Von diesem Sommer bis zum nächsten

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ihre Meinung war ihm nicht nur wichtig, mehr noch: es war der Austausch, den er nach Jahren des alleine Wirtschaftens auf seinem Hof gebraucht hatte.

Paul war fast fünfzig Jahre alt. Sein Leben lang war er Bauer gewesen. Als Ältester der fünf Geschwister hatte er den elterlichen Hof und mit ihm auch die Lebensaufgabe, die damit verbunden war, übernommen.

Paul hatte zusammen mit seiner früheren Frau, den drei Söhnen und der inzwischen verstorbenen Mutter auf dem Hof gelebt. Die Söhne waren längst erwachsen. Einer nach dem anderen hatte der Landwirtschaft den Rücken gekehrt. Pauls Ehe war nach endlosen Streitereien endgültig gescheitert und geschieden worden. Seine Frau war weggezogen. Sie hatte nach der Scheidung den Hof ihrer eigenen Eltern übernommen und Paul blieb zurück, allein.

Weilersried war ein Erbhof und gehörte seit vielen Generationen Pauls Familie.

Er lag auf altem fruchtbarem Bauernland und war zu einer Seite umsäumt von bewaldeten, sanft abfallenden Hügelketten. Zur anderen Seite hin öffnete sich das Land in die weite Niederung einer Flusslandschaft. Und über all dem spannte sich ein großartiger Himmel, der mit seinem Licht die Farben der Landschaft ungewöhnlich leuchtend hervorhob und sie an dunstigen Tagen mit einem zarten Schleier überzog und verzauberte.

Für Gerdi war es ein wunderschöner Fleck Erde, in den sie sich vom ersten Blick an verliebt hatte.

Kleine alte Bauernhäuser, einfach und niedrig gebaut, mit angrenzenden Scheunen, Ställen und Gärten säumten die gewundenen weiten Dorfstraßen. Die mit Liebe angelegten bunten Gärten, gepflasterte Innenhöfe, kunstvolle alte Taubenschläge und gepflegte Kirchplätze entwarfen ein fast malerisches Bild.

In Gerdi weckte diese Gegend ein heimeliges Gefühl und zugleich ihren alten Traum von einem Platz, an dem sie geschützt und zuhause sein konnte. Es war ihre insgeheime Sehnsucht nach einem Ort, an dem die Welt noch in Ordnung war.

Paul hatte schon immer auf Weilersried gelebt und gearbeitet. Als Bauer war er tief verwurzelt mit Landschaft und Menschen. Dieses Leben hatte ihn geprägt wie kein anderes. Von Paul ging eine bodenständige Sicherheit und Gelassenheit aus, die Gerdi in einen fast magischen Bann zog. In Paul fand sie, was ihr in ihrem Leben schmerzlich gefehlt hatte.

Sie war wie ein Blatt im Wind und er der Boden, auf den sie fiel.

Mit ihrem unruhigen, bewegten Leben schien Gerdi das schiere Gegenstück von Paul zu sein. Und wäre nicht schon lange das tiefe Bedürfnis nach Beständigkeit, nach Ursprünglichkeit, dem engen Verbundensein mit der Natur und deren Gesetzmäßigkeiten in ihr gereift und hätte sie nicht vor vielen Jahren diesen Weg eingeschlagen und verfolgt, sie wäre nie in die Landwirtschaft gegangen.

Paul und sie wären einander niemals in solch tiefem Einvernehmen begegnet, wie vor fast einem Jahr.

Sie, Gerdi, das Großstadtkind und Paul, der Bauernsohn – zwei Leben, wie sie unterschiedlicher kaum hätten sein können.

Drittes Kapitel

Obwohl es jetzt schon lange zurück lag, erinnerte Gerdi sich sehr gut an den Tag, als sie das erste Mal einen Fuß auf diesen Weg gesetzt hatte. Seitdem zog er sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Die Umstände dieses Tages blieben ihr deutlich in Erinnerung, weil ihr Leben seit dieser Zeit eine Wende genommen hatte.

Mit Leon und Luisa, ihren beiden Kindern, hatte sie damals in der Stadt gelebt.

