„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Lebensgeschichte der Susanne Bechstein

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Rudolf wünschte sich eine Musiktruhe, da er nur ein Kofferradio besaß. Weil wir keine großen Sprünge machen konnten und eine solche Anschaffung nicht bar bezahlen konnten, beschlossen wir, uns diese mittels Ratenzahlung zu leisten. Da wir nicht verheiratet waren, lief der Vertrag auf Rudolfs Namen.

Unser neues Zuhause wurde mit der Zeit immer gemütlicher und wir genossen jeden Tag, den wir zusammen verbringen konnten. Zu seinen Geschwistern hatte Rudolf wieder gute Beziehungen aufgebaut. Oft besuchten wir Fredi und Lilo in deren edel eingerichteter Neubauwohnung. Fredi war 1953 aus Ost-Berlin geflüchtete, als es den ersten Aufstand gegeben hatte. Er arbeitete auf dem Bau und verdiente schönes Geld. Aufgrund der Hauswartstelle brauchten er und Lilo nur die Hälfte der Miete zu bezahlen.

Nach einem Jahr Ehe auf Probe wurde uns von Herrn Weinrich regelrecht die Pistole auf die Brust gesetzt, zumal er die Absicht hatte, seine Wohnung zu kündigen. Er plante, weiterhin auf seinem Grundstück zu leben, und brauchte die Wohnung nicht mehr. Wir mussten also entweder umgehend heiraten oder uns stand der Auszug bevor. Da ich immer noch nicht volljährig war und daher auch noch nicht mündig, um diese Entscheidung für mich zu treffen, wurde die Situation für Rudolf und mich zum Problem. Ich benötigte das Einverständnis meines gesetzlichen Vormundes, den ich nicht kannte …

Meine Kindheit und Jugend in Perleberg bis 1952

Alles, was ich im Folgenden erzähle, habe ich während jahrzehntelanger Recherchen in Archiven, gleichzeitig aber auch aufgrund von Beobachtungen und Befragungen innerhalb meiner Familie herausgefunden. All dies machte mich zu einer starken und selbstsicheren Frau, und so spielte ich meine Rolle, wenn man es von außen betrachtete, sehr gut. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus, denn ich litt mein ganzes Leben lang an einem zerbrochenen Herzen.

Ich erblickte das Licht der Welt am 16. März 1939 vier Wochen zu früh in Perleberg. Diese Stadt wird auch „die Perle der Prignitz“ genannt. Ab 1772 war Perleberg Garnisonsstadt und hatte 300 Jahre Militär, Pest und Krieg überstanden. Ein romantisches Städtchen in der Prignitz am großen Markt Nummer 4 – ein Haus, das bis heute eines der ältesten Gebäude in der Stadt ist und unter Denkmalschutz steht. Das sogenannte Knaggenhaus, ein architektonisches Kleinod.

Beginnen wir bei meiner Familie bei meinem Opa, Max Lange, der am 15. November 1885 im Vogtland Reichenbach zur Welt kam. Er heiratete am 25. Juli 1903 seine Cousine Martha Lange, die am 20. Dezember 1883 in Altmannsgrün/Treuen Auerbach, Vogtland das Licht der Welt erblickte. Während ihrer Ehe brachte sie drei Jungen und drei Mädchen zur Welt. Das jüngste ihrer Kinder war meine Mutter Anna Irmgart Lange, geboren am 22. November 1919 in Perleberg. Und dann ist da noch mein Vater zu erwähnen, Alfred May, geboren am 17. April 1917 in Dortmund.

Meine Großmutter Martha verstarb am 27. Oktober 1930 in Perleberg an Kehlkopfkrebs. Sie wurde nur siebenundvierzig Jahre alt. Meine Mutter war zu der Zeit elf Jahre alt und liebte ihre Mutter abgöttisch. Der frühe Verlust belastete sie bis zu ihrem Tod im Jahre 2010. Martha war also meine richtige Oma, die ich leider nie kennengelernt habe.

Mein Opa Max war Oberschweizer (Melker) und Handelsmann von Beruf. Weil es ihm schwerfiel, seine große Familie zu ernähren, versuchte er sich in mehreren Berufen. Zum Beispiel war er eine Zeit lang Dorfpolizist, allerdings war ihm in dieser Funktion sein zu großes Herz im Wege. Eines Tages erhielt er den Befehl, zwei Diebe bei der Polizei abzuliefern. Als er sie zu dem begangenen Diebstahl befragte, behaupteten sie, sie seien hungrig gewesen und hätten etwas zu essen gestohlen. Opa ließ die Männer laufen und war damit seinen Posten los. Laut seinen Erzählungen hatte er es auch mit einem Zigarrengeschäft versucht. An dessen Eingang stand eine große Figur, ein Mohr, der mit dem Kopf nickte. Nach einigen Jahren ging Opa mit dem Geschäft pleite.

