Von diesem Sommer bis zum nächsten

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Sechstes Kapitel

Gerdi verstand ihren Sohn gut.

Sie war selbst eine Rebellin gewesen, lange Zeit und im Grunde war sie es noch immer. Gerade deshalb konnte sie die Wut und das Aufbegehren verstehen, die diese Kapuzenjungs in sich trugen.

Ein halbes Leben lag es jetzt zurück.

Gerdi war noch sehr jung gewesen, als sie begonnen hatte, sich für gesellschaftspolitische Fragen zu interessieren und sich gegen die Zerstörung ihrer Umwelt zur Wehr zu setzen. Sie war damals bereits einige Jahre älter als Leon heute. In seinem Alter hatte sie vor allem zwei Dinge im Kopf – einen Haufen unausgegorenes Chaos und möglichst bald die Flucht aus ihrem Elternhaus anzutreten.

Nicht, dass Gerdis Eltern schlechte Eltern gewesen wären, nein, sicher machten sie sich Sorgen, wie andere Eltern auch. Bestimmt taten sie, was ihren Möglichkeiten entsprach, um Gerdi auf einen geradlinigen und vermeintlich sicheren Lebensweg zu bringen. Vielleicht versuchten sie sogar vor ihrem Lebenshintergrund die älteste Tochter zu verstehen, die sich jedoch mit zunehmendem Alter zur kompletten Überforderung ihrer Eltern auswuchs. Sie schienen in zwei Welten zu leben, die langsam aber unaufhörlich auseinander drifteten.

Gerdi war schon früh ihrer Kindheit entwachsen und auf der Suche nach einem anderen Nest, nach Gleichgesinnten, mit denen sie über die Welt fliegen konnte. So weit sie sich zurück erinnerte, trug sie ein diffuses, unstimmiges Gefühl in sich, irgendwie falsch und anders zu sein und nicht in den Rahmen zu passen, der ihr vorgegeben war.

Die Welt, in der sie aufwuchs, als sie bereits zur Schule ging, war eng.

Eine Arbeitersiedlung der 50er Jahre, eintönige und langgestreckte zweistöckige Blöcke. Später kamen die Hochhäuser dazu. Im ganzen Viertel gab es kein Haus, das den Menschen gehörte, die darin lebten. Quadratisch, praktisch – aber nicht wirklich gut.

Die einzigen, der Jugend interessant erscheinenden, Anlaufpunkte waren ein zweitklassiges Vorstadtkino und eine Pommesbude im nächstgrößeren Viertel. Es war nicht der geeignete Platz und es waren auch nicht die besten Bedingungen, die Gerdis Hunger nach Erleben und Wissen hätten stillen können.

Hey Leon, wenn ich dir erzählen würde, in welcher Zeit ich aufgewachsen bin, du würdest es nicht glauben wollen oder bestenfalls auf das vorletzte Jahrhundert tippen. Na gut, ganz so lange ist es nicht her – obwohl es mir manchmal fast selbst so erscheint.

Pommes essen – stell dir vor, das war damals etwas ganz Besonderes! Spaghetti mit Tomatensauce war schlichtweg exotisch. Pizza und Döner kannte kein Mensch. Und wenn es Toastbrot gab, dann wurde jedes Mal ein Wettessen veranstaltet, wer am Meisten von diesen goldbraunen viereckigen Scheiben in sich hineinstopfen konnte. Toastbrotessen war wie … ja, wie was eigentlich? Es fällt mir kein Vergleich ein, der dir die Vorstellung erleichtern würde, leider kennt ihr heute alles schon. Alles und zu jeder Zeit.

Dinge, die für dich heute selbstverständlich sind und die du nicht missen möchtest, gab es in meinem Leben ganz einfach nicht: Telefon, Waschmaschine, Zentralheizung, Fernseher, mal eben mit dem Flieger ins verlängerte Wochenende starten … Ich könnte Vieles aufzählen, aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich zu allem eine Geschichte erzählen kann.

Telefonieren zum Beispiel! Natürlich war das Telefon längst erfunden, was aber noch lange nicht hieß, dass auch jeder so einen Apparat besaß, zumindest nicht die durchschnittliche Arbeiterfamilie. Und dazu gehörten wir nun mal.

