Sperrgebiet!

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SIEBEN

Das rotweiße Absperrband der Polizei flatterte mit dem Wind, obwohl die Entdeckung der Knochen bereits ein paar Wochen her war und der Fund längst nicht mehr im Fokus der Ermittlungen stand. Inzwischen hing es allerdings in einem Dornenbusch, einige Meter vom Fundort entfernt. Vielleicht hatte es eines der Tiere, die in der Wahner Heide leben und vorbeigezogen waren, in seinem Gehörn mitgeschleift und der nächsten dornigen Hecke überlassen. Für sie war längst wieder animalische Normalität eingekehrt – da störte auch das Plastikband nicht.

Die meisten Lebewesen hier sind überwiegend in den Nächten auf Streife, um Nahrung zu suchen. Da ist die Ruhe auch für sie am größten und sie können, auf ihrer Jagd nach etwas Fressbarem, ihre Beute besser über die Sensorik ihres feinen Gehör- oder Geruchssinnes wahrnehmen. Die lehmigen Randstreifen entlang der Straßen der Region sind dann spätestens in den Morgenstunden aufgewühlt und deuten auf Wildschweine hin, die dort regelmäßig in der schützenden Dunkelheit wühlen. Hier ist der Boden etwas weicher, als der der freiliegenden Flächen im Inneren des Areals. Und nicht so sandig. Auf einem der Parkplätze, die entstanden waren, nachdem die Kasernen der Belgischen Armee abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht wurden, stand seit einiger Zeit ein Mini Cooper mit dem amtlichen Kennzeichen SU – X 1029.

ACHT

„Polizeidienststelle Siegburg, Sie sprechen mit Sebastian Börne. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

Die Polizeidienststelle Siegburg wurde am 4. April 2017 über das Verschwinden von Lena Grimm informiert, ungefähr vier Wochen nachdem sie ihren Wagen auf einem Parkplatz in der Wahner Heide abgestellt und offenbar nicht wieder bewegt hatte. Der Anruf war kein Notruf, sondern ging über die amtliche Leitung ein, sodass er zunächst als harmlose Information über eine möglicherweise vermisste, erwachsene Person bewertet wurde. Der diensthabende Börne hatte die Hinweise eines Oliver Neyer entgegengenommen, der nicht mit Frau Grimm verwandt, verschwägert oder nach dessen eigener Aussage anderswie verbandelt war. Er sei, so sagte er, ihr Chef im Sportstudio „Die Fitmacher“ in Lohmar. Dort leitete sie bis vor wenigen Wochen als selbstständige Trainerin verschiedene Gymnastikkurse und hatte ihre Tätigkeit für die Zeit einer geplanten Abwesenheit unterbrochen. So war jedenfalls ihr Plan gewesen. Außer ihm hatte Lena Grimm zuvor niemand vermisst. Zum einen hatte dies mit der angekündigten Reise zu tun – zum anderen war der Kreis ihrer Kontaktpersonen wohl ohnehin in den letzten Jahren nicht mehr sehr groß. Das meinte jedenfalls Herr Neyer. Der Rest war aktenkundig.

Ihre Familie lebte nicht mehr und sie war von ihrem Ex-Mann seit Jahren getrennt und offiziell geschieden. Grund für das Scheitern ihrer Ehe waren seine vermerkten zahlreichen körperlichen Übergriffe, wegen derer es sogar ein Verfahren gegen Herrn Grimm gegeben hatte. Zu einer Verurteilung war es seinerzeit nicht gekommen, weil seine Frau die Anzeige gegen ihn zurückgezogen hatte. Da er sie danach aber immer wieder stalkte und ihr gerne an dunklen Plätzen auflauerte, und ihr mehrfach erneut mit seiner Faust drohte, wurde er verwarnt. Er bekam ein Kontaktverbot und einen Platzverweis für die gemeinsame Wohnung. Ihm wurde in mehreren Gefährderansprachen untersagt, sich seiner Ex-Frau bis auf 20 Meter zu nähern. Es schien aber überwunden, denn seitdem war es zu keinerlei Zwischenfällen mehr gekommen. Im Hier und Jetzt lebten beide unauffällig und zurückgezogen.