Nach dem Tod seiner Frau heiratete Opa ein zweites Mal. Hertha Palm aus Havelberg, die angeblich zwanzig Jahre jünger war als Opa, brachte ihre Tochter Gerda Palm mit in die Ehe. Diese wiederum war am 28. Februar 1925 geboren worden und somit sechs Jahre jünger als meine Mutter. Auf diese Weise kam meine Mutter zu einer Stiefmutter, mit der sie sich nicht verstand, und einer Stiefschwester, die in allen Belangen den ersten Platz einnahm.

Nach ihrem Schulabschluss arbeitete meine Mutter bei der Firma Borchert in Perleberg. Dabei handelte es sich um ein Schreibwarengeschäft. Kein Tanzboden war vor ihr sicher, was ihr bereits in jungen Jahren reichlich Ärger einbrachte. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, kam es nicht selten vor, dass ihr Vater in den späten Abendstunden durch die Lokale streifte, um sie zu suchen. Fand er sie schließlich, prügelte er sie mit dem Teppichklopfer nach Hause.

Ab April 1935 und 1936 begann wieder der Flugbetrieb auf dem Fliegerhorst in Perleberg, der inzwischen neu angelegt worden war. Hier war mein Vater stationiert und hatte mittlerweile den Rang als Obergefreiter erreicht.

In Perleberg tobte von nun an das Leben. Laut den Erzählungen meiner Mutter lernte sie meinen Vater, den jungen Alfred May aus Dortmund, beim Tanzen im Bürgergarten im Hagen an der Stepenitz kennen. Angeblich war es Liebe auf den ersten Blick. Mein Vater war nur zwei Jahre älter als meine Mutter. Nach seinem Schulabschluss meldete er sich vor Kriegsbeginn freiwillig zum Militär, wo er zum Flugzeugmonteur und zum Fluglehrer ausgebildet wurde. Ab April 1936 war unter anderem das Kampfgeschwader III./KG 153 auf dem Fliegerhorst stationiert.

Meine Mutter war achtzehn, als sie schwanger wurde. Wie bereits erwähnt, kam ich vier Wochen zu früh zur Welt. Es war, wie damals üblich, eine Hausgeburt. Als mein Vater an dem Tag vom Dienst nach Hause kam und meine Mutter im Bett liegen sah, war er sehr erstaunt und fragte, ob sie krank sei. Das wohl nicht, antwortete sie, er solle aber mal in das Körbchen schauen, das am Ofen stand. Daraufhin sah er Mutter mit seinen großen blauen Augen erstaunt an, und als er erkannte, was sich in dem Körbchen befand, liefen ihm Freudentränen über das Gesicht. Vorsichtig hob er sein zerbrechliches Kind heraus und setzte sich zu meiner Mutter auf die Bettkante. „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“, wollte er wissen. „Ein Mädchen“, antwortete meine Mutter. Eines, das genau solche blonden Locken und ebenso blaue Augen hatte wie er. Mittlerweile hatte sich die ganze Familie um das Bett versammelt, um meinen Vater, der schon längst zur Familie gehörte, zu beglückwünschen. Oma Hertha kochte Kaffee und die Hebamme schilderte meinem Vater, wie die Geburt verlaufen war. Leider hatte sie keine so erfreuliche Mitteilung, denn während meiner Geburt hatte sich herausgestellt, dass meine Mutter mit Zwillingen schwanger gewesen war. Der Junge, der mein Bruder geworden wäre, war als Embryo im Mutterleib abgestorben, wahrscheinlich hatte das auch die Frühgeburt ausgelöst.

Wie aus dem Geburtenregister hervorgeht, erkannte mein Vater am 16. April 1939 die Geburt seines unehelichen Kindes an. Während dieser Zeit schloss er eine Lebensversicherung über 30.000 Reichsmark ab.

Nachdem sich meine Mutter von den Strapazen der Geburt erholt hatte, wurde das Aufgebot bestellt. Die Eltern meines Vaters lebten in Dortmund und durften von meiner Existenz nichts erfahren. Er war nämlich vonseiten seiner Familie einer anderen Frau aus reichem Hause versprochen worden, deren Familie ein großes Hotel in Dortmund besaß. Sein Vater Paul May, der krank war und im Rollstuhl saß, würde es angeblich nicht überleben, dass sein Sohn eine andere Frau liebte und zudem auch noch ein uneheliches Kind hatte.