Wenn also ein unumgängliches Telefonat geführt werden musste, dann bin ich mit Oma zur nächsten Parkanlage gelaufen, da stand nämlich so ein begehrtes Häuschen. Und manchmal durfte auch ich kurz in den Hörer sprechen und der Stimme lauschen, die aus dem oberen Ende undeutlich und etwas blechern ertönte. Kannst Du Dir vorstellen, welch magische Welt sich mir dann jedes Mal eröffnete?

Oder Waschmaschinen, Leon! Die gehörten schlichtweg lange Zeit zu den unerschwinglichen Gerätschaften. Nicht mal dran zu denken brauchte meine Mutter. Aber natürlich haben wir auch gewaschen – im großen Waschzuber auf dem Gasherd in Omas Küche! Und gestampft und gerührt wurde die Wäsche mit einem großen Waschkochlöffel in einer milchigen Seifenlauge, die zusehends in dem Maße gräulicher wurde, wie die Wäsche weißer.

Dieses blassgrau ausgelaugte, rissige und rund gescheuerte Stück Holz sehe ich noch heute in aller Deutlichkeit vor Augen, so sehr ist es in meiner Erinnerung verhaftet. Allerdings aus weniger angenehmen, sondern ab und an äußerst schmerzhaften Gründen, da ihm außer dem wöchentlichen Wäschestampfen auch noch erzieherische Maßnahmen zugebilligt wurden.

Und weil es in der Küche nach dem Wäschewaschen dampfend warm war, gab es immer noch ein Vollbad hinterher. Dann stand mitten in der Küche der große Wäschezuber mit Badewasser und ab ging’s in die Fluten – natürlich erst Mama, dann ich.

Bis heute mag ich keine zentral geheizten Wohnungen, das weißt du, glaube ich, schon. Aber du weißt nicht warum? Ich will es dir sagen:

Stell dir einfach einmal vor, wie es sich anfühlt, wenn du nachts aus dem dicken warmen Federbett kriechst, dich durchs dunkle ungeheizte Schlafzimmer tastest, weil du ganz dringend noch mal zur Toilette musst und es sich unmöglich bis zum nächsten Morgen aufschieben lässt.

Wenn du dann mit nackten Füßen über den Steinfußboden im ungeheizten Klo rennst, weil dir die eisige Kälte in die Fußsohlen beißt und wenn du dann Angst hast, mit dem Hintern auf der Klobrille festzufrieren. Und wenn trotz der bitteren Kälte dein Blick aber doch jedes Mal verwundert an den Eisblumen kleben bleibt, die glitzernd das ganze Fenster überwuchern. Und wenn du dann auf dem Rückweg ins Bett noch einen Abstecher ins Wohnzimmer machst, in dem Oma hinter ihrer Maschine sitzt und näht, um dich neben dem bollernden Ofen aufzuwärmen, bis deine Backen glühen und der heiße Stoff vom Nachthemd dir fast die Haut versengt, dann Leon, wird jede laue Heizungsluft hinter dichten Thermoglasfenstern eine wirklich armselige Angelegenheit.

Aber das sind alles Erinnerungen aus meiner frühesten Kindheit.

Erst später, als wir nicht mehr bei Oma lebten, kamen solche Errungenschaften wie ein Fernseher dazu, der mehr kaputt war, als dass er funktionierte und dessen zwei Sender erst ab dem späten Nachmittag das Programm ausstrahlten.

Und, stell dir vor, das war auch gut so! Davor spielten wir nämlich in wilden Spielen unsere Lieblingsfilme nach und fühlten uns den angehimmelten Stars der Leinwand sehr nah.

Mit zwölf Jahren schmuggelte ich meine ersten „Nylons“ an meinem Vater vorbei. Wenn die eine Laufmasche hatten, dachte niemand daran, sie wegzuwerfen. Die davon gelaufenen Maschen wurden in mühseliger Handarbeit mit einer speziellen Nadel wieder aufgenommen und repariert. Die Strümpfe der weiblichen Familienmitglieder zu flicken, blieb meist an Oma hängen. Sie sammelten sich bei ihr in einer silbernen Schale, die eigentlich für Obst gedacht war, aber irgendwie nie leer wurde. Und natürlich gab es keine Strumpfhosen, sondern einzelne Strümpfe, die mit Strapsen an einem Hüftgürtel befestigt wurden. Sehr zum Leidwesen von uns Mädchen, die wir vor Scham rot anliefen, wenn es einer unserer Schulkameraden doch schaffte, einem Mädel den Rock hochzuziehen.