Ein Hinterhaus, kleine Wohnung unterm Dach, Toilette auf dem Treppenabsatz und Blick auf den zweiten Hinterhof. Es war ein einfaches Zuhause, dafür aber bezahlbar. Für die Kinder und sie hatte es gereicht. Und eigentlich lebten sie gerne dort.

Der kleine bepflanzte Hof mit dem blühenden Pflaumenbaum, der sich mit seinen ausladenden Ästen direkt vor ihrem Fenster ausbreitete, war für alle Hausbewohner eine idyllische Oase inmitten der Großstadt.

Im späten Frühjahr jagten die ersten Horden von Mauerseglern einander um die Häuserblöcke. Das schrille Geschrei der pfeilschnellen Vögel, die an den geöffneten Fenstern vorbeischossen, erschien Gerdi stets wie eine Verheißung auf Sommer und Sonne.

Bald schon sickerte die Hitze allmählich wie dicker Sirup aus dem himmelblauen Ausschnitt zwischen den Häuserwänden und füllte auch ihren Hinterhof. Die hohen Mauern der Vorderhäuser standen wie ein Bollwerk gegen den Lärm und Gestank der großen Straßen, die ihren Wohnblock umgaben, und den Kindern war der Hof ein geschützter Ort zum Spielen. Für Gerdi war dies viel wert. Es war mehr, als sie je davor gehabt hatte.

Damals, als Luisa noch klein war, fehlte ihr eine solche Möglichkeit.

Alle Spielplätze der Umgebung hatte sie mit Luisa längst ausfindig gemacht gehabt, immer auf der Suche nach einem, der ihr erträglich schien. Gerdi mochte keine Spielplätze!

Es war ihr eine erdrückende Vorstellung, sich auf diesen viereckigen Plätzen mit den vierfarbigen Spielgeräten zusammen mit all den anderen Müttern und Kindern festgenagelt zu fühlen.

Über den sich anbahnenden Windel-Kinderarzt-und-Trotzphasen-Gesprächen schien stets eine allgemeine träge Unlust zu schweben. Da half auch Luisas Lachen und Spaß an der Sandkastenwelt nicht ganz darüber hinweg.

Jetzt ging Luisa bereits in die zweite Klasse und Leon fing gerade an zu laufen.

Und noch immer wohnten sie in der kleinen Wohnung unterm Dach. Noch immer war es der gleiche Hof, der gleiche Baum, derselbe Blick auf das viereckige Stück Himmel.

Nur etwas war anders – Gerdi war es längst zu eng geworden.

Sie sehnte sich nach Luft und Weite, nach Bäumen, Erde und nach echtem Wasser. Sie wollte den Lauf der Sonne nicht mehr an den länger werdenden Mauerschatten ablesen. Sie wollte hinaus – raus aus der Stadt. So oft es ihr möglich war, ging sie mit den Kindern in den stadtnahen Wald.

Die Sehnsucht nach Weite und ihr Drang, der Enge der Großstadt zu entkommen, zog sie immer öfter nach draußen, hinauf auf die Bergrücken des Taunuswaldes. Und zuhause, im Hinterhof, rückten die Häuserwände ganz allmählich enger zusammen.

Und irgendwann dann kam dieser eine Tag.

Es war später Nachmittag, als Gerdi mit den Kindern von einem ihrer Ausflüge zurückkam. Sie bereitete gerade das Abendessen zu. Alles war wie immer – bis sie an das Küchenfenster ging, um es zu öffnen. Für den Bruchteil einer Sekunde wehrte sich Gerdis Bewusstsein noch anzunehmen, was sie sah. Dann schrie sie auf. Ihr Blick fiel ungehindert auf die nackte graue Hauswand gegenüber!

„Der Baum! Verdammt, wie kann das sein? Der Baum ist weg!

Was haben sie mit dem Baum gemacht? Wer war das? Warum? Wer macht so etwas!?“

Gerdi rannte die Treppe hinunter und suchte Karen, ihre Nachbarin.

„Was ist mit dem Baum passiert? Wer hat den Baum gefällt?“

„Heute Mittag waren zwei Arbeiter da. Wir konnten nichts dagegen machen!