Lena Grimm galt als meditativ, sehr sportlich und naturverbunden. Laut der späteren Zeugenaussagen einiger Mitdozenten und Studenten war sie in der Tat Anfang März aufgebrochen, um in eine etwa vierwöchige Auszeit nach Lanzarote zu starten. Sie lehrte hauptberuflich Sportmedizin an der Uni Köln und hatte sich noch während des Semesters beurlauben lassen, um eine Ruhephase auf der Insel dafür zu nutzen, sich von der Ausarbeitung einer medizinisch, wissenschaftlichen Studie zu erholen, an der sie in den Monaten zuvor Tag und Nacht gearbeitet hatte. Ziel war die Veröffentlichung der Studie und eine damit einhergehende Professur. Intellektuelles Fundament für das Thema „Biochemische Prozesse und Unfruchtbarkeit bei Frauen, bedingt durch den Wirkstoff Syptonil, nach mehrjähriger, illegaler Einnahme leistungssteigernder Mittel im Spitzensport“ waren ihre absolvierten Semester in Medizin und Biochemie.

Ihr Verschwinden wurde tatsächlich erst bemerkt, als sie nach der geplanten Rückkehr nicht zu ihrem Nebenjob im Fitnessstudio erschienen war. Die Bauch-Beine-Po-Fraktion und der Studioinhaber, Oliver Neyer, warteten an dem besagten Morgen um 09.00 Uhr vergeblich auf die ersehnte Rückkehr der Trainerin. Der Anruf des Besitzers bei der Wache in Siegburg wurde getätigt, nachdem Lena Grimm nachmittags auch nicht ihrer Verpflichtung als Power Plate-Spezialistin nachgekommen war und diejenigen, die die Rüttelplatte für Sport hielten, an diesem Tag ohne Training blieben.

Mit viel Getöse hatte Neyer seine Annahmen zum Abgang von Frau Grimm in einem langatmigen Telefonat mitgeteilt, sodass sein Gesprächspartner gereizt reagierte. „Herr Neyer, es ist wirklich nett, dass Sie uns anrufen. Aber bei erwachsenen Menschen können wir nicht viel machen. Sie verschwinden eben manchmal. Nicht immer ist ein Verbrechen die Ursache dafür. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Den gelangweilten Unterton konnte er kaum verbergen. Und er legte noch einen drauf. „Sie tauchen meistens aber nach ein paar Tagen wieder auf oder schicken irgendwann eine Postkarte aus der Karibik oder von sonst wo.“

„Hören Sie Herr Börne, ich sage Ihnen nur das, was ich wahrnehme. Und das ist das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Was Sie jetzt mit den Informationen anfangen, ist Ihre Sache. Guten Abend!“ Neyer legte auf. Er war unüberhörbar sauer und verfluchte sich dafür, überhaupt angerufen zu haben.

NEUN

Börne hatte die Daten zwar oberflächlich auf einem Fetzen Papier notiert, wertete den Anruf aber allenfalls als mehr oder weniger alltägliche Vermisstenmeldung, die zunächst keine allzu große Beachtung fand. Trotzdem würde er seine Kollegen am nächsten Tag anweisen, die Meldeanschrift von Lena Grimm zu überprüfen. Als Sebastian Börne später von den Kollegen der Kripo wegen seiner defensiven Zurückhaltung befragt wurde, wies er wohl etwas schnippisch, aber zu Recht darauf hin, dass es sich um eine erwachsene Person handelte, deren Lebensumstände durchaus auf eine Ausdehnung ihrer geplanten und, in der Wahrnehmung aller, auch angetretenen Auszeit hätte hinweisen können. Weil man sie eben auf Lanzarote vermutete, hatte es selbst aus ihrem Umfeld bisher niemand für möglich gehalten, dass Lena bereits seit mehr als vier Wochen verschwunden war. Im Gegenteil: Man nahm an, dass sie die Reise eben wegen des sonnigen Wetters, der schönen Strände und der angenehmen Lebensbedingungen auf unbestimmte Zeit verlängert hatte. Sie war ja schließlich alt genug. Und unabhängig. Eine solche und spontane Entscheidung habe zur ihr gepasst, hörte man mehrfach bei den späteren Befragungen der Studenten. Und auch, dass sie darüber niemanden in Kenntnis gesetzt hatte.