Merkwürdigerweise erinnere ich mich jedes Mal wieder an dieses beschämende Gefühl von damals, wenn heute ein junges Mädel in Jeans, die gerade noch den Schamhaarbereich bedecken, sich zufällig vor mir bückt und die Riemchen ihres Stringtangas nebst Pofaltenansatz frei liegen.

Als ich älter wurde, entschwand allmählich die Magie der Kinderzeit.

Das verwilderte Stück Land der verlassenen Gärtnerei am Stadtrand war längst keine Filmkulisse mehr für Helden und Abenteuer, sondern war und blieb ein Streifen unwirtlichen Landes. Der Mann im Mond war mittlerweile auch nicht mehr alleine und unsere Wäsche trugen wir zur Wäscherei, bis später im Badezimmer endlich die lang ersehnte Waschmaschine prangte.

Der Zauber verblasste und die Gleichförmigkeit nahm zu.

Ihr Elternhaus empfand Gerdi drückend und eng.

Die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, in die Gerdi und ihre Mutter gezogen waren, als sie das Zuhause ihrer Kindheit bei Oma und Tante verlassen hatten, teilten die beiden schon bald mit einem neuen Bewohner. Es war der Mann, der ihre Mutter heiratete und Gerdi von dieser Zeit an ein Vater war. Später kamen, in kurzen Abständen aufeinander folgend, vier Kinder zur Welt, von denen aber nur zwei am Leben blieben – das waren Gerdis Schwestern.

Aus dieser Zeit blieben Bilder in ihrem Kopf hängen, denen sie versuchte zu entkommen. Bilder, die sie am liebsten abgeschüttelt hätte, wie einen lästigen alten Umhang, den man nicht mehr brauchte. Aber sie hafteten an ihrem Leben, wie der Schatten an ihren Füßen.

Könnten Schlafstätten die Geschichten der Nacht für Nacht darin ruhenden Menschen wiedergeben, was hätten sie wohl über meine Familie zu erzählen gehabt?

Von welchen verschwiegenen Träumen eines zwölfjährigen Mädchens hätte der winzige fensterlose Verschlag berichtet, der im einst elterlichen Schlafzimmer entstanden war, nachdem der große, quer ins Zimmer gestellte Schleiflackschrank den hinteren Teil des zweitürigen Raumes abgetrennt hatte?

 

Der Schrank reichte von einer Wand bis zur anderen und vom Boden bis zur Decke. Und somit war auf der rückwärtigen Seite mein eigenes kleines, aber dunkles Reich entstanden. Wenn es auch kein Fenster gab, so gab es aber wenigstens eine Türe, die ich hinter mir schließen konnte. Auf das Fenster konnte ich verzichten, auf eine Türe nicht.

Auf der anderen Seite des Kleiderschrankes blickten die glänzenden Lacktüren und die mit hellblauen Vorhängen hinterlegten oberen Glastürchen auf ein kleines und ein großes Kinderbett, in denen seelenruhig und frei von düsteren Gedanken meine kleinen Schwestern schliefen.

Die Schlafstätte ihrer Eltern war notgedrungen ins angrenzende Wohnzimmer gewandert und lag unsichtbar und zusammengeklappt hinter zwei drehbaren Regalwänden einer Schrankwand.

Somit kam auch dem Wohnzimmerschrank eine zweite Aufgabe zu. Zusammen mit den unsichtbaren Betten in seinem Innern verbarg er die Geldsorgen der jungen Familie, die ihnen eine größere Wohnung versagten.

Unübersehbar blieben nur die mühsamen Versuche der Mutter, ihre pubertierende Tochter, den Säugling und das Kleinkind ruhig zu halten, während der in drei Schichten arbeitende Vater im aufgeklappten Bett den Schlaf der Gerechten schlief.

Wie Kalendertürchen, die sie nach und nach öffnen konnte, erschienen Gerdi die Rückblicke in diesen Abschnitt ihrer Kindheit und Jugendzeit, wenn sie später daran dachte.

Sie erinnerte sich an die abendlichen Heimarbeiten ihrer Mutter, die das Wohnzimmer von Zeit zu Zeit mit gestanzten Kartons, mit Kugelschreiberhülsen und feinmechanischen Apparaturen zum Verlöten überschwemmten.