Der Baum wuchs zwar unserer Hofseite zu, aber er wurzelte tatsächlich auf der anderen Seite des Maschenzaunes und gehörte zum anderen Grundstück. Wir haben das nur nie beachtet.“

„Aber warum? Wen hat denn dieser Baum gestört?“

„Die Bewohner im Nachbarhaus – er hat ihnen angeblich zu viel Licht genommen …“

Mein Baum, dich gibt es nun nicht mehr!

Hast dich einfach über Menschenbedürfnisse hinweggesetzt!

Du wusstest nicht, mein Lieber, so etwas wird hart geahndet. Hältst die Spielregeln nicht ein! Hast den Kopf nicht eingezogen, dich zu sehr nach dem Licht gestreckt …

Was glaubtest du eigentlich, wo wir hier leben?

Über andere hinauswachsen – das hat schon so manchem den Kopf gekostet – oder auch den Stamm, je nachdem.

Jetzt bist du tot!

Hast alles Grün und Duft und Leben mit in deinen Baumhimmel genommen.

Du fehlst!

Gerdis wütendes Gezeter half nichts.

Und es half nichts, die Nachbarn des Nebengebäudes in den zwanzigsten Stock einer Hochhaussiedlung zu wünschen, wo ihnen ganz bestimmt kein Baum mehr das Licht nehmen würde.

Auch eine Beschwerde beim Amt für Grünflächen nützte nichts. Dort wurde sie umgehend sehr amtlich und sehr ernsthaft über Paragraphen belehrt, die zwar Laubbäume im Stadtgebiet schützten, nicht aber Obstbäume. Egal, wie groß und schön der Baum war, wie viele Vögel darin nisteten – es wurde ihm zum Verhängnis, im Frühling in weißer Blütenpracht zu stehen und im Sommer Pflaumen zu tragen.

Gerdi verstand die Welt nicht mehr. Nur Eines wusste sie ganz klar – so ging es nicht mehr! Nicht für sie.

Gedankenverloren schlürfte Gerdi an einer heißen Tasse Tee, bevor sie das Gespräch mit ihrer Nachbarin wieder aufnahm:

„Karen, ich möchte nicht mehr hier leben, verstehst du? So gern ich auch mit euch in unserer Hausgemeinschaft wohne, ich kann es nicht mehr ertragen! Ich ersticke in der Enge! Es macht mich krank!

Wenn ich wenigstens irgendwo einen Garten hätte, so wie du! Ein Stück Erde, auf dem ich sein kann.“

Gerdi saß mit Karen am Tisch. Sie war noch immer aufgebracht und sah hinunter in den Hof.

Die beiden Frauen hatten schon seit geraumer Zeit miteinander gesprochen und vor ihnen stand bereits eine zweite Kanne Tee.

Seit sieben Jahren wohnten sie schon im selben Haus. Sie hatten sich angefreundet, gegenseitig ihre Kinder betreut und sich viel aus ihrem Leben erzählt. Die Kinder hatten sich mittlerweile, gelangweilt von den Gesprächen der beiden Frauen, ins Kinderzimmer verzogen und spielten dort miteinander.

„Ich versteh dich ja“, antwortete Karen, „ganz gut sogar. Aber – vielleicht kann ich dir helfen.

 

Ich habe neulich beim Spazierengehen einen leer stehenden Garten gesehen mit einer kleinen Hütte. Und ich weiß auch, wem er gehört, weil ich mich erkundigt habe.“

„Bitte? Was sagst du da?“

„Ich such dir mal die Nummer von den Besitzern raus. Vielleicht hast du ja Glück.“

Und Gerdi hatte Glück! Großes Glück!

Der alte Garten mit der kleinen Hütte, oberhalb eines dörflichen Vorortes gelegen und umgeben von Feldern, war ein unglaubliches Geschenk. Und er war weit mehr noch – er war die Wende im Leben von Gerdi, dem Großstadtkind.

In diesem Garten hielt Gerdi das erste Mal die Nase in den frischen Wind. Wie eine junge Wölfin witterte sie die Fährte, die hier ihren Lauf nahm.