Der guten Ordnung halber fuhren zwei Beamte der Polizeiwache Siegburg zur Meldeanschrift und überzeugten sich außen wie innen davon, dass Lena Grimm nicht zu Hause war. Der Hausmeister hatte ihnen Zutritt zur Wohnung verschafft, sodass die Tür nicht beschädigt werden musste und die Bedingungen, falls sie zurückkehrte, genauso waren wie vorher. Gefahr im Verzug berechtigte sie in diesem Fall, eine Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl zu betreten. Es war schließlich denkbar, dass sie verletzt oder krank hinter der verschlossenen Türe lag und sich in einer Notsituation befand. Wenn man mal von dem einen oder anderen vergammelten Lebensmittel und der latenten Unordnung absah, war nichts Auffälliges festzustellen. Durchwühlt war nichts. Aber, um die Sache zumindest den Vorschriften entsprechend ernst zu nehmen, und um über jeden Vorwurf erhaben zu sein, hielt man mit dem Fitnessstudio Kontakt. Man ging ebenfalls dem Hinweis des Hausmeisters nach, dass der Wagen von Frau Grimm mit ihr verschwunden war und fahndete nach dem PKW. Auch über die gängigen Medien und die sozialen Internetplattformen. So konnte der sehr auffällige Mini Cooper bereits nach wenigen Tagen, durch die Aufmerksamkeit einer Spaziergängerin, auf einem der Parkplätze der Wahner Heide gefunden und zur Sicherung von Spuren auf einem Hänger, mit weiteren abgeschleppten Fahrzeugen, nach Köln zum Präsidium gebracht werden.

Am und im Auto deutete auf den ersten Blick nichts auf ein Verbrechen hin. Es war aber auch nicht auszuschließen. Niemand konnte konkret sagen, ob das Fahrzeug dort einfach nur täglich geparkt wurde, weil jemand ausgedehnt mit seinem Hund spazieren ging, oder ob es irgendwann abgestellt und seitdem nicht mehr bewegt worden war. Die einen behaupteten dies, die anderen das Gegenteil. Wie so oft bei Aussagen von Zeugen. Dabei fiel der Mini schon deshalb auf, weil er ganz in weiß lackiert war, ziemlich breite Reifen und pinkfarbene Alufelgen hatte. Es handelte sich um eine auffällige Sonderanfertigung und die Wahrscheinlichkeit, auch im Nachhinein noch Hinweise aus der Bevölkerung zu erhalten, schien ziemlich groß. Ein Blick ins Innere ließ keine Rückschlüsse auf den Verbleib des Besitzers zu.

ZEHN

Der Drang nachzusehen, raubte ihm beinahe den Verstand. Er wollte wissen, ob sie überhaupt noch da war. Aber den Weg zurück in die Wahner Heide musste er meiden. Den Wunsch danach unterdrücken. Unbedingt. Das Risiko, dort alleine durch Anwesenheit in irgendeinen Zusammenhang mit den Vorkommnissen gebracht zu werden, durfte er unter keinen Umständen eingehen. Deshalb prüfte er mehrmals am Tag das öffentliche Portal des Polizeipräsidiums Köln und checkte Nachrichten, die auf ihn und Nummer Zwei hinweisen könnten. NICHTS. Er hasste es, mit Amateuren zu tun zu haben und nicht die nötige Aufmerksamkeit zu erhalten. Wie sollte er seine Opfer demütigen, wenn niemand Notiz von ihnen nahm. Notfalls müsste er schon bald die Polizei selber verständigen, die Beamten anonym zum Fundort und ihnen sein neuestes Verbrechen vor Augen führen. Um nichts dem Zufall zu überlassen und damit die Polizei ihre Chance erhielt, die Beziehung zwischen den Fällen zu erkennen, hatte er sie ganz bewusst in der Nähe des ersten Fundortes und von den gekennzeichneten Wegen aus gut sichtbar abgelegt. Davon hatte er sich mehrfach und immer wieder überzeugt, bevor er voller Hoffnung und Vorfreude auf ihr Auffinden abgezogen war. Dass sie vermutlich immer noch unbemerkt genau dort lag, bereitete ihm zunehmend Unruhe – es nahm ihm Konzentration und Energie für Opfer Nummer Drei.