Voller Zorn fegte und wischte sie die endlosen Treppenaufgänge und riesigen Flure des Hochhauses, in dem sie später lebten, wenn ihre Mutter mit der Arbeit als Putzkraft alleine nicht mehr nachkam und schwor sich, dies später nie wieder in ihrem Leben freiwillig zu tun. Sie hasste auch all die anderen Putzstellen, die ihre Mutter müde und ausgelaugt vom anstrengenden Alltag abends noch ansteuerte, sobald Gerdis Schwestern schliefen. Sie raubten ihnen die gemeinsamen Abende und forderten gnadenlosen Einsatz, auch dann, wenn ihre Mutter krank war.

Gerdi erinnerte sich auch an viele endlos langweilige Nachmittage, an denen sie auf ihre Schwestern aufpassen musste. Stundenlang saß sie mit ihnen am Sandkasten, während sich eine schier unerträgliche Unruhe in ihr ausbreitete. Mit ihrem Verstand konnte sie es noch nicht erfassen, aber sie fühlte mit jeder Faser ihres Herzens, dass irgendwo das Leben auf sie wartete.

Weil sie dem Sandkasten und der Verantwortung für ihre kleinen Geschwister aber nicht entkommen konnte und eine Veränderung irgendwo in unbekannter Ferne lag, baute sie sich kleine Brücken in ihre eigenen Traumwelten.

Eine dieser Brücken, war ihr kleines Transistorradio.

Die Eltern hatten es Gerdi zu ihrem zwölften Geburtstag geschenkt. Dieses Radio war ihr kostbarster Schatz.

Mit dem Radio auf ihren Knien saß sie auf den Waschbetonplatten, die den Sandkasten umgaben und träumte. Mit der einen Hand schaufelte sie immer neue Sandburgen auf, die die beiden kleinen Mädchen voller Begeisterung mit Stöckchen und Kieselsteinen schmückten, um sie anschließend mit einem gekonnten Sprung auf den Gipfel wieder einzustampfen. Mit der anderen Hand drehte sie am Sender, um ihre Lieblingslieder zu hören.

Da ihr Radio aber in fast unverschämter Weise die teuren Batterien nahezu im Stundentakt zu fressen schien, entwickelte Gerdi in ihrer Not ein bemerkenswertes Geschick, den saftlosen Überresten einen allerletzten Funken Energie abzuringen.

Sie schätzte auf die Sekunde ab, wann in den Top Ten der Woche My Sweet Lord zu hören war und schaltete meist in Punktlandung zu Beginn des Liedes ihr Radio wieder ein. Ganz leise hatte sie es dabei gedreht und sie wünschte sehnlichst, die ausgelutschten Batterien mögen durchhalten. Dann legte sie ihr Ohr an den Lautsprecher, schloss die Augen und ließ sich auf George Harrisons zärtlicher Stimme in eine andere Welt gleiten.

Und obwohl sie ihn lieber vergessen hätte, erschien ihr auch das Bild des käsegesichtigen und eingebildeten Sohnes des Hauswarts. Dieser leicht aufgeschwemmte blässliche Junge, der nie mit den anderen Kindern im Block spielte, hatte sie mit seiner Überheblichkeit oft gereizt bis aufs Blut. Er war der einzige Mensch, den sie je in ihrem Leben verprügelt hatte. Um seinen Hänseleien ein spürbares Ende zu setzen, drosch sie eines Tages auf ihn ein mit all der Wut, die die Beschämung jedes Mal in ihr hervorgerufen hatte, wenn sie von ihrer Mutter losgeschickt wurde und unter den verächtlichen Blicken seines Vaters wieder einmal eine längst überfällige Mietzahlung überbringen musste. Es war ihr egal, dass dieser Junge sie um Kopfeslänge überragte. In ihrem Zorn war sie die Stärkere.

Es tauchte auch der kleine schwarze Hund auf, den Gerdi ihrem Vater mit viel Bettelei und Versprechungen abgerungen hatte, der aber eines Tages, nachdem die erste Schwester geboren war, verkauft wurde, während Gerdi in der Schule saß.

Ihren Bobby, – so hieß das schwarze Wollknäuel –, hatte sie sehr geliebt.

Er teilte mit ihr viele einsame Stunden, die Gerdi allein zu Hause verbrachte und darauf wartete, dass die Eltern aus der Fabrik kamen. Und Gerdi teilte mit ihm nach der Schule ihr aufgewärmtes Mittagessen. Mit seiner weichen rosafarbenen Zunge leckte er ihr die salzigen Tränen vom Gesicht, wenn sie mit ihm am Fenster stand und anderen Kindern zuschaute, die mit ihren Müttern einkaufen gingen, und er brachte sie mit seiner putzigen, tapsigen Art zum Lachen.