Mein Vater liebte mich sehr. Wenn er dienstfrei hatte, wickelte er mich, gab mir das Fläschchen und schob mit stolzer Miene den Kinderwagen vor sich her. Das beweisen Fotos, die ich mir auch heute noch wehmütig ansehe. Wir waren eine glückliche Familie. Allerdings war das Geld knapp. Mutter konnte nicht arbeiten und mit dem Zigarrengeschäft ihres Vaters ließ sich keine fünfköpfige Familie ernähren. Das Kindergeld und das, was meine Mutter von meinem Vater erhielt, reichte zwar, aber große Sprünge konnte sie damit nicht machen. Dabei liebte sie das Leben und legte großen Wert auf elegante Kleidung.

Um mehr Geld für die Familie zu verdienen, meldete sich mein Vater freiwillig als Pilot und flog die Ju 52, in der er Flugschüler ausbildete. Damit war es ihm möglich, seiner kleinen Familie 50 Reichsmark im Monat mehr zukommen zu lassen. Das war noch vor dem Krieg. Der wiederum begann am 1. September 1939, als Hitler den Befehl gab, Polen anzugreifen.

Meine Mutter und meine Großeltern machten sich zu der Zeit Sorgen um meinen Vater, weil er nun nicht mehr zum Bodenpersonal gehörte und sich der Gefahr aussetzte, ein so großes Flugzeug zu fliegen. Wenn er morgens zum Flughafen fuhr, klopfte er zum Gruß von draußen an die Fensterscheibe. „Junge, pass bloß auf, dass dir nichts passiert!“, rief meine Oma Hertha ihm dann jedes Mal zu. Vater nahm es mit Humor, indem er sagte: „Ach Mutter, der Himmel hat doch Balken, da kann mir nichts passieren.“ Mir kommen die Tränen, während ich das schreibe, und mir wird das Herz schwer.

Von den Kriegsvorbereitungen bekam die Bevölkerung Perlebergs kaum etwas mit. Nur dass jetzt tagsüber und sogar nachts der Fluglärm in der gesamten Region zu hören war. Damals, im nationalsozialistischen Reich, war die Stimmung äußerst angespannt angesichts dessen, was die Bevölkerung aus dem Radio (Goebbelsschnauze) zu hören bekam. Hinter vorbehaltender Hand wurde gemunkelt, dass Adolf Hitler seit seiner Machtergreifung im Jahr 1933 etwas im Schilde führte, was sich ja später nicht nur mit der Vernichtung der Juden als wahr herausstellen sollte. Mein Vater machte meiner und seiner eigenen Familie in Dortmund gegenüber nur Andeutungen, um niemanden zu beunruhigen. Dass es womöglich bald Krieg geben würde, war ihm allerdings wohl schon klar.

 

Nicht nur der Fliegerhost wurde neu gestaltet und umgebaut, auch das Lyzeum wurde umfunktioniert und diente den Soldaten als Kaserne. Auch weiterhin waren die Tanzlokale jeden Abend der Mittelpunkt des Interesses und die Stimmung unter den Frauen konnte nicht besser sein. Hier verkehrten schmucke Fliegersoldaten, die in ihren Uniformen äußerst ansprechend aussahen. Die Frauen hatten freie Wahl, wenn es darum ging, den passenden Mann oder einen geeigneten Tanzpartner zu finden. Ich war bei meinen Großeltern gut aufgehoben, wenn meine Mutter und ihre Stiefschwester Gerda zum Tanzen ausgingen, was meinem Vater so gar nicht recht war.

Es war Mitte Mai 1939. Ich war inzwischen acht Wochen alt und schlief die meiste Zeit. Ich hatte ja vier Wochen nachzuholen, die ich normalerweise in meiner sicheren „Taucherglocke“ verbracht hätte. Sogar zu den Mahlzeiten musste meine Mutter mich wachmachen, wie sie mir später erzählte. Der 19. Mai – es war ein Freitag – war der schwärzeste Tag im Leben meiner Familie. Eigentlich hatte mein Vater endlich mal einen ganzen Tag frei. Diesen wollte er mit seiner kleinen Familie an der Stepenitz – ein Fluss, der durch Perleberg fließt – im Hagen verbringen. Aber wie ich schon schrieb, geht das Leben manchmal seltsame Wege, gegen die man einfach machtlos ist. Ein Fliegerkamerad und Freund meines Vaters kam am Abend des 18. Mai zu uns und bat meinen Vater, ob er dessen Dienst am nächsten Tag übernehmen könne. Er wolle sich an diesem Tag verloben und alle Vorbereitungen seien bereits getroffen. Natürlich war es unter Kameraden Ehrensache, dass der eine für den anderen da war. Also übernahm mein Vater diesen Dienst für seinen Freund. Es sollte sein letzter Flug werden, denn das Flugzeug, in dem er saß, stürzte am Nachmittag um 15:45 Uhr über dem östlichen Flugplatzhangar von Perleberg ab. Zwei seiner Kameraden waren sofort tot, während mein Vater zunächst noch lebte. Mit dem Krankenwagen sollte er in das Krankenhaus in der Bergstraße in Perleberg gebracht werden. Unterwegs – etwa auf Höhe der Bäckerstraße – murmelte er immer wieder Mutters Kosenamen: „Mulle, Mulle“, bevor er noch während der Fahrt verstarb.