 

ELF

„Wir haben eine Meldung der Dienststelle Siegburg seit gestern im Vermisstenportal. Es gibt seit mehreren Wochen keinerlei Lebenszeichen von einer Lena Grimm. Klär‘ bitte, ob sich die Kollegen von der Spusi den Wagen schon vorgenommen haben. Falls nicht, muss das sofort veranlasst und vorgezogen werden. Die sollen alle verwertbaren Spuren sichern.“ Andreas blickte noch nicht einmal rüber, als er mir den Auftrag zurief, sondern tauchte sofort wieder ab in die Tiefen der virtuellen Informationswelt der Polizei. „Falls solche überhaupt noch vorhanden sind“, nuschelte er noch hinterher und ging mit seiner Nase fast auf Tuchfühlung mit seinem Bildschirm. „Ich schick‘ Dir das Dokument. Da steht alles drin.“

Plötzlich kam Schwung in mein bis dahin noch beschauliches Polizeileben und die greifbare Realität machte mir deutlich, dass ich mich nicht in einem spannenden Krimi befand, sondern im Alltag der Kripo angekommen war. Ich wollte gerade ansetzen, um noch etwas zu fragen, als er sofort nachschob: „Keine Zeit Sara – ich muss noch mal weg.“

Er lächelte mir zu, stand auf und ließ mich mit der verschwundenen Lena Grimm alleine. Es freute mich, dass er endlich mal wieder fröhlich wirkte. Das passierte nicht oft. Der polizeiliche Flurfunk hatte mir schon vor ein paar Wochen zugetragen, dass Andreas seine Frau im letzten Jahr nach ihrer schweren Erkrankung verloren hatte, er oftmals traurig in Erinnerungen schwelgte und seitdem sein Leben in aller Stille meisterte. Es zumindest versuchte.

„Er lässt zu dem Thema niemanden an sich ran, also versuch’s erst gar nicht“, meinte Frank, nachdem ich ihn gefragt hatte, ob man Andreas in irgendeiner Form helfen könne. Bis heute war ich seinem Ratschlag gefolgt und hatte mich an das Gelöbnis des Schweigens gehalten.

„Wir sehen uns später“, rief ich Andreas noch nach und ließ mich zurück in meinen Bürostuhl sinken. Beim Sichten der Unterlagen stellte ich schnell fest, dass bis jetzt überhaupt noch nichts passiert und die Vermisste vermutlich seit nun fünf Wochen wie vom Erdboden verschluckt war. Es gab keine konkrete Spur von ihr. Nur das Auto. Im Kofferraum war ein großer, vollgepackter Trekkingrucksack mit überwiegend sommerlicher Damenkleidung gefunden worden, was eindeutig für eine beabsichtigte Reise in den Süden sprach. Die Erde hatte sie entweder vor Reiseantritt oder eben danach verschluckt. Keine Handtasche – keine Papiere.

Eine Halteranfrage brachte uns sofort Gewissheit, dass der Wagen auf Lena Grimm gemeldet und sie die rechtmäßige Besitzerin war. Eigentümerin war die BMW-Bank München, die den Kauf des Wagens finanzierte. Das war nicht weiter ungewöhnlich und nachvollziehbar, bei dem niedrigen Zinssatz.

Selbst nachdem ihr Wagen gefunden und hierher gebracht worden war, verstrichen sage und schreibe fünf weitere Tage. Mehr oder weniger tatenlos.

Ich rief bei Tomas Weber von der Spurensicherung an, um ab jetzt die nötige Geschwindigkeit zumindest in die internen Abläufe zu bringen und keinen weiteren Zeitverlust zu verursachen. Das war das Mindeste, was ich in der Sache und für die verschwundene Frau tun konnte.

Tomas und seine Freundin hatte ich Weiberfastnacht auf der legendären Karnevalsparty in der Polizeikantine kennengelernt und das Fest erst morgens mit den beiden um 05.30 Uhr verlassen. Da ich durch meine Probezeit noch keinen Urlaub für den Tag nach Weiberfastnacht bekommen hatte, war ich von dort aus direkt zum Dienst gegangen. Die beiden anderen waren mit einer größeren Gruppe unserer engsten Kollegen weitergezogen und wurden erst an Aschermittwoch wieder gesehen. Tomas immer noch als Banane verkleidet, bevor er seine Dienstkleidung überzog, die gelbliche Hautfarbe und eine Migräne aber für den Rest des Tages behielt.