Kaum war Gerdi ihrer Kindheit entschlüpft, fand sie sich mit dreizehn Jahren ziemlich unvorbereitet in einem vollständig ausgereiften und aufreizend entwickelten Frauenkörper wieder. Natürlich nahm sie die rasche Veränderung ihres Körpers erstaunt wahr, aber sie wusste noch nicht, dass sie mit ihrem veränderten Körper auch anders auf die Welt einwirkte, als zuvor. Wie hätte sie auch eine Vorstellung davon haben sollen? Kam doch ihre kindliche Seele geradewegs aus einer entgegengesetzten Richtung daher und hinkte ihren zunehmend weiblichen Rundungen noch immer verwundert hinterher.

Anfangs hatte sie die unverhohlenen Blicke der Männer und die anrüchigen Bemerkungen, mit denen sie Gerdi im Vorübergehen streiften, noch nicht einmal einordnen können. Sie fühlte die Blicke nur unangenehm in ihrem Rücken und sie hinterließen ein zwiespältiges Gefühl in ihr.

Gerdi sonnte sich in der Beachtung, die sich plötzlich auf sie richtete, aber zugleich wandelte sich die ihr vertraute kindliche Unbekümmertheit um in ein unangenehm fremdes Gefühl der Selbstbeobachtung und Befangenheit.

Lange vor dieser Zeit hatte ihre Mutter ihr irgendwann einmal etwas verschämt ein kleines Heftchen in die Hand gedrückt mit den Worten, das solle sie lesen, damit „ihr nichts passiere“, und wenn sie etwas nicht verstehen würde, könne sie ja fragen …

Weil ihre Mutter sich so merkwürdig verhielt, traute Gerdi sich aber erst gar nicht nachzufragen und hatte das Heftchen samt „aufklärendem“ Inhalt auch bald wieder vergessen. Noch viel zu jung war sie damals gewesen. Noch nicht einmal eine Vorstellung hatte sie davon, dass es so etwas wie Sexualität überhaupt gab.

Zurück blieb nur die Erinnerung an die Peinlichkeit der Situation und dass es mit Männern und Frauen wohl etwas auf sich habe, das nicht in Ordnung ist und über das man besser nicht sprach.

Weil ihre Neugier auf das andere Geschlecht inzwischen aber geweckt war und Gerdi schon längst begonnen hatte, die älteren Jungs im Viertel ebenfalls mit anderen Augen zu sehen, stückelte sie sich ihr Wissen über Sex aus heimlich weitergereichten „Bravo-Heftchen“ und aus den mit viel Gekicher und hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Berichten anderer Mädchen zusammen.

In der kleinen Grünanlage gegenüber der Schule, die der Jugend als Treffpunkt diente, probierten sie auf den abgelegenen Parkbänken in der Dämmerung ihr neues Wissen aus, unspektakulär und unromantisch. Die große Liebe fanden sie dabei nicht.

Das Kalendertürchen mit dem unappetitlichen Jungen dahinter, dessen Namen sie schon bald vergessen hatte und der ihr den viel beschworenen und lang ersehnten ersten „richtigen“ Kuss gab, konnte sie getrost auf immer verschlossen halten.

Mit feuchten Sabberlippen steckte er seine widerlich harte Zunge fordernd in Gerdis Mund. Gerdi hielt die Augen geschlossen, um nichts von ihm sehen zu müssen. Seine Hände tappten über Gerdis Körper und griffen hart nach ihren Brüsten, obwohl sie versuchte, ihn abzuwehren. Als er keuchend unter ihren Rock griff und versuchte, seine Hand zwischen ihre Beine zu zwängen, wurde Gerdi panisch. In einer Aufwallung von angewidertem Ekel, Wut und Angst schaffte sie es, ihn von sich zu stoßen und rannte davon.

Gerdis Suche nach Neuem und Unbekanntem drängte über die engen Grenzen ihres Wohnviertels hinaus. Sie wollte wissen, was es gab in der Welt, dort draußen, an den vielen Orten, an denen das Leben auf sie zu warten schien.

Und hatte das Vorstadtkino ihrer Siedlung Gerdis Lebenshunger schon nicht stillen können, so war es wenigstens nicht unerheblich daran beteiligt, ihn weiter zu schüren.

Eines Tages prangte in fetten roten Lettern „WOOD-STOCK“ auf der Tafel über dem Eingang.