Noch war der Garten fremd für sie.

Eine fühlbare Spannung und Unruhe überkam sie jedes Mal, wenn sie das Tor aufschloss und eintrat in eine Welt, die sie nicht kannte. Sie spürte es mit jeder Faser, sie war nicht einfach aufgenommen in dieser Welt. Es lag einzig an ihr, sich Einlass zu verschaffen.

So Vieles gab es hier für sie zu entdecken!

Überall waren heimliche verwilderte Ecken, die sie lockten – Kräuter, Pflanzen und alte, von Unkraut überwucherte Stauden, deren Namen ihr unbekannt waren. Der Garten nahm sie einfach mit auf eine Reise in seine grüne Unterwelt.

Und dieser Garten sollte ihr Lehrmeister werden.

Auf wundersame Weise, geschickt und beharrlich hielt er Gerdi kleine Spiegel vor Augen.

Wenn sie sich erschöpft und mit schmerzendem Rücken über einem Gemüsebeet abrackerte, so zog er amüsiert das Spiegelchen der Ungeduld hervor und ließ Gerdi einen Blick hineinwerfen.

Ein anderes hielt er ihr für verbissenen Ehrgeiz entgegen.

Auge in Auge und etwas peinlich berührt stand sie unverhofft ihrer Erfolgssucht gegenüber. Und wenn Gerdi es schaffte, allzu stur an einem der Spiegelchen vorbeizuschielen, scheute er sich keineswegs, auch härtere Maßnahmen zu ergreifen.

Dann beschwor er eine wuchernde grüne Hölle herauf, trommelte die gefräßigsten aller Schnecken herbei und pfiff zum Angriff auf die Salatköpfe und Zucchinipflanzen, um in einer einzigen Nacht all ihre Arbeit zunichte zu machen.

Okay – okay, okay, ich hab’s verstanden! Jetzt hör mir mal zu!

Ich bin das nicht gewohnt. Bisher war alles anders!

Wenn ich etwas wollte, dann hab ich’s angepackt und gemacht, koste es, was es wolle. So hat es bisher immer funktioniert. Kannst du mir vielleicht verraten, warum das jetzt nicht geht? Ach so, du meinst also, ich bin blind.

Ach – und taub noch obendrein? Und mein Verstand wäre nicht halb so groß wie ein Spatzenhirn?

Na gut, ich werd mal drüber nachdenken.

Gerdi warf sich ausgestreckt ins Gras und schaute in den Himmel. Lange.

Der Wind zog sanft über sie hinweg, rupfte mal hier, mal da ein Stückchen Ehrgeiz ab und übergab es den Wolken, die einfach weiter zogen. Die Fliege auf der Nase kitzelte ihr ein Lächeln ins Gesicht und die Sonne schmolz ihr arbeitsames Streben in eine wohlige Trägheit um.

Sie ließ sich morgens von den Amseln wecken, begrüßte am Mittag das Bussardpärchen, das seine stillen Kreise zog und sorgte sich um den Verbleib des Eichhörnchens, wenn seine gewohnten fünf Sprünge über das Dach der Gartenlaube und hinüber in den Reineclaudenbaum am Morgen ausblieben.

Hier draußen im Garten lernte sie die erschreckende Dunkelheit und die Kühle der Nacht kennen, und sie ließ sich vom Vollmond bezaubern, der ein milchiges Silber über den Garten vergoss. Sein helles Licht hob jede Pflanze, jeden Grashalm, jeden Busch magisch hervor und zeichnete schwarze Silhouetten in den sternenklaren Nachthimmel.

Ganz allmählich fand Gerdi den Weg in eine Welt, die ihr bislang verschlossen gewesen war. Von außen betrachtet, hatte sich nichts merklich verändert, nur dort, wo ihr Bauchbarometer saß, war ein ihr unbekannter weiter Raum entstanden, der gefüllt sein wollte mit neuem Leben.

Für Leon, Luisa und Gerdi wurde der Garten ein zweites Zuhause.

Viertes Kapitel

Gerdi stand auf Weilersried im Hausflur und telefonierte.