„Hi Tomas, hier ist Sara. Habt ihr den weißen Mini aus der Wahner Heide schon in der Halle?“

„Nein, der steht noch mit vier anderen Fahrzeugen auf dem Hänger.“

Der Transporter befand sich auf einem Parkplatz direkt neben dem Polizeipräsidium und wurde von einer eigens dafür beauftragten Security-Firma Tag und Nacht beaufsichtigt. Dort wurden auch verwahrloste oder abgeschleppte Autos hingebracht und warteten bestenfalls auf ihre Abholung und im schlimmsten Fall auf ihre Verschrottung.

„Warum fragst Du?“

Ich informierte ihn über den Anruf des Fitness-Studios auf der Wache in Siegburg und ließ durchblicken, dass wir wichtige Zeit verloren hatten.

„Okay, weil Du es bist. Ich ziehe den Mini vor und wenn Spuren zu finden sind, hast Du spätestens übermorgen meinen Bericht.“ Klang vielversprechend.

Damit das Dokument keine Umwege nehmen musste, sicherte ich zu, es persönlich bei ihm abzuholen.

Nach dem Gespräch erstellte ich einen Bericht und fasste für die am Nachmittag anberaumte Besprechung im Präsidium die Fakten in aller Kürze zusammen. Im Ergebnis war auch hier festzustellen, dass wirklich sehr viel und für die Ermittlungen äußerst wichtige Zeit verstrichen war, und wir vor allem dadurch aktuell mehr oder weniger null verwertbare Informationen zur Verfügung hatten.

Hinweise ergaben sich aus diversen Benachrichtigungen der Deutschen Post über vergebliche Zustellungsversuche, die der Hausmeister aus einem inzwischen überfüllten Briefkasten gefischt hatte. Die dazugehörenden Schreiben und Pakete lagen in der Postfiliale in Lohmar. Darunter war auch ein Einschreiben der Uni, in dem der Eingang ihrer Studie offiziell vom Leiter des Lehrstuhls bescheinigt wurde. Doch der Briefträger hatte, nach dem Scheitern der persönlichen Übergabe, das Dokument inzwischen als nicht zustellbar an den Absender zurückgeschickt. Das zuständige Sekretariat der Uni meldete sich kurz danach auf einer der Polizeidienststellen und machte im Zusammenhang mit der öffentlichen Suche nach Lena Grimm Meldung über die erfolglose Aushändigung und die nicht Wiederaufnahme ihrer Arbeit auf dem Campus – was nun tatsächlich auf ein unfreiwilliges Verschwinden der Vermissten hindeutete.

Um zu klären, von wo aus das Dokument der Uni zugegangen war, rief ich dort an und ließ mich mit Frau Huber, den Namen konnte ich unserer elektronischen Akte entnehmen, verbinden. Nach dem Austausch der üblichen Vorstellungshöflichkeiten fragte ich: „Wie hat Ihnen Frau Grimm ihre Ausarbeitung zukommen lassen?“

„Sie hat sie persönlich hier abgegeben – auch, um sich von uns zu verabschieden. Sie wollte ja länger verreisen.“

„Wann war das?“

„Da muss ich kurz nachsehen. Möchten Sie dranbleiben?“

„Ja, gerne.“ Ich nutzte die Warteschleifenmusik für ein kleines Sitztänzchen und erschrak, als Frau Huber sich wieder meldete.

„Frau Lange?“

„Ja, ich bin noch da.“

„Frau Grimm war am 1. März bei uns und hat den Umschlag abgegeben. Auf die schriftliche Eingangsbestätigung wollte sie nicht warten. Die haben wir dann versucht, ihr postalisch zuzustellen. Aber das wissen Sie ja bereits.“

„Könnten Sie uns eventuell ein aktuelles Foto von Frau Grimm zusenden?“, fragte ich vorsorglich. Man wusste ja nie, wofür es gut sein konnte.