Woodstock? Gerdi wusste nicht, was das sein sollte, obwohl sie sicher war, den Namen schon einmal gehört zu haben. Sie ging zum Schaukasten und suchte nach den Bildern zum Film. Sie fand zwei Szenenfotos, einen Text, worum es ging, gab es nicht. Das war auch nicht nötig. Ein Blick auf die beiden Bilder reichte und Gerdi wusste – diesen Film würde sie sehen!

Mit dem aufregenden Prickeln einer Vorahnung in sich, lief sie nach Hause. Sie bettelte ihrer Mutter zwei Mark für die Eintrittskarte ab und setzte sich in die nächste Vorstellung.

Nachdem sich das Licht in dem schäbigen Kinosaal verdunkelt hatte, flimmerten vor Gerdis ungläubigen Augen die bunte ausgeflippte Welt der Hippies und großartige Musiker während ihrer mitreißenden Auftritte über die Leinwand, allesamt durchströmt von einem übermächtig erhebenden Gefühl der Freiheit. Aus den Lautsprechern flog ihr die Musik zu, zärtlich und wild und riss sie mit sich. Sie sah auf eine riesige wogende Masse junger Menschen, glücklich, friedfertig. Sie ahnte die geheimnisvolle Wirkung unbekannter Drogen, schaute auf die fremdartigen Bilder berauschender Ekstase und unbefangener nackter Menschen … Gerdi erblickte eine Lebensart außerhalb einer jeglicher Norm, die sie je kennen gelernt hatte.

Die Faszination des Festivals erreichte Gerdi in ihrem Innersten. Sie trug die Eindrücke der Bilder mit sich nach Hause in ihr kleines dunkles Reich. Dort verschloss sie die Musik in ihrem Herzen und lauschte ihr nach, wann immer sie wollte und sie wusste endgültig und unumstößlich: es gab eine andere Welt – die Welt nach der sie suchte. Und sie würde diese Welt finden! Es gab nichts und niemanden, der sie davon abhalten konnte.

Zuhause, in der engen Zwei-Zimmer-Wohnung, waren die Wogen der sich anbahnenden Eskalation nicht mehr aufzuhalten. Mit dem Stiefvater lag Gerdi in einem erbitterten Dauerstreit. Ihre Mutter war verzweifelt und zerrieben zwischen Tochter und Mann, und die Schule wuchs sich für Gerdi zum albtraumhaften Desaster aus. Nach einem heftigen Streit mit viel Geschrei und anschließendem Hausarrest ergriff Gerdi die nächste Gelegenheit, die sich bot. Sie packte einige Sachen zusammen, nahm etwas Geld aus der Handtasche ihrer Mutter und verschwand aus der elterlichen Wohnung.

Als Gerdi ging, fühlte sie mit einem Schlag nichts mehr.

Die Welt um sie herum war stumpf zurückgetreten.

In ihr drin sagte es: „Ich hau ab, es reicht!“

Und ihr Kopf sagte: „Das machst du nicht! Das machst du niemals!“

Aber sie machte.

Sie setzte einen Schritt vor den anderen.

Sie ging zum Bahnhof.

Sie kaufte eine Fahrkarte.

Sie fuhr nach München.

„Ich hau ab, es reicht!“

Und in ihrem Kopf, da sagte es noch immer: „Das machst du nicht!“

Aber da saß sie bereits im Zug.

Und dann sagte auch ihr Kopf nichts mehr. Der blieb ruhig. Er war längst blockiert und abgelöst von dem fremdartigen, dumpfen Gefühl, in einem Film verfangen zu sein, der ohne eigenes Zutun von unsichtbarer Hand immer weiter abgespult wird und aus dem es kein Entrinnen gibt.

Der Sog der fremden Großstadt, in die sie gefahren war, spülte sie mit sich fort, zerrte sie im Zeitraffertempo weiter, vorbei an den berechnenden, gierigen und schmutzigen Gesichtern einer Erwachsenenwelt, die ihr bislang verschlossen gewesen war.

 

Als sie zehn Tage später aufgegriffen wurde und ihr Vater kam, um sie nach Hause zu holen, zerriss der Film und gab sie frei. Müde und zu Tode erschöpft schlief sie zwei lange Tage.

Mit dem Schlaf des Vergessens hatte sich endgültig das letzte Kalendertürchen ihrer Kindheit hinter Gerdi geschlossen.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?