Chassidismus

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

|18|2.1. In der Epoche des Zweiten Tempels (4. Jh. BCE bis 1. Jh. CE)

Chassidim in der Zeit des Zweiten TempelsIn der Zeit der Makkabäer bzw. Hasmonäer (2. Jh. BCE) traten erstmalig jüdische Traditionalisten in Erscheinung, die sich als „Chassidim“ titulierten. Im Ersten Makkabäerbuch (1 Makk 2,42; 7,13) erscheinen sie als eine Gruppe von Gelehrten, die sich dem militanten Widerstand gegen die Hellenisierungspolitik des seleukidischen Königs Antiochos IV. Epiphanes (um 215–164 BCE) angeschlossen hatten (vgl. 2 Makk 14,6). Später bemühten sich diese Chassidim jedoch um einen friedlichen Ausgleich zwischen den Hasmonäern und den „Hellenisten“ – den jüdischen Parteigängern der griechischen Herrscher. Im Jahre 153 BCE gelang es den Makkabäern, die seleukidische Herrschaft über Judäa faktisch zu beenden. Sinnfällig gestalteten sie ihren Machtanspruch durch die Übernahme des Hohenpriesteramtes. Nun aber zerfiel die Koalition der Chassidim endgültig, da viele unter ihnen die Hasmonäer nicht als legitime Nachfolger im höchsten priesterlichen Amt ansahen. Aus den Kreisen jener frühen Chassidim könnten die ältesten Apokalypsen der jüdischen Literaturgeschichte stammen (vgl. Albertz, S. 598–605.664–676). Dazu rechnet man die ältesten Schichten des Danielbuches und der Henochliteratur. Wesentliches Merkmal jener frühen chassidischen Gruppierungen dürfte die leidenschaftliche Hingabe an die Gebote der Tora (vgl. Dan 1,8; 2 Makk 5,27) gewesen sein.

2.2. In der rabbinischen Literatur (2.–7. Jahrhundert CE)

Chassidim in der rabbinischen LiteraturWie in der Hebräischen Bibel, so begegnet auch im Korpus der rabbinischen Texte der generische Gebrauch des Begriffs Chassid als eines Menschen, der die üblichen Standards bei der Erfüllung der Gebote deutlich übertrifft. Verschiedenen Einzelpersonen wie Chaniná ben Dosá, Samuel dem Kleinen (tSota XIII,3 [4]) oder Mar Zutra (bNed 7b) wird jener Ehrentitel zuerkannt.

Daneben ist jedoch von einer Gruppierung die Rede, die als „frühere Chassidim“ (Chassidim Rischonim/חסידים ראשונים) bezeichnet wird. Verschiedentlich berichten rabbinische Quellen von den besonderen Gewohnheiten dieser Frommen. Vor jedem Gebet sollen sie eine Stunde lang ihre Gedanken auf den Ewigen ausgerichtet haben. Selbst unter Lebensgefahr seien sie nicht bereit gewesen, ein einmal begonnenes Gebet abzubrechen (mBer V,1 mit bBer 32b; tBer III,20). Besonderen Wert hätten sie auf eine unbedingte Würdigung des Schabbat (bSchab 121b und 150b) und auf persönliche |19|Reinheit und Buße (bKer VI,3 mit tKer IV,4; tNed I,1 mit bNed 10a) gelegt. Auch in der Ausübung bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten (tPe’a III,8 [13]; bBQ 30a; bMen 40b) hätten sie überragende Sorgfalt walten lassen.

Aus all diesen Angaben wird jedoch nicht klar, ob es sich bei jenen Frommen um verschiedene Einzelpersonen, eine informell strukturierte Gruppierung oder gar (was jedoch eher unwahrscheinlich ist) um eine regelrechte Strömung gehandelt haben könnte.

Eine weitere Facette der Verwendung des Begriffes zeigt sich in der Kombination der Chassidim mit den sogenannten ‚Männern der Tat‘ (אנשי מעשה/Ansché Ma’assé). So bietet die Mischna zum Abschluss des Traktats Sota (mSota IX, 15) einen ebenso kurzen wie merkwürdigen ‚historischen‘ Abriss von Tätigkeiten, Personen oder Ereignissen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhörten oder verschwanden. In diesem Kontext findet sich die folgende Aussage:

Von dem [Zeitpunkt] an, da Rabbi Chaniná ben Dośá gestorben war, verschwanden die ‚Männer der Tat‘ [Ansché Ma’assé]. Von dem [Zeitpunkt] an, als Rabbi Josse Qatnutá gestorben war, verschwanden die Chassidim. Warum wurde sein Name Qatnutá genannt? Weil er der Kleinste [qatnuta] der Chassidim war. (mSota IX,15; vgl. jSota IX,15.24c)

Noch an einer weiteren Stelle der Mischna werden die ‚Männer der Tat‘ mit den Chassidim verknüpft: Beide Gruppen sollen zu Zeiten des Zweiten Tempels den berühmten Fackeltanz an Sukkot, zum Fest der „Freude des Wasserschöpfens“ angeführt haben (mSukka V,4 mit tSukka IV,2). Unter den Gelehrten herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich bei den ‚Männern der Tat‘ um charismatische Retter und Heiler handelt, wie es ja auch aus den mit Chaniná verknüpften Traditionen (z.B. mBer V,5; bJev 121b oder bTa’an 24b–25a) deutlich wird. Wie allerdings die Chassidim im Kontext der ‚Männer der Tat‘ zu deuten sind, erscheint weit weniger klar.

In der Forschung wird von einigen Gelehrten die Auffassung vertreten, dass zwischen den Charismatikern und den Chassidim (‚frommen Wohltätern‘) deutliche Unterschiede auszumachen sind. Andere hingegen sind der Meinung, dass es sich bei den verwendeten Begriffen nahezu um Synonyme handelt. Manche wollen sogar eine spätantike chassidische Bewegung rekonstruieren, die sich durch galiläische Herkunft, Armut, die Überordnung des Tuns über das Lernen sowie die Berücksichtigung von Frauen ausgezeichnet hätte (vgl. die Diskussion dazu bei Becker, S. 368–373). Letztere Annahme befrachtet die wenigen Quellen vermutlich über Gebühr.

|20|Zuweilen werden auch (tTa’an II,13 [11]; bTa’an 23b) enge Beziehungen zwischen Regenmachern und den Chassidim hergestellt. So bleibt zu konstatieren, dass die rabbinischen Meister den Begriff Chassidim in verschiedenen Zusammenhängen verwendet haben: Neben der generischen Bezeichnung für herausragend Fromme, wie sie aus der Bibel herüberreicht, kann er für die klarer umrissene Gruppe der ‚Chassidim Rischonim‘ (חסידים ראשונים) Anwendung finden oder – in selteneren Fällen – auf charismatische Einzelpersonen appliziert werden.

Zaddik in der rabbinischen LiteraturDer Gebrauch des Begriffs Zaddik durch die rabbinische Literatur knüpft ebenfalls an biblische Gewohnheiten an. Allerdings verschieben sich die Maßstäbe dessen, was als adäquater Umgang mit der Tora und den in ihr enthaltenen Geboten gefasst werden kann, ziemlich deutlich nach oben. Menschen, die sich (wie so mancher Psalmenbeter) rühmen könnten, tatsächlich vollkommen gerecht zu sein, gibt es nach Auffassung der Rabbinen eigentlich gar nicht: Selbst große Gelehrte hielten sich für eher mittelmäßig (bBer 61b). So nimmt es nicht wunder, dass Zaddikim mitunter in den höchsten Tönen gelobt werden. Ihre Verdienste sind höher einzuschätzen als diejenigen der Dienstengel (bSan 93a); nur ihretwegen hat die Welt Bestand (bJoma 38b). Auf Grundlage dieser Wertschätzung trifft der Babylonische Talmud denn auch Aussagen wie die folgende, die für die Konzepte des späteren osteuropäischen Chassidismus von großer Bedeutung sind:

Sagte R. Schmu’el bar Nachmani, sagte R. Jonatan: Was ist es, das geschrieben steht: ‚Spruch Davids, des Sohnes Jischais, Spruch des Starken, der hoch erhoben ward‘ [2 Sam 23,1]. Spruch Davids, des Sohnes Jischais: denn er erhebt das Joch der Bußumkehr. ‚Es sagte der Gott Israels, zu mir redete der Felsen Israels: Der über den Menschen Herrschende ist gerecht [oder: Ein Herrscher über Menschen ist ein Zaddik]; herrschend [in] der Gottesfurcht.‘ [2 Sam 23,3] Was ist es, das gesagt ist: Sagte der Gott Israels, zu mir sprach der Fels Israels’? ICH herrsche über den Menschen – aber wer herrscht über MICH? Der Zaddik! Denn ICH dekretiere ein Dekret und er hebt diese Worte [wörtlich: Namen] auf. (bMo’ed Qatan 16b)