„Klar, wir haben Jahrgangsbücher. Die Bilder sind meistens sehr aktuell. Ich maile Ihnen den Auszug zu.“

„Ok, haben Sie vielen Dank.“

„Keine Ursache.“

Ich trug die spärlichen Ergebnisse meiner Recherchen in unserem Meeting vor und wies meine Kollegen darauf hin, dass die Spurensicherung ihren Bericht spätestens übermorgen vorlegen und ich im Anschluss meine Zusammenfassung per Mail an alle Anwesenden versenden würde. Noch während ich sprach, nahm ich mir vor, auf meinem Heimweg heute Abend am Fundort des Wagens einen Stopp einzulegen, um mir die relevante Region aus der Nähe anzusehen. Andreas hatte mir einmal erklärt, dass unter Umständen der Spirit eines Ortes bei der Wahrnehmung von Eindrücken helfen konnte. Ihm hätte sich so schon manches Mal eine virtuelle Leinwand geöffnet, die einen freieren Blick auf mutmaßliche Ereignisse ermöglichte.

ZWÖLF

Ich hielt auf dem Parkplatz und versuchte möglichst unauffällig meinen Mini genauso abzustellen, wie der von Lena Grimm bei seinem Auffinden gestanden hatte, um eine Art Duplizität der Ereignisse herbeizuführen. Allerdings wirbelte ich schon bei meiner Ankunft viel Staub auf, als ich im ersten Gang über den nicht vorhandenen Belag holperte und die gewünschte Parkposition einnahm. Das Gelände war nicht geteert und hier und dort waren entstandene Schlaglöcher mit Schotter oder Sand gefüllt, dessen Gemisch nun wüstenähnlich durch die sonnige und trockene Luft flimmerte. Dadurch erweckte meine Anwesenheit sofort das Interesse von mehreren Mitarbeitern des Deutschen Roten Kreuzes, die hier regelmäßig die Hobby-Rennradler versorgten und ihnen bei Unwohlsein oder anderen Wehwehchen zur Verfügung standen. Sie warteten auf jeden einzelnen Radfahrer – auch auf diejenigen, die erst nach Stunden eintrudelten. Das war ein festes Abkommen mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club und Teil einer sportlichen Absprache mit den Anrainerorten der Wahner Heide, die die Vitalität ihrer Bewohner im Zusammenwirken mit den Krankenkassen förderten.

„Hallo“, grüßte einer von ihnen zu mir herüber.

„Auch hallo.“ Ich ging auf den Bus zu und stellte mich seinen Insassen vor.

Wie sich herausstellte, waren sie über den Knochenfund „Heidi“ informiert und rein vorsorglich zur Aufmerksamkeit veranlasst worden. Vom Vermisstenfall Lena Grimm erfuhren sie jetzt von mir.

„Könnt ihr mich bitte anrufen, wenn ihr euch an irgendetwas erinnert, was in der letzten Zeit auffällig war? Natürlich auch, wenn heute noch etwas passiert oder anders ist, als sonst.“

„Was meinst Du mit ‚wenn heute noch etwas passiert‘?“, fragte der junge Mann auf dem Beifahrersitz und blickte provozierend zu seinem Kumpel auf dem Fahrersitz. „Es wird ja wohl niemand hier aufkreuzen und sich über das nächste Opfer hermachen, während wir hier sind.“

Er hatte zwar nicht ganz Unrecht, aber seine Zurechtweisung ging mir eindeutig zu weit und so zu tun, als hätte ich die blödeste Frage des Tages gestellt, ziemte sich nicht. Ganz und gar nicht.

„Das meinte ich nicht“, rechtfertigte ich mich trotzdem. „Aber vielleicht fährt hier z.B. jemand mehrfach mit dem Auto vorbei und verhält sich dabei irgendwie auffällig. Oder ihr findet Gegenstände. Egal was, es kann wichtig für unsere Ermittlungen sein. Immerhin wird ein Mensch vermisst. Eine Frau, die in großer Gefahr sein könnte!“ Blöder Schnösel. „Falls vorhanden, lass einfach mal Deiner Phantasie freien Lauf und so lange Du nichts beitragen kannst – halt einfach die Klappe.“ Leider konnte ich mich nicht zurückhalten. Aber es hatte wohl gewirkt.

Er nickte betreten und hatte offenbar mit meiner verschärften Ansage nicht gerechnet und sich zudem eine weitere von seinem Vorgesetzten eingefangen. „War ’ne blöde Frage“, nuschelte er so etwas wie eine Entschuldigung.