Eine Freundin meiner Mutter, die unmittelbar am Flughafen wohnte, hatte den Absturz beobachtet und insgeheim gedacht: Hoffentlich war das nicht der Fred – so nannten ihn seine Freunde.


Mein Vater Alfred May 1938

Mutter hatte mich auf dem Arm und war im Begriff, mir das Fläschchen zu geben, als es am Abend an der Tür klopfte. Als Oma Hertha öffnete, standen zwei Herren in Uniform vor ihr und wollten Fräulein Lange sprechen. Sie ließ die Herren eintreten, woraufhin die beiden meiner Mutter die unfassbare Nachricht mitteilten. Daraufhin fiel sie in Ohnmacht! Gott sei Dank gelang es Oma Hertha, mich aufzufangen, bevor ich auf den Fußboden stürzte.

Von diesem Moment an geriet das Leben meiner Mutter völlig aus den Fugen. Sie war kaum noch ansprechbar und beweinte Tag und Nacht den Verlust ihres Liebsten, der nur sechsundzwanzig Jahre alt geworden war. Mein Vater wurde mit allen Ehren auf dem Fliegerhorst verabschiedet und schließlich nach Dortmund überführt. Damit erfuhr seine Familie auch von meiner Existenz, denn die Schwester meines Vaters, Emmi May, war von Dortmund nach Perleberg gereist, um der Überführung beizuwohnen und die nötigen Formalitäten zu erledigen. Völlig überrascht registrierte sie, dass ihr Bruder eine Familie gegründet hatte. Sie blieb einige Tage in Perleberg und wohnte im Hotel Deutscher Kaiser. Nachdem Emmi alle Formalitäten im Fliegerhorst und mit meiner Familie erledigt hatte, kehrte sie nach Dortmund zurück, wo sie bei ihren Eltern lebte und in einer Bank arbeitete.

Mit der Zeit entwickelte sich ein Briefwechsel zwischen Emmi und meiner Mutter. Von den Eltern meines Vaters war allerdings nie die Rede und sie meldeten sich auch nicht. Hin und wieder bekam meine Mutter ein Päckchen mit Babybekleidung und einmal auch eine Käte-Kruse-Puppe für mich. Ob und inwieweit meine Großeltern daran beteiligt waren, konnte meine Mutter nicht in Erfahrung bringen. Nur dass der Vater offenbar nicht tot umgefallen war, als er erfuhr, dass sein Sohn einen tödlichen Unfall gehabt hatte. Aber ein Enkelkind hätte angeblich seinen Tod bedeutet.

Von der Versicherungssumme, die der Familie meines Vaters zugesprochen worden war, bekam ich als sein Kind 3000 Reichsmark, die für mich mündelsicher angelegt wurden, damit ich später in der Schule und während der Zeit meiner Ausbildung versorgt war.

Am 23. Juli 1939 wurde ich in der St. Jacobi Kirche am Großen Markt auf den Namen Doris Martha Lange getauft. Wie in meiner Taufurkunde zu lesen ist, waren Fräulein Emmi May und Frau Hertha Lange meine Taufpaten.

Meine Mutter arbeitete wieder bei der Firma Borchert, die in der Zwischenzeit auf dem Fliegerhorst ein weiteres Schreibwarengeschäft eröffnet hatte. Ich frage mich, wie Mutter an dem Ort arbeiten konnte, an dem mein Vater zu Tode gekommen war. Sie hatte ihn doch beweint und um ihn getrauert! Ich habe später nie mit ihr über dieses Thema gesprochen. Schließlich dauerte es nicht lange, und Mutter hatte sich wieder in einen Flieger verliebt. Sie schwebte auf Wolke sieben. Sein Name war Erich Manke und er war besessen von meiner Mutter – wie alle Männer, die sie kennenlernten. Er wurde am 11. Oktober 1919 in Leipzig geboren und war Angehöriger der Einheit 1. Staffel I Kampfgeschwader 30.