Den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt versuchte sie, ihre Schuhe anzuziehen, während sie mit Leon sprach.

Sie hatte es eilig. Es war fast vier Uhr und wieder hatte sie es nicht geschafft, früher mit der Arbeit fertig zu werden. Jetzt lag die ganze lange Fahrt noch vor ihr und Gerdi mochte es nicht, im Dunkeln zu fahren.

„Ja, ja – natürlich bringe ich Kartoffeln und Gemüse mit“, antwortete sie etwas gestresst in den Hörer, „hab schon alles ins Auto gepackt. Ja, auch die Kette, die du das letzte Mal hier hast liegen lassen. Wenn nichts dazwischen kommt, bin ich gegen Abend bei euch. Also, mein Schatz, ich fahr jetzt – bis dann!“

Sie schickte noch einen flüchtigen Kuss durchs Telefon und legte auf.

Gerdi hob ihren roten Rucksack auf, nahm die Handtasche und den dicken Pullover und machte noch einen Abstecher ins Badezimmer.

Zahnbürste, Duschgel, Haarbürste, Deoroller … ach ja, den Kajalstift und Haarfön darf ich nicht vergessen, so was haben die beiden Männer zuhause natürlich nicht.

Okay, ich glaub, das war’s!

Sie stopfte alles in den Kulturbeutel und versuchte mit Nachdruck, diesen auch noch im Rucksack unterzubringen. Wohl bereits zum hundertsten Mal machte sie dabei die Erfahrung, dass es scheinbar keine Tasche gab, die wirklich zur Menge des Gepäcks passte. Egal, wie groß sie war, sie war auf jeden Fall zu klein.

So war es natürlich auch dieses Mal. Ihr Gepäck ließ zwei Wochen Urlaub vermuten, dabei würde sie in genau achtundvierzig Stunden wieder hier sein.

Na ja, es ist noch früh im Jahr. Der Winter hat sich noch nicht endgültig verzogen, da brauche ich eben warme Kleidung, dicke Socken, ein zweites Paar Schuhe … im Sommer wäre es sicher anders.

Im Sommer!

Falls ich im Sommer noch hier bin.

Wo ist Paul überhaupt? Ich will mich von ihm verabschieden. Wenigstens einmal drücken, Kuss und Nase aneinander reiben, noch was Nettes sagen.

Sie ging hinaus und sah Paul in der Halle, in der er Getreide reinigte und schaute ihm einen Moment lang zu. Verwegen hatte sich der feine Staub vorgenommen, jedes nur erreichbare Haar auf Pauls Gesicht zu besetzen und zeichnete eindrucksvolle Strukturen auf Wimpern und Augenbrauen. Ein wenig wild sah er aus, der Bauer, mit seiner gepuderten Auflage.

Gerdi mochte sein Gesicht, wie eigentlich alles an diesem Mann, und am allermeisten gefielen ihr seine Augen und sein spitzbübisches Lachen, wenn es ihm gut ging.

Sie lief zum Auto, verstaute ihr Gepäck und schlug die Tür vom Kofferraum zu.

Paul sah Gerdi entgegen, als sie über den Hof auf ihn zuging.

„Fahrsch’d jetzt?“, fragte er sie.

„Ja, ich will nicht allzu spät bei Leon auftauchen. Er weiß, dass ich eigentlich schon unterwegs bin.“

„Also dann, pfia’di!“

Kleines, verlorenes Küsschen von ihm – Vorhang – und ab.

Ihr Bauchbarometer machte sich bemerkbar. Es rumorte und tendierte gegen rot. In Gerdis Kopf blieben Enttäuschung und Rebellion über Pauls lieblose Art hängen. Sie schluckte die Worte hinunter, die sich in ihrer Kehle verhakt hatten, drehte sich um und ging.

Dann stieg sie ins Auto und fuhr, ohne anzuhalten.

Der Kilometerzähler fraß die Strecke in kleinen Happen.

Zeit und Geschwindigkeit spürte Gerdi kaum noch. Die kleinen verschlafenen Dörfer der Alb hatte sie längst hinter sich gelassen.