2.3. Im mittelalterlichen Aschkenas

Chassidé AschkenasEine weitere Neufassung gewann der Begriff Chassid im Zentraleuropa (Aschkenas) des 12. und 13. Jahrhunderts. Eine Gruppe von Gelehrten, die Chassidé Aschkenas, entwickelte unter dem Eindruck der jüdischen Martyrologie im Gefolge der Kreuzzüge und in Reaktion auf christliche Frömmigkeitsbewegungen eine spezifische Ethik und Spiritualität. Einige herausragende Vertreter dieses Kreises, |21|Schmu’el ben Kalonymus he-Chassid (2. Hälfte des 12. Jh.), sein Sohn Jehuda he-Chassid (starb 1217) sowie dessen Schüler El’asar ben Jehuda ben Kalonymus (starb ca. 1230), entstammten der berühmten Kalonymus-Familie aus Lucca, die als wesentliche Mittlerin von Traditionen von Italien nach Deutschland gilt. Die Chassidé Aschkenas beeinflussten, wiewohl eine verhältnismäßig kleine Gruppierung, nicht nur die großen rheinländischen und süddeutschen Gemeinden, sondern auch die nordostfranzösischen Zentren jüdischen Lebens.

Schriften der Chassidé AschkenasSie schufen ein reiches Korpus an halachischen, ethischen und esoterischen Werken. Die bedeutendste unter den ethischen Schriften dürfte der Śefer Chassidim (ספר חסידים; Buch der Frommen) des Jehuda he-Chassid darstellen, der noch heute viel gelesen wird und höchst aufschlussreiche Einsichten in das jüdische Leben im hochmittelalterlichen Aschkenas vermittelt. Unter den halachischen Texten ragen der Śefer ha-Roqeach (ספר הרוקח) des El’asar von Worms sowie das Kompendium Or Saru’a (אור זרוע; Das aufgehende Licht) des Jitzchak ben Mosche von Wien (um 1180–1260), eines Schülers des El’asar, heraus. In ihren esoterischen Schriften – wie dem Śefer Śodé Rasajá (ספר סודי רזיא; Buch der verborgenen Geheimnisse) des El’asar von Worms – griffen sie auf teils sehr alte mystische Traditionen zurück.

Die Chassidé Aschkenas sahen sich als spirituelle Elite, der es oblag, die Gebote schärfer zu beachten, Seele und Geist reiner zu halten und die Gebets- und Bußpraxis mit höherem persönlichen und emotionalen Engagement umzusetzen, als es den einfachen oder unwilligen Juden möglich oder erwünscht erschien. Die Liebe zum Ewigen als dem Schöpfer der Welt sollte die gesamte Lebensführung durchdringen und es dem Bösen verunmöglichen, Zugriff auf den Chassid zu erlangen.

Gebets- und BußpraxisSeinen besonderen Ausdruck findet das Streben nach spiritueller Vervollkommnung in der Zuwendung zu jedem Detail der überlieferten Gebete: der Kawwana (כוונה; Ausrichtung, Intention). Seien es die Formen, Klänge, Zahlenwerte der Buchstaben oder die verwendeten Melodien – jedes einzelne Element des Gebetes bedurfte sorgfältiger Würdigung, da es schließlich als Kanal oder als Leiter in die himmlischen Sphären angesehen wurde. Im Unterschied zu vorgängigen Strömungen erfuhr auch die Bußpraxis bei den Chassidé Aschkenas entscheidende Aufwertung. Diese geht womöglich auf zeitgenössische christliche Einflüsse zurück. Sie unterschieden vier Grundformen der Reaktion auf eine verübte Sünde. Die bei weitem leichteste bestand darin, eine günstige Gelegenheit zu ähnlichem Treiben bewusst auszulassen. Für die härteste Variante, vorgesehen bei Vergehen, die der Tora zufolge als |22|todeswürdig anzusehen sind, musste sich der Penitent „Qualen, schwer wie der Tod“ unterziehen, um die Verletzung der himmlischen Sphäre zu sühnen.

 

AskeseIn Gebet, Studium der überlieferten Schriften und Buße bildete sich der Chassid zu einem von der Welt abgewandten Asketen heran, der nicht nach irdischen Gütern strebte, in Demut und Zurückhaltung jedwede Beleidigung und allerlei Spott stoisch ertrug und nicht auf seinem Recht bestand. Auch wenn es äußerlich nicht den Anschein hatte, so konnte der verachtete Fromme dennoch für sich in Anspruch nehmen, im Übermaß mit verborgenen Kräften und Kenntnissen ausgestattet zu sein. Tatsächlich verschafften ihm seine esoterischen (und durchaus auch magischen) Fähigkeiten das Bewusstsein dafür, der heimliche Herrscher der Welt zu sein.