Mutters Stiefschwester Gerda, war Dienstmädchen bei einem bekannten Arzt in Perleberg. Er war verheiratet und dessen Familie gehörte zu den gut betuchten Leuten. Sie waren Inhaber einer großen Fleischerei. Im Alter von sechzehn Jahren wurde Gerda schwanger. Wie sich herausstellte, war sie von ihrem Arbeitgeber vergewaltigt worden. Um einen Skandal zu vermeiden, wurde der Familie Lange eine beträchtliche Summe Schweigegeld angeboten. So einigte man sich und damit war das Problem für den Arzt und dessen Familie aus der Welt geschafft worden. Niemand erfuhr, wer der Vater von Gerdas Kind war.

Inzwischen war es September geworden und der Krieg mit Polen hatte begonnen. Jetzt starteten die Flugzeuge tagsüber und auch nachts vom Fliegerhorst und der Fluglärm war laut Schilderungen meiner Familie kaum zu ertragen. Trotzdem vergnügten sich die Frauen auf den Tanzböden, als sei die Welt noch in bester Ordnung. Sogar aus der näheren Umgebung wie zum Beispiel aus Wittenberge und aus anderen Städtchen oder Dörfern kamen Frauen, um sich mit den schmucken Fliegern zu zeigen und sich mit ihnen zu amüsieren. Natürlich waren meine Mutter und ihre Freundinnen auch dabei. Erich Manke, Mutters neue Liebe, bat sie, sich mehr um mich zu kümmern und ihr Versprechen einzuhalten, auf das Tanzengehen zu verzichten. Er sei schließlich im Krieg und kämpfe jeden Tag um sein Leben. Ein Foto meiner Mutter hatte er in der Kanzel angebracht, sodass sie ihn auf diese Weise während seiner Einsätze im Krieg begleitete. Erichs Warnung, seine Kameraden würden es ihm schon berichten, wenn meine Mutter doch tanzen ginge, hatte sie leichtfertig hingenommen. Sie nahm überhaupt das ganze Leben leicht und tat stets das, wonach ihr der Sinn stand, und dazu gehörte es, sich zu amüsieren.

Als Erich von einem seiner Einsätze zurückkehrte, trafen sich beide wie gewohnt im Hotel „Prinz Heinrich“, das sich ganz in der Nähe vom Bahnhof befand. Er brachte Geschenke mit, unter anderem Nylonstrümpfe, die sich zu der Zeit kaum eine Frau leisten konnte. Dann kam es zwischen ihnen zu einer Aussprache. Erichs Kameraden hatten ihm nämlich berichtet, dass meine Mutter tatsächlich zum Tanzen ausging und sich mit anderen Männern vergnügte. Sie war im Hotel Stadt Magdeburg und nicht nur dort gesehen worden. Erichs Gedanken waren bei jedem seiner Einsätze bei ihr, und weil er oft in brenzligen Situationen ums nackte Überleben kämpfte, wünschte er sich eine Frau, auf die er sich verlassen konnte. Er erklärte meiner Mutter, sie sei deshalb nicht die Richtige für ihn. So endete wieder einmal eine ihrer Liebesgeschichten. Diese eine Nacht verbrachten die beiden noch gemeinsam im Hotel, und dann war Schluss. Davon erzählte mir meine Mutter Jahrzehnte später und sie bedauerte, damals einen großen Fehler gemacht zu haben. Im Alter von dreiundachtzig Jahren erkundigte sie sich beim Roten Kreuz nach Erich, um zu erfahren, ob er den Krieg überlebt hatte. In dem Schreiben, das ich besitze, wurde ihr mitgeteilt, dass „Herr Erich Manke geb. 11. Oktober 1919 in Leipzig-Mockau, in unseren Unterlagen als Verschollener des II. Weltkrieges verzeichnet ist. Er wird seit dem 26. Juli 1943 nach einem Feindflug gegen die Hafenanlage La Valletta/Malta vermisst. Er war zu diesem Zeitpunkt Angehöriger der Einheit 1. Staffel 1 Kampfgeschwader 30. Meldungen über den Verbleib oder Tod des sogenannten liegen nicht vor.“ Meine Mutter meinte daraufhin, dass Erich sich im Falle seines Überlebens bestimmt bei ihr gemeldet hätte.

Am 20. März 1940 erblickte Monika, die Tochter von meiner Mutters Stiefschwester Gerda, das Licht der Welt. Genau wie ich war sie ein ungewolltes und ungeliebtes Kind. Ich war inzwischen ein Jahr alt.

Im Jahr 1935, genau genommen am 26. Juni, wurde der Reichsarbeitsdienst erlassen. Das war eine Organisation im nationalsozialistischen Deutschen Reich, um dem Reich zu dienen. Im Jahr 1938 führten die Nazis das Pflichtjahr für Mädchen im Alter zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Jahren ein. Damit traf dieses Gesetz jetzt auch auf die Frauen in und um Perleberg zu. Sie wurden arbeitsverpflichtet und mussten in Wittenberge in der Zellwolle, in der Ölmühle und in anderen Bereichen dem Deutschen Reiche dienen. In den Fabriken herrschten eine strenge Hierarchie und strenge Vorgaben, über die meine Mutter und ihre Stiefschwester Gerda hinwegsahen. Wenn sie in den frühen Morgenstunden vom Tanzen nach Hause kamen, hatten sie natürlich keine Lust, sich dem strengen Gesetz der Nazis zu unterwerfen, und blieben der Arbeit fern. Wie oft wurden sie von ihren Freundinnen und Vorgesetzten ermahnt, ihrer Arbeit nachzukommen. Vermutlich stieß auch das bei beiden auf taube Ohren. Die Nazis sahen sich das nicht länger an. Meine Mutter war dreiundzwanzig Jahre alt, Gerda achtzehn, als sie im August 1942 abgeholt und nach Potsdam gebracht wurden, wo man sie vorübergehend in Gewahrsam nahm. Von dort wurden die beiden einige Wochen lang tagtäglich mit dem Auto zur Arbeit nach Wittenberge gebracht, bis über sie ein Urteil gefällt wurde. Beide wurden aus politischen Gründen am 2. Dezember 1942 in das größte Frauenkonzentrationslager Ravensbrück interniert. Unterlagen, die ich während meiner Nachforschungen erhielt, belegen diesen Umstand. Ich denke, die Haftnummer und der Stern, den die beiden tragen mussten, sind nicht wichtig für meine Leser. Oma Hertha wurde verurteilt, weil sie ihrer Aufsichtspflicht als Mutter nicht nachgekommen war, außerdem beschuldigte man sie der Kuppelei. Dafür kam sie für einige Zeit ins Gefängnis. Opa Max befand sich in Holland und erfüllte dort als Arbeitsvermittler seine Pflicht. Was er in Holland unter „Pflicht“ verstand, konnte ich bis heute nicht in Erfahrung bringen. So wurde eine Familie aufgrund ihres leichtsinnigen Lebenswandels zerstört. Zu der Zeit war ich drei Jahre alt. Monika wurde nach Wittenberge in ein Heim gegeben und auch ich wurde von einem Tag auf den anderen aus meiner vertrauten Umgebung gerissen. Ich kam in das Kinderheim in Perleberg und fand mich zwischen vielen anderen Kindern und Frauen in schwarz-weißen Gewändern wieder. Auf ihren Köpfen trugen die Frauen eine Haube mit einer Schleppe. Sie waren sehr lieb zu mir und den anderen Kindern und sie trösteten uns, wenn wir weinten. Kein einziges vertrautes Gesicht war mir geblieben. Ich hatte von nun an keine Mutter und keine Großeltern mehr, stattdessen war da eine Nonne, zu der wir Kinder „Mütterchen“ sagten.

Zusammen mit den anderen Kindern bewohnte ich einen großen Raum. Abends weinte ich mich in den Schlaf und hatte seltsame Träume, die ich in dem jungen Alter nicht zu deuten wusste. Ständig war ich auf der Suche nach meiner vertrauten Umgebung, nach Gesichtern, die mir vermittelten, dass ich geliebt wurde, aber ich fand nichts von alledem. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an meine neue Umgebung, begriff aber noch lange nicht, was mit mir geschehen war.

 

Beim Frühstück saßen wir an einem langen Tisch und beteten jeden Morgen zu Gott, dass er seine schützende Hand über uns halten möge. Wer bereits singen konnte, sang mit den Nonnen. An manchen Tagen gingen wir mit Mütterchen und den anderen Nonnen auf den Markt, auf dem ein großer Mann aus Stein stand, der ein Schild und ein Schwert in der Hand hielt. Im Hagen, wo die Stepenitz fließt, tobten wir auf der Wiese und pflückten Butterblumen und Gänseblümchen, um daraus mit Mütterchens Unterstützung einen Blumenkranz zu flechten, den wir dann stolz auf unseren Köpfen trugen. Oder wir spielten auf dem Hof, wo wir mit Vergnügen schaukelten.

Als Weihnachten herangekommen war, beteten wir zu Gott und aßen gemeinsam zu Abend. Anschließend wurde das Zimmer geöffnet, in dem ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum stand. Unsere Kinderaugen leuchteten, denn so etwas hatten wir bis zu dem Tag noch nie gesehen. Schließlich überreichte uns Mütterchen Geschenke. Ich bekam unter anderem einen kleinen Kochherd und ein paar Töpfe, mit denen ich richtig kochen konnte, wenn ich eine Kerze in den Herd stellte. Es gab selbstgebackene Kekse und Süßigkeiten, wie wir sie von den Nonnen nur selten bekamen. Das war natürlich das Schönste an Heiligabend für uns Kinder.

Dann wurde ich plötzlich sehr krank und sah die folgende Szene vor mir: Ich liege alleine in einem Zimmer. Ein Mann kommt zu mir und pikst mir mit einer Nadel in den Arm. Das tut so weh, dass ich mein ganzes Stimmenvolumen zum Einsatz bringe. Ich falle in einen tiefen Schlaf und habe wieder seltsame Träume. Viele Hände greifen nach mir; es sind dicke und dünne Männer, die mich aus meinem Bett zerren wollen. Ich wehre mich heftig und fange laut an zu schreien … Dann wachte ich auf.

Als Kind vergaß ich derartige Träume rasch, doch irgendwann holten sie mich wieder ein und ich sah immer neue Szenen: Ich stehe am Fenster und schaue nach draußen. Ich höre einen lauten Knall und sehe, wie ein Mann und sein Pferd plötzlich umfallen. Auf der Straße ist es sehr laut. Es wird geschossen und viele große Autos fahren an unserem Haus vorbei … Waren das alles tatsächlich nur Träume gewesen oder spiegelten diese Bilder die Realität wider? Seit meinem Einzug in das Kinderheim waren zweieinhalb Jahre vergangen und es wurde immer noch geschossen. Zahlreiche Bomben waren vom Himmel gefallen. Wir Kinder hatten große Angst, wenn Panzer durch unsere Stadt fuhren und zahlreiche Männer mit ihren Gewehren an die Häuser klopften. Menschen standen vor unserem Haus und gaben Befehle in einer Sprache, die wir nicht verstanden. Es waren böse Männer in Uniform und ihr Geschrei klang entsetzlich laut und wütend. Wir Kinder saßen im Keller und klammerten uns an Mütterchen und die anderen Nonnen. Die Frauen beruhigten uns und beteuerten, uns werde nichts passieren. Gott habe unsere Gebete erhört und die Männer seien unsere Befreier. „Der Krieg ist zu Ende“, erklärte Mütterchen. Wir Kinder konnten mit dem Wort „Krieg“ nichts anfangen. Nur dass es etwas Böses zu bedeuten hatte.

Der Krieg endete am 2. Mai 1945 und auf dem Kirchturm im Ort wurde durch Georg Müller die weiße Fahne gehisst. Es folgte eine kampflose Übergabe der Stadt Perleberg an die sowjetischen Truppen. Am 8. Mai 1945 wurde Rudolf Borsch als Bürgermeister eingesetzt, und zwar in Zusammenarbeit mit dem Kriegskommandanten Major Wasiljew. Für uns war der Krieg im Grunde noch nicht vorbei, weil die Russen in Perleberg mit ihren Panzern, Lastkraftwagen und Maschinengewehren Angst und Schrecken verbreiteten. Alles, was ihnen im Weg stand, walzten sie einfach nieder. Die deutsche Abwehr oder genau genommen das, was von ihr übrig war, flog immer noch über die Region, um sich dem Einmarsch zu widersetzen. Was natürlich zwecklos war, wir hatten den Krieg ja längst verloren.

Eines Tages kam Mütterchen zu mir und sagte: „Doris, dein Opa Max ist gekommen, um dich nach Hause zu holen. Ich sagte „Guten Tag“, machte einen Knicks und sah den Mann mit großen Augen an. Er erklärte, er sei mein Opa Max und wolle mich zu meiner Familie bringen, der Krieg sei vorbei. Ich kannte diesen Mann nicht und war entsprechend verunsichert. Mütterchen betonte noch einmal: „Doris, du musst mit ihm gehen, deine Familie wartet auf dich!“ Was war das – eine Familie? Ich kannte so etwas nicht. Wie sollte ich mich als Fünfjährige an das erinnern, was ich zwei Jahre zuvor im Alter von drei Jahren erlebt hatte? Ich hatte keinerlei Erinnerung an meine Vergangenheit, nur vage Erscheinungsbilder, die mich während der Nacht heimsuchten. Natürlich hatte ich große Angst und fing an zu weinen. In meiner Verzweiflung klammerte ich mich an Mütterchen. Der Mann, der mein Opa sein sollte, war nett zu mir. Er strich mir mit der Hand über den Kopf und zog an meinen langen blonden Zöpfen. Dabei lachte er mich mit seinen gütigen Augen freundlich an. „Komm, Doris“, sagte er, „wir müssen jetzt gehen, sie warten alle auf dich!“ Ich umarmte Mütterchen zum Abschied und die anderen Nonnen küssten und herzten mich ein letztes Mal. Die übrigen Kinder winkten mir zu und riefen auf Befehl: „Doris, auf Wiedersehen!“ Der fremde Mann hatte inzwischen meinen Koffer entgegengenommen und hielt meine kleine Hand ganz fest. Zögerlich lief ich neben ihm her und blickte zu ihm auf. Er war ein großer Mann!

Auf unserem kurzen Fußmarsch, der mich in mein neues Zuhause bringen sollte, sah ich mich um. Zahlreiche Häuser und Straßen waren von den Bomben zerstört worden. Ununterbrochen fuhren Lastwagen an uns vorbei, in denen Männer saßen, die lauthals sangen und lachten. Ich wollte von Opa Max wissen, wohin diese Autos mit den Männern fuhren und warum sie so fröhlich waren. Er erklärte mir, dass die Autos und die vielen Männer, die in Kolonnen marschierten, den Flugplatz besetzt hatten. Der hatte einst unseren deutschen Fliegern und Soldaten gehört und jetzt hatten die Russen ihn übernommen. Mit Opas Erläuterungen konnte ich natürlich nichts anfangen.

Wir waren vielleicht zehn Minuten gelaufen, da sagte Opa Max auf einmal, wir seien jetzt zu Hause. Wir befanden uns in einer kleinen Gasse und standen vor einem Haus, das größer war als das Kinderheim und zu dem eine große Toreinfahrt führte. Mein Zuhause befand sich also im Parterre des Hauses Nachtigallstraße 4, einem alten Gebäude mit Fensterklappen, wo ich tatsächlich bereits erwartet wurde. In den nächsten Stunden stürzte unendlich viel Neues auf mich ein. Fremde umarmten mich. Liebevolle Menschen küssten und streichelten mich. Sie sagten: „Du siehst aus wie dein Vater Fred. Er hatte ebenso blaue Augen wie du und sein Haar war genauso blond.“

„Wo ist mein Vater?“, wollte ich wissen.

„Doris, er ist nicht hier und er kommt auch nie wieder. Aber du bist noch zu klein, um das zu verstehen.“ Merkwürdig, eben war ich noch zu klein gewesen, und im nächsten Moment hieß es, ich sei groß geworden. Ich kannte diese Menschen nicht, keines ihrer Gesichter hatte ich jemals gesehen. Und alles, was sie zu mir sagten und was sie mir zu erklären versuchten, hatte für mich keine Bedeutung.

Dann sagte eine Frau zu mir: „Ich bin deine Oma Hertha, und das ist deine Tante Gerda.“ Ein kleines Mädchen, das mich mit großen braunen Augen ängstlich ansah, stellte sie mir als meine Cousine Monika vor. Ich ging zu der Kleinen, sagte guten Tag und nahm einfach ihre Hand. Da standen wir nun und sahen uns an: zwei Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Meine neue Oma zeigte mir ein Zimmer, in dem ich mit ihr und Opa Max in Zukunft das Bett teilen würde. Tante Gerda und Monika hatten ein eigenes Zimmer. Dann gab es noch ein drittes Zimmer, in dem Regale standen und Kisten mit Obst und Gemüse gelagert wurden. Ich fragte Oma Hertha, ob ich einen Apfel haben dürfe. „Natürlich darfst du dir einen Apfel nehmen!“, antwortete sie. Ich nahm mir einen aus der Kiste und Oma sagte, das seien Hasenköpfe. Ich drehte meinen Apfel hin und her, betrachtete ihn von allen Seiten und fragte, warum er „Hasenkopf“ heiße. „Weil er wie ein Hasenkopf aussieht“, bekam ich zur Antwort. Ich hatte noch nie einen Hasen gesehen und konnte Oma Hertha deshalb nicht folgen. Mit fragendem Blick sah ich sie an. „Schau mal, Doris, dieser Apfel ist nicht rund wie die anderen Äpfel in der Kiste.“ Sie nahm mir meinen Apfel aus der Hand und schüttelte ihn. „Hörst du, wie es in diesem Apfel klappert?“ Ich nickte und wollte wissen, warum es darin so klapperte. „Das sind die Kerne im Gehäuse. Erst wenn sie klappern, sind die Äpfel reif und wir können sie essen. Weißt du, meine Kleine, dein Opa Max hat einen sehr großen Garten. Da wachsen Gemüse, Kartoffeln und Johannisbeeren und es gibt viele Obstbäume. Aber das lernst du noch alles kennen.“ Sie erklärte mir, dass sie und die anderen meine richtige Familie seien. „Wir haben dich vermisst und lieben dich alle sehr.“ Als meine neue Oma mich ganz fest an sich drückte, schlang ich meine Arme um ihren Hals und hielt sie ebenfalls ganz fest.