Ich zog eine Visitenkarte aus meiner Jackentasche. Zum ersten Mal in meinem gesamten Berufsleben besaß ich eigene und war stolz wie Bolle, endlich eine herauszugeben. Mit der entsprechenden Würde strich ich sie glatt, fühlte sanft über das gestanzte Logo des Polizeipräsidiums und zeigte sie dem Empfänger, als handele es sich mindestens um einen Dienstausweis. Ungewollt zelebrierte ich die geplante Übergabe eine Spur zu feierlich und bemerkte gar nicht, dass sich die Sanitäter nach meiner Zurechtweisung längst abgewendet und wieder anderen Dingen gewidmet hatten. Ich klemmte die Karte hinter den Scheibenwischer des Rettungswagens und tauchte ein in die vollkommen unbeteiligt wirkende Natur.

 

Nachdem ich ein paar Meter gegangen war und mit jedem Schritt Abstand zu den äußeren Einflüssen gewann, verlor sich das gegenseitige Interesse aller Anwesenden und ich konnte ungestört die milde Frühlingsluft aufsaugen. Und nachdenken. Aus allen Richtungen war munteres Gezwitscher der heimischen Vögel zu hören und der Boden roch wunderbar muffig nach tonhaltigem, altem Erdreich. Mahnende Schilder forderten die Besucher immer wieder auf, das Wegegebot zwingend einzuhalten, um damit das Naturschutzgebiet vor Eindringlingen und sich selbst vor den Kampfmittelresten zu schützen. Sperrgebiet halt. Während ich bei meinem Spaziergang versuchte, die beruflichen Eindrücke der letzten Tage zu sortieren und sie auf den aktuellen Fall zu übertragen, kam mir auf dem engen Trampelpfad eine Gruppe Jogger entgegen und trotz der großen Weite der Region kam man sich hautnah und musste sich zumindest an dieser Stelle ausweichen. Einer der jüngeren Läufer schenkte mir ein strahlendweißes Lächeln und wirkte mit seiner engen Laufhose und einem Achselshirt, das jeden seiner definierten Muskeln zeigte, sehr fit. Wirklich sehr fit. Der Schweißgeruch, der unsichtbar über jedem einzelnen von ihnen hing und durch die unvermeidbare Nähe sofort in mein Nasenzentrum drang, zerschlug den Hauch der Erotik. Er zog noch eine Weile nach und störte meine Wahrnehmung derart, dass ich die Mission für gescheitert erklärte, sie abbrach und nach Hause fuhr.

Ich checkte noch im Auto an jeder roten Ampel meine E-Mails. Alleine 39 Eingänge heute – davon 31 Werbung. Schuhe, Wäsche, Bücher, Elektrogeräte und treusorgende, gutbestückte Lebenspartner wurden mir angepriesen. Es war schon mehr als erstaunlich, dass das Internet immer genau wusste, wonach ich mich gerade sehnte. Als ich dann später auf meinem XXL-Sofa saß, löschte ich beinahe alle Nachrichten und beschränkte mich auf die vermeintlich wichtigen Mails. Eine war von meinem damaligen Abteilungsleiter. Unwichtig. Der hatte immer noch nicht überwunden, dass ich ihm nicht nur unser Arbeitsverhältnis gekündigt hatte. Auch diese landete sofort im virtuellen Papierkorb. Kurz überlegte ich sogar, ob ich ihm den Eingang in meine elektronische Welt durch das Blockieren seines Namens generell verwehren sollte. Denn schließlich war er einer der Hauptgründe für meine Kündigung gewesen. Während unserer Zusammenarbeit bewegte er sich ständig am Rande der Übergriffigkeit – physisch und psychisch. Aber das war Vergangenheit und ich nahm mir vor, seine Nachrichten einfach zu ignorieren und fing heute – fast erleichtert über diese Entscheidung – damit an.

Eine weitere Mail kam von meiner Mutter, die sich am Wochenende mit mir zu einem ausgedehnten Frühstück verabreden wollte. Ich streifte meine dunkelblauen Sneakers ungeöffnet ab, legte meine Füße auf den Tisch bis sich Gemütlichkeit einstellte und rief sie an.

„Meine liebe Sara, schön Dich zu hören. Geht’s Dir gut?“

„Ehrlich gesagt, weiß ich das selbst nicht so genau. Die Tätigkeit bei der Polizei ist schon sehr speziell und mir gelingt es nicht immer, das Erlebte abends einfach abzustreifen.“

Ich erzählte ihr nur so viel, wie ich vertreten konnte und sparte die Einzelheiten aus.