Niemand ist ein Chassid, es sei denn er überwindet seine Eigenheiten [bRH 17b]. Wenn Leute zu ihm kommen, die gesündigt haben und ihn ungehörig behandelten, dann aber bereuen und von ihm Verzeihung erbitten […], auch wenn er dies sieht, dass es in seiner Macht steht, ihnen Böses anzutun oder ihnen Gleiches zu vergelten, dann verzeiht er ihnen von ganzem Herzen. Und er tut ihnen nicht übel – deshalb wird er ein Chassid genannt. […] Dies ist das Wesen der Chassidut: Man darf in keiner Sache nach dem strengen Sinn des Gesetzes handeln, wie gesagt ist (Ps 145,17): ‚Und ein Chassid in all seinen Taten‘. (Śefer Chassidim, § 11)

Wirkung der Chassidé AschkenasSowohl die beschriebene Bußpraxis als auch die besondere Aufmerksamkeit (Kawwana) für das Gebet sollten spätere Generationen von ‚Frommen‘ nachhaltig prägen. Kenntnisse über Lehre und Leben der Chassidé Aschkenas gelangten in die Provence und auf die Iberische Halbinsel, wo sie von denjenigen mystischen Zirkeln intensiv rezipiert wurden, die zu Trägern der Kabbala werden sollten. Auch auf mystisch gespeiste Strömungen des 16. und 17. Jahrhunderts übten die Frommen von Aschkenas großen Einfluss aus, so zum Beispiel auf führende Mitglieder der Gemeinschaft von Zefat (Safed) wie Mosche Cordovero (1522–1570), Schlomo Alkabez (1505–1584), Elija de Vidas (1518–1592), aber auch Jitzchak Luria (1534–1572). Gleiches gilt für den osteuropäischen Chassidismus und dessen unmittelbare Vorläufer, die sogenannten Chassidim alter Prägung („old-style-Hasidim“), von denen im Folgenden noch die Rede sein soll.

|23|2.4. In der philosophischen und ethischen Literatur des Mittelalters

Chassid und Zaddik in der philosophischen und ethischen LiteraturIn der ethischen und philosophischen Literatur des Hochmittelalters kann man einerseits die traditionelle Differenzierung beider Begriffe in durchschnittlich observante Juden (Zaddikim) und herausragend Fromme (Chassidim) beobachten. Andererseits werden beide Termini auch unspezifisch oder synonym gebraucht.

Bachja ibn Paquda (2. Hälfte des 11. Jh.) entwarf in seinem überaus populären ethischen Werk Chovot ha-Levavot (חובות הלבבות; Von den Pflichten des Herzens) einen Pfad zur persönlichen Vervollkommnung, der letztlich in die Liebe zum Ewigen und Gottesfurcht mündet. Wer durch moderate Askese und uneigennütziges Dienen am Ewigen und den Mitmenschen auf dem von Bachja beschriebenen Wege die größte Vollkommenheit erreicht, wird zumeist als Chassid charakterisiert, zuweilen jedoch auch als Zaddik bezeichnet. Mosche Maimonides (1135/38–1204) definiert in seinem großen talmudischen Kodex Mischné Tora (משנה תורה) die Angelegenheit folgendermaßen:

So soll ihn nur nach den Dingen gelüsten, die sein Körper nötig hat, und ohne die es ihm unmöglich ist [zu existieren]. In der Sache, da gesagt ist: ‚Ein Zaddik isst zur Sättigung seiner Seele‘ (Prov 13,25) Ebenso soll er in dem, was er [beruflich] tut, nur insoweit Anstrengung unternehmen, dass er dasjenige erreicht, dessen er zum Leben unmittelbar bedarf. In der Sache, da es heißt: ‚Das Wenige ist dem Zaddik gut‘ [Ps 37,16]. Ebenso verschließe er seine Hand nicht übermäßig und verschwende sein Vermögen nicht. Vielmehr gebe er Almosen entsprechend seiner Möglichkeit und verleihe dem Bedürftigen, wie es angemessen ist. Auch sei er nicht ausgelassen und [übermäßig] fröhlich, noch bekümmert und unzufrieden. Vielmehr freue er sich all seine Tage in Behagen und freundlicher Miene. So auch mit seinen übrigen Verhaltensweisen. Dieser Weg ist der Weg der Weisen. […] Wer es aber mit sich selbst sehr genau nimmt und etwas über die durchschnittliche Verhaltensweise in der einen oder anderen Beziehung hinausreicht, der wird Chassid genannt. Wie [das]? Wer sich von Hochmut fernhält bis zum entgegengesetzten Extrem und äußerst demütig ist, der wird Chassid genannt. Dies nämlich ist die Weise der Chassidut. Wer sich aber [vom Hochmut] nur bis zur Mitte fernhält und bescheiden ist, der wird ein Weiser genannt. (Hilkhot De’ot I, 4–5)