Entlang der Autobahn flog die Landschaft vorbei. Die Entfernung schien auf wundersame Weise zusammengeschrumpft auf einen harten, aber standhaften Kern, so oft war sie diese Strecke nun schon gefahren. Früher immer „hinunter“ und seit sie auf Pauls Hof lebte, immer „hinauf“.

Aber nicht nur die angestrebte Wunschrichtung mit den dazwischen liegenden Sehnsuchtszeiten hatte sich geändert. So Vieles war anders geworden. Anders als gewünscht und gehofft und geplant.

Gerdi erinnerte sich an ihre Fahrt „hinunter“, als sie Paul das erste Mal traf.

Sie hatten einander über eine Annonce in einem landwirtschaftlichen Blatt kennen gelernt. Paul suchte eine Partnerin. Gerdi hatte ihm geschrieben und Paul hatte geantwortet.

Ein später und recht heißer Frühlingstag war es gewesen, als sie sich das erste Mal trafen.

Gerdi lebte damals noch mit Leon zusammen in einem verschlafenen Taunusdorf. Auf dem Hof befreundeter Bauersleute betrieb Gerdi ihren eigenen Gemüseanbau und unterhielt in der nahe gelegenen Kleinstadt einen Laden.

Es war Samstagnachmittag – endlich!

Nachdem Gerdi die letzten Gemüsekisten im Kühlraum verstaut hatte, ließ sie die Rollläden herunter, knipste das Licht aus und zog die Türe ihres kleinen Ladens hinter sich zu. Der Schweiß stand ihr in glänzenden Perlen auf der Stirn. Sie hatte zügig gearbeitet. Jeder Handgriff saß, kein unnötiger Gang, die gewohnten Arbeitsschritte schachtelten sich ineinander wie ein Baukastensystem.

Gerdi mochte die fließende Dynamik ihrer Arbeit und war wie so oft gottfroh über die äußerst praktische Fähigkeit, wenn es sein musste, unglaublich schnell arbeiten zu können. Sie hatte ein riesiges Energiepotential zur Verfügung. Das war ihr Glück. Ohne dieses Potential hätte sie es nicht geschafft, das Pensum ihrer täglichen Aufgaben und Verpflichtungen zu bewältigen. Und dennoch, wieder war es spät geworden und ihre Arbeitswoche war unendlich lang gewesen. Oder vielleicht erschien es ihr auch nur so, weil sie diesen Samstagnachmittag herbei gesehnt hatte, wie schon lange nichts mehr.

Mist, eigentlich bin ich jetzt total erledigt!

Diese elende Schlepperei, bis ich endlich hier heraus komme! Es kostet mich alles!

Die Kundschaft ist längst schon zuhause und hat sich von meinem Gemüse etwas Gutes gekocht. Soll sie ja auch! Bloß, ich stehe hier immer noch, hungrig und viel zu müde zum Essen und bin ziemlich am Ende.

Na gut, Gerdi, aber komm, gleich hast du’s geschafft! Vergiss den Stress und lass einfach alles hinter dir!

Heute ist ein besonderer Tag. Dein Tag! Und die vierhundert Kilometer, die vor dir liegen, die schaffst du auch noch – irgendwie.

Glücklicherweise gab es aber noch etwas, das Gerdi mindestens so gut vermochte, wie schnell zu arbeiten. Sie konnte sich auch ziemlich schnell wieder erholen. Und das war gut so, denn sie hatte ein kleines Problem, das sich schon lange durch ihr Leben zog.

Eigentlich konnte sie sich gar nicht mehr recht erinnern, wann es anfing. Jedenfalls war es lange her. Die Zeit, die ihr zur Verfügung stand, reichte ihr nämlich nie – weder für die Dinge, die sie machen wollte, noch für die Ruhe, die sie nötig gehabt hätte.

Also kaufte sie sich an der Tankstelle ein Eis für eine Fünf-Minuten-Pause und lutschte die sahnige Kühle und Schokolade in sich hinein. Dann fuhr sie los – das erste Mal „hinunter“. Zusammen mit dem abgeleckten Eisstäbchen warf sie das Drückende ihres Alltags aus dem Fenster des alten VW-Busses, schob die Filmmusik von „Amelie“ in den CD-Spieler und fuhr Paul entgegen. Paul, den sie bisher nur von seinen Briefen, einem Foto und den Gesprächen am Telefon kannte.

Als nur noch wenige Kilometer sie vom Weilersrieder Hof trennten, fuhr sie aus einem Waldstück heraus, das zwar noch auf der Albhöhe lag, ihr aber die Sicht auf das unter ihr liegende Ried versperrte.

Sowie sie den Wald hinter sich gelassen hatte, öffnete sich im selben Moment vor ihren Augen eine ebene Flusslandschaft und breitete sich wie ein unregelmäßiges buntes Schachbrettmuster in fruchtbarer Weite vor ihr aus.

Vereinzelte schlanke Pappeln und mächtige Weiden hoben sich eindrucksvoll vor dem Hintergrund üppiger Maisfelder und Getreideäcker ab. Die schräg einfallenden Strahlen der tief im Westen stehenden Sonne überzogen das weite Land mit einem goldfarbenen Weichzeichner und hoben gleichzeitig die Konturen einzelner Baumgruppen fast surrealistisch scharf in den Vordergrund.

Gerdi sog den Blick auf die liebliche Landschaft wie einen befreienden Atemzug nach bedrängender Enge tief in sich hinein.

Es schien ihr, als müssten sich irgendwann auf diesem Teil der Erde Magritte, van Gogh und Monet wohl allesamt getroffen haben, um sich Anregungen für ihre Bilder zu holen. Nur um anschließend wieder in unterschiedliche Richtungen auseinander zu streben, der Eine den Anderen in Sichtweise, Ausdruck und Farbenspiel überbietend, um die Schönheit dieser Gegend auf ihren Leinwänden festzuhalten.

 

Fasziniert tauchte sie ein in das Bild einer toskanisch anmutenden Landschaft, die sich mit dem unwiderstehlich lockenden Charme und der runden Fülle einer italienischen Signora in ihr Herz schlich.

In der Weite der fruchtbaren Ebene fühlte sie sich mit einem Mal frei und leicht, ganz leicht, wie ein vom lauen Wind geschaukeltes Blatt und war bereit, an dem Ort zu landen, an den der Wind sie entlassen würde.

Als Gerdi schließlich auf Pauls Hof fuhr, glitt sie auf einem zarten Windhauch sanft zu Boden.

Sie stieg aus ihrem Bus und ging auf das Haus zu.

Es war ein gediegenes altes Bauernhaus, weiß gestrichen und mit vielen Fenstern, die sie durch die geöffneten grünen Läden anzublicken schienen.

Sie nahm all ihren Mut zusammen, lief zur Türe und drückte auf die Klingel.

Es öffnete ihr aber niemand.

Keiner da? Na, so was aber auch!

Schau ich mich halt mal ein wenig um. Irgendwo werde ich Paul schon finden.

Er hatte mir ja geschrieben, dass er zwar „eigentlich“ keine Zeit hat, mich aber „eigentlich“ trotzdem ganz unbedingt sehen will.

Na gut, schau’n wir mal!

Wenn der Bauer gar zu stoffelig und ungehobelt ist, fahr ich einfach wieder heim.

Wär schad drum, aber dann war es halt nur ein netter Ausflug, eine kurze Bekanntschaft, eine flüchtige Hoffnung.

Es gibt nichts, was sein muss, aber alles, was sein kann!

Sie drehte sich um und ging den Weg entlang, der vom Hof aus zu den Feldern führte, ein wenig unsicher, ob sie Paul wohl erkennen würde. Bisher kannte sie sein Aussehen nur von einem Foto, das er ihr in seinem ersten Brief geschickt hatte.

Aus einiger Entfernung kam ihr jetzt ein Traktor entgegen und Gerdi wurde peinlich bewusst, dass sie ihre Brille nicht aufgesetzt hatte. Wenn sie Paul überhaupt erkennen konnte, dann sicher auch nur, wenn er schon direkt vor ihr stand.

Sie war noch immer dabei, ihre Unsicherheit und wirren Gedanken zu sortieren, als ihr bereits zwei blaue Augen und ein breites gewinnendes Lachen entgegen strahlten.

„Griaß di, guat dass’d do bisch! Gang scho vor an Hof, i komm glei’!“

Sie drehte um.

Gerdi lief und Paul fuhr nach einem kurzen Abstecher übers Feld, ebenfalls dem Hof entgegen.

Als er dort angekommen vom Traktor stieg, groß und kräftig, kariertes Hemd, kurze Hose und noch kürzere kupferrote Haare auf dem Kopf, eine Pfeife lässig im Mundwinkel und barfuß, blickte er direkt in Gerdis lachende Augen.

Und Gerdi sah auch ohne Brille, dass dieser Mann ihr gefiel.

Paul streckte ihr zum Willkommen herzlich beide Hände entgegen und nahm sie mit sich in die Küche, um für sie beide Kaffee zu kochen.

Der erste Blick, den Gerdi in die alte Küche auf Weilersried warf, sollte sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis brennen und schlüpfte noch im Moment der ersten Begegnung mitten hinein in ihr Herz.

Die dämmrige Geborgenheit, die von den dunklen Holzwänden und alten Schränken ausging und sich mit dem gedämpften Licht vermischte, das beharrlich durch dichtes Blattwerk umgebender Bäume sickerte und verstohlen durch die Küchenfenster schlüpfte, umfing Gerdi mit einer heimeligen Behaglichkeit. Die Küche nahm sie auf und war ihr erstaunlich vertraut, so als hätte sie diesen Raum schon immer gekannt.

Die von unzähligen Schritten ausgetretenen Stellen der dunkel gestrichenen Dielen, an denen das bloße Holz zum Vorschein kam, schienen ihr alte Ahnengeschichten zuzuflüstern.

Vom Spülstein zum Herd, vom Herd zum Tisch, zur Tür und zurück zum Spülstein, zum Herd und wieder zur Tür … spannen sich die Erinnerungen.

Einen Moment lang schloss Gerdi die Augen.

Wie in einer plötzlich auftauchenden Vision sah sie vor ihrem inneren Auge alte Frauen in langen Gewändern und fleißige Hände, die zugriffen. Sie lauschte flinken Schritten und vernahm das leise Tappen nackter Kinderfüße auf den Holzbohlen. Sie roch den dampfenden Kartoffelgeruch und Fettgebackenes, heiße Milch und beißenden Tabakqualm alter Männer, der von der langen Sitzbank unter dem Fenster zu ihr herüber quoll.

Die Küchengeschichten, die dieser Raum ihr erzählte, überschlugen sich und umwoben sie. Geschichten und Bilder vergangener Zeiten kullerten ihr zu Füßen und baten sie schmeichelnd, den leeren Platz in dieser Stube zu füllen. Sie forderten sie auf, das Feuer im großen Kochofen wieder anzuzünden, die Fenster weit zu öffnen, zu backen und zu kochen, damit ein neuer und doch uralter Geruch von Wohnlichkeit und Wärme wieder durch das Haus wehen könne.

Dieser alten Küche, dem Herzstück des Hauses, war Gerdi ohne Vorwarnung schutzlos ausgeliefert.

Und vor ihr stand Paul. Ein Mann, der ihr zunehmend gefiel mit seiner ruhigen Gelassenheit und einem vertrauensvollen Lächeln, und hielt sie mit seinen Augen fest. Passend zur Haarfarbe sprenkelten unzählige Sommersprossen sein Gesicht.

Er reichte ihr eine dampfende Tasse Kaffee und fragte mit bübisch gespieltem Unschuldslächeln, ob er ihr vielleicht ein „Busserl“ auf die Backe geben dürfe.

Das war schon harter Tobak, den Paul da ins Gefecht führte und Gerdi, die auf plumpe Anmache, auf „Busserln“ jeglicher Art von fremden Männern und vorschnelles Jagdverhalten grundsätzlich schroff oder brüskiert reagierte, erkannte sich selbst kaum wieder. Sie lachte Paul an, fiel ihm um den Hals und küsste ihn selbst.