theorie erfuhr zahlreiche Ergänzungen und Überarbeitungen, da sie zum einen nur bedingt interaktionistisch ist (sie beschreibt den menschlichen Erkenntnisgewinn durch Austauschprozesse mit der Umwelt, berücksichtigt jedoch nicht den aktiven und wechselseitigen Einfluss der materiellen und personellen Umwelt auf das Individuum). Zum anderen fehlen dieser Theorie die Beachtung der subjektiven Sinn-Konstruktion aufgrund sozialer Handlungen und die subjektive Bedeutung von Handlungen. Erweiterungen und Anpassungen von Piagets Strukturkonzept stellen beispielsweise die Bedeutung der Bewegung im Handlungskontext als Basiskonzept von Entwicklung heraus (Fischer 2000, 24). Neuere Theorien beschreiben die kindliche Umweltaneignung als Ergebnis subjektiver Strukturierungen. Strukturen werden verstanden als kognitive Konstrukte, die nicht allein durch Informationsaufnahme, sondern durch interaktives Handeln gebildet werden. Über basale Bewegungstätigkeiten entwickeln Kinder innere Repräsentationsschemata und durch das Sammeln von Erfahrungen über ihren Körper werden in Selbstbildungsprozessen Kompetenzen und Wissen erworben (Kap. 3.2).

Kind als Produzent seiner Entwicklung Wird kindliche Entwicklung unter dem Aspekt der subjektiven Sinn-Konstruktion betrachtet, so ergibt sich ein Bild des Kindes als „Produzent seiner eigenen Entwicklung“ (Fischer 1996, 196). Das handelnde Subjekt tritt in den Vordergrund, und Bewegung wird zu einem ganzheitlichen Entwicklungsträger, der die analytische Trennung kognitiver, affektiver und motorischer Entwicklung aufhebt (Fischer 2000, 24).

Erik H. Erikson Entwicklung als Prozess der Identitätsbildung: Über den Körper gesammelte Erfahrungen werden in dieser Perspektive, in Anlehnung an Erik H. Eriksons Entwicklungsmodell, als Bestandteile der personalen Identität betrachtet. Der eigene Körper ist die Instanz, die zwischen innerem und äußerem Erleben vermittelt. Ziel der Persönlichkeitsentwicklung ist nach Erikson die Bildung einer eigenen Identität. Erikson lehnt sich bei der Entwicklung seiner Theorie an die psychoanalytische Theorie Sigmund Freuds an. Erikson bezieht jedoch kulturelle Unterschiede mit ein und ist insgesamt – im Gegensatz zu Freud – von der Normalität einer „gelungenen“ Sozialisation überzeugt. Er erweitert Freuds Theorie um psychosoziale Modalitäten und Krisen. Erikson ist der erste Psychoanalytiker, der die Familie der PatientInnen in die Therapie einbezieht.

Entwicklung als lebenslanger Prozess Im Gegensatz zu Freud endet die psychosoziale Entwicklung nach Erikson nicht mit dem Abschluss der Pubertät, sondern schließt das gesamte Erwachsenenalter bis hin zum Tod mit ein. Damit verdeutlicht er, dass Entwicklung einen lebenslangen Prozess und nicht nur ein Phänomen der Kindheits- und Jugendphase darstellt.

Spannungsverhältnisse Die Identitätsbildung ist nach Erikson durch sogenannte Spannungsverhältnisse gekennzeichnet. Diese Spannungen entstehen durch den Wunsch nach Einzigartigkeit in Abgrenzung zu anderen Individuen, dem die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit sich permanent ändernden Umweltanforderungen, die vor allem die gesellschaftlichen Bezugsgruppen betreffen, gegenübersteht (Fischer 2000, 25). Bewältigt das Individuum diese Problem- bzw. Spannungszustände, führt dies zu positiven Gefühlszuständen, die dann in neuen Situationen als Voreinstellungen wirksam werden können. Nicht bewältigte individuelle Problemsituationen hingegen können Unsicherheits- und Angstpotenziale erzeugen. Ein adäquates Selbstwertgefühl ist unter anderem das Ergebnis eines „Nettogewinns an positiven emotionalen Erfahrungen“ (Fischer 2000, 24). Neben der biologischen Reifung berücksichtigt Erikson auch den sozialen Kontext und schreibt vor allem der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen eine große Bedeutung zu (Fischer 1996, 84).

Entwicklungsaufgaben Grundgedanke der Entwicklungstheorie Eriksons ist, dass Menschen im Laufe ihres Lebens phasenweise Entwicklungsaufgaben bewältigen müssen. Er formulierte hierzu einen aus seiner Sicht universal gültigen Entwicklungsplan, in dem jeder Entwicklungsstufe eine Entwicklungsaufgabe zugeschrieben wird. Jede nachfolgende Stufe enthält dabei die vorhergehenden Stufen.