Für den aristotelisch geprägten Philosophen wäre der Goldene Mittelweg jedwedem frommen Extremverhalten entschieden vorzuziehen. In gewisser Weise betrachtet Maimonides den Chassid als eine desintegrierte Persönlichkeit: Keine der erstrebenswerten Verhaltensweisen eines Menschen sollte über ein vernünftiges Maß hinausreichen, nicht einmal die Demut.


Abb. 1: Ez Chajim mit den zehn Śefirot

|25|2.5. In der kabbalistischen Literatur

In der frühen KabbalaDer Śefer ha-Bahir (ספר הבהיר; etwa: Buch des Glanzes), der in der Provence des 12. Jahrhunderts erstmalig verbreitet wurde, bietet eine der frühesten Darstellungen eines Systems aus dem Ewigen emanierender Strukturen, der Śefirot (ספירות). Sie finden sich zu einer Art Baum hierarchisiert, der späterhin als Ez Chajim (עץ חיים; Baum des Lebens) bezeichnet werden sollte. Die neunte dieser zehn Śefirot, Jessod (יסוד; Basis, Fundament), wird mit dem Zaddik identifiziert. Dies reicht in die Hebräische Bibel (Prov 10,25) zurück, wo es heißt: „Der Gerechte ist ein ewiger Grund (jessod)“ bzw. „Der Gerechte ist das Fundament (jessod) der Welt.“

Der Bahir erläutert dazu unter Rückgriff auf talmudische Aussagen (bChag 12b; bJoma 38b):

Es wird gelehrt: Eine Säule [reicht] vom Land bis zum Firmament und ‚Zaddik‘ ist ihr Name. Aufgrund des Begriffs der Zaddikim – denn wenn es Zaddikim in der Welt gibt, dann wird [die Säule] gestärkt, und wenn nicht, dann wird sie geschwächt. Und sie trägt die ganze Welt, wie geschrieben ist [Prov 10,25]: ‚Der Zaddik ist das Fundament der Welt‘. Wenn sie schwach ist, dann kann die Welt nicht bestehen. Daher: Sogar, wenn es nur einen Zaddik in der Welt [gibt], dann lässt Er die Welt bestehen, wie gesagt ist: ‚Und der Zaddik ist das Fundament der Welt.‘ [ibid.] (Bahir 44,11a)

Der Begriff Chassid findet sich in der frühen kabbalistischen Literatur hingegen kaum explizit erläutert. Immerhin werden einige der Exponenten der frühen provençalischen Kabbala von ihren Schülern als Chassid tituliert. Dazu gehören Rabbi Jitzchak der Blinde (Anfang des 13. Jh.), der als einer der ‚Urväter‘ der Kabbala gilt, oder Jakob ha-Levi he-Chassid (13. Jh.). Wie bei den Chassidé Aschkenas, so könnte auch bei ihnen deren asketischer Lebensstil zu diesem Ehrentitel beigetragen haben.

Asri‘el von GeronaErst Asri’el von Gerona (ca. 1160–1238), der Schüler Isaaks des Blinden, weist auf eine naheliegende terminologische Analogie hin, nämlich die zwischen der vierten Śefira, Chessed (חסד), und den Chassidim:

In Verbindung mit diesem Attribut (Tif’eret) bezieht es sich auf diejenigen, die es empfangen, die Zaddikim genannt werden, weil sie über die Kraft von Zedek (Malkhut) und Zedaka (Tif’eret) verfügen; und es bezieht sich auf die Aufrechten (Jescharim), die von der Kraft des strengen Gerichts herkommen, das man Joscher nennt (d.i., Gevura oder Malkhut); und es bezieht sich auf die Chassidim, die von Chessed empfangen. (Asri’el von Gerona, Perusch ha-Tefillot, zitiert nach