„Die Art der Arbeit ist echt eine Riesenumstellung für mich. Ich weiß gar nicht, ob ich das alles schaffe“, seufzte ich.

„Und ob Du das schaffst, mein Mädchen. Komm doch am Wochenende vorbei und erzähl mir alles in Ruhe.“

„Das darf ich ja noch nicht mal. Ist leider alles Dienstgeheimnis. Aber vorbeikommen würde ich trotzdem gerne. Lass uns irgendwo lecker Frühstücken gehen und einen gemütlichen Sonntag machen. Ein ausgedehnter Spaziergang wäre auch toll. Ich habe die paar Minuten gerade in der Wahner Heide schon sehr genossen und gemerkt, dass ich das viel zu selten gemacht habe, in den letzten Wochen.“

„Wir können ja wie früher nach Altenberg in den Märchenwald fahren“, lachte meine Mutter und ich fühlte mich sehr behütet und wie aus dem Nichts in meine Kindheit versetzt. „Spaß beiseite. Wir finden bestimmt etwas zwischen meiner Naivität und deinem beruflichen Irrsinn.“

So telefonierten wir noch eine ganze Weile über dies und das, bis ich um ca. 22.30 Uhr, nach einem langen Tag, vor dem Fernseher und der Grimm-Akte saß.

Ein kurzes akustisches Signal riss mich aus meinen Überlegungen und kündigte die nächste Mail an. Absender war der Flughafen, der mich nun offiziell informierte, dass die gesuchte Person nicht abgeflogen und demnach nicht in Spanien eingereist war. Nicht am Tag des gebuchten Fluges und auch nicht an einem anderen. Lena Grimm galt somit offiziell als verschwunden. Ich musste Andreas und Frank umgehend benachrichtigen und leitete die Mail kommentarlos an die beiden weiter. Jetzt würde die Arbeit eine ganze andere Dynamik bekommen und wir konnten morgen mit der Befragung ihres Umfeldes beginnen. In der Akte war zu lesen, dass im Wageninneren eine Tankquittung gefunden worden war, die besagte, dass Sara Lange am Abreisetag um 17.20 Uhr, also gut zwei Stunden vor dem geplanten Flug, für zehn Euro in der Nähe des Flughafens getankt hatte. Es war demnach höchstwahrscheinlich, dass sie danach auf dem Weg zum Flughafen verschwunden ist.

Ich versetzte meine Phantasie in den besagten Nachmittag, begab mich auf die gemeinsame Reise und fuhr die Strecke hinter meiner Stirn ab. Vielleicht hatte sie den Parkplatz dort als preiswerte Möglichkeit genutzt, ihren Wagen für die Zeit ihrer Abwesenheit abzustellen. Von dort aus konnte man sogar zu Fuß zum Flughafen gehen – auch mit Gepäck. Nutzte man hingegen eines der Parkhäuser am Flughafen, war man für die vorgesehenen vier Wochen schnell einen mittleren dreistelligen Betrag los, den man gut und gerne auch in Spanien lassen und als Reisegeld nutzen konnte. Solche Überlegungen traute ich Frau Grimm auf jeden Fall zu, denn ihr Lebenswandel wirkte auf den ersten Blick bescheiden und sah man von dem Mini ab, eher bodenständig. Die Kollegen, die ihre Wohnung aufgesucht hatten, sprachen von einer einfachen Einrichtung und einer gewissen Unordnung dort. Es habe aber nichts auf ein gewaltsames Eindringen anderer hingedeutet – also auch nicht auf eine Entführung aus ihren eigenen vier Wänden. Ich stocherte mit meinen Gedanken im Ungewissen und mit einer Gabel in einem Glas Oliven herum und, um meiner Nacht ein wenig Ruhe zu geben, trank ich den ziemlich großen Rest aus der ohnehin offenen Flasche Rotwein. So konnte ich die Akte für diesen Abend loslassen und hing im Bett noch ein wenig meinem und dem Leben von Lena Grimm nach. Mit dem Wissen, dass morgen eine Menge Arbeit auf mich zukommen würde, schlief ich endlich ein und wälzte mich auf 1,60 x 2,00 m Federkern durch eine unruhige Nacht. Die abendlichen WhatsApp-Nachrichten meiner Kollegen erreichten mich nicht mehr.