Bewältigung phasentypischer Konflikte Die einzelnen Stufen bereiten einen phasentypischen Konflikt, der durch die gewachsenen Fähigkeiten und den damit einhergehenden Wünschen einerseits und den gewandelten Anforderungen des sozialen Feldes andererseits entsteht. Folgende phasentypische Konflikte sind zu bewältigen (Berk 2005, 22):

1. Urvertrauen versus Urmisstrauen (Geburt bis ein Jahr)

2. Autonomie versus Scham und Zweifel (ein bis drei Jahre)

3. Initiative versus Schuldgefühl (drei bis sechs Jahre)

4. Werksinn / Fleiß versus Minderwertigkeitsgefühl (sechs bis elf Jahre)

5. Identität versus Rollendiffusion (Adoleszenz)

6. Intimität / Solidarität versus Isolierung (frühes Erwachsenenalter)

7. Generativität versus Selbstabsorption (mittleres Erwachsenalter)

8. Integrität versus Verzweiflung (älteres Erwachsenenalter)

Nicht gelöste Konflikte können nach Erikson zu einem späteren Lebenszeitpunkt bearbeitet werden. Innerhalb der psychomotorischen Entwicklungsförderung müssten also Themen und Inhalte einbezogen werden, deren Bearbeitung und Lösung identitätsfördernde Funktionen zukommen.

Moderne Entwicklungstheorien distanzieren sich zwar von Eriksons genetisch determiniertem Phasenmodell mit festgelegten, allgemeingültigen zeitlichen Abläufen und Krisen, erkennen jedoch auch die Bedeutung von Krisen und Lebensthemen für den Identitätsbildungsprozess an (Fischer 1996, 80, 83).

psychosoziale Modalitäten und bewegungsorientierte Aktivitäten Darüber hinaus ist für die Psychomotorik besonders interessant, dass den vier in die Kindheit fallenden Stufen, entsprechend der psychosozialen Modalitäten, bewegungsorientierte Aktivitäten zugeordnet werden können (Hammer 2001, 55). Diese Bewegungsmodalitäten können sich in psychomotorisch initiierten Betierte Aktivitäten wegungssituationen wiederfinden bzw. lassen sich dort inszenieren (Tab. 3).


Psychosoziale KrisenPsychosoziale ModalitätenBewegungsorientierte Aktivitäten
Vertrauen – Misstrauen (1. Lebensjahr)geben – bekommen„Ich bin, was man mir gibt“■ entspannt liegen■ gehalten werden■ Körperkontakt suchen■ sich einwickeln (Wärme)■ schaukeln und schwingen■ sich fallen lassen■ schweben im Wasser
Autonomie – Scham und Zweifel (2. und 3. Lebensjahr)festhalten – loslassen auf eigenen Füßen stehen„Ich bin was ich will“■ erforschen von Dingen und der Umwelt■ erforschen des eigenen■ Körpers, der eigenen Möglichkeiten■ ausprobieren von Materialien (z. B. Fahrgeräte)■ Fangspiele (einer gegen alle)■ verstecken (= entdeckt werden als Bestätigung der eigenen Existenz)■ raufen und balgen
Initiative – Schuldgefühl (4–6. Lebensjahr)Tun (Drauflosgehen) Tun als ob„Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann“■ Rollenspiele (Räuber und Gendarm, Monsterspiele)■ Wettkämpfe (Laufspiele)■ mit Fahrgeräten in den Raum fahren
Werksinn – Minderwertigkeitsgefühl (Schulalter)mit anderen zusammen etwas „Richtiges“ machen„Ich bin was ich lerne“■ Judo, Tanz■ Klettern, Kanu■ Segelboot bauen und damit auf Törn gehen■ Fahrräder zusammen-bauen und damit fahren

Entwicklung als ökologisch-systemischer Prozess: Neben der Perspektive Entwicklung als subjektive Sinn-Konstruktion, die das handelnde Subjekt in den Vordergrund stellt und der Perspektive Entwicklung als Identitätsbildungsprozess, die körperlich gesammelte Erfahrungen als Bestandteile der personalen Identität betrachtet, ist die ökologisch-systemische Perspektive der Entwicklung von Bedeutung, da diese die Sichtweise der (kindlichen) Entwicklung um den sozialen und sozial-räumlichen Lebenskontext des Individuums erweitert (Kap. 1.2.4). Diese Entwicklungstheorie betont nicht die traditionellen psychischen Prozesse (Wahrnehmung, Motivation, Denken und Lernen), sondern deren Inhalt: Was wird wahrgenommen, gewünscht, gefürchtet oder als Wissen erworben und wie verändert sich das Wesen dieses psychologischen Materials durch den Einfluss der Umwelt? (Bronfenbrenner 1989, 25).

kontextuelle Einflüsse Diese Theorie verdeutlicht, dass „Entwicklung niemals im Vakuum stattfindet.“ Vielmehr muss sie immer „aus der Verflochtenheit personengebundener wie kontextueller Variablen erklärt werden“ (Fischer 2000, 26).

Uri Bronfenbrenner Uri Bronfenbrenner entwickelte seine Theorie der sozial-ökologischen Entwicklung Ende der 1970er Jahre. In ihrem Mittelpunkt steht die soziale Wirklichkeit des Kindes und wie sich diese auf kindliche Entwicklung auswirkt.

kulturell geprägtes Ökosystem Bronfenbrenner betont die Bedeutung eines kulturell geprägten Ökosystems, welches auf die Möglichkeiten des Individuums abgestimmt ist. Menschliche Entwicklung wird als Veränderung von Individuen in sich wandelnden räumlich-materiellen und personell-sozialen Umwelten verstanden. Entwicklung ist ein Prozess, „durch den die sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verlässlichere Vorstellungen über [sich selbst und] ihre Umwelt erwirbt. Dabei wird sie zu Aktivitäten und Tätigkeiten motiviert und befähigt, die es ihr ermöglichen, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu erkennen und zu erhalten oder auf nach Form und Inhalt ähnlich komplexen oder komplexeren Niveaus umzubilden“ (Bronfenbrenner 1989, 44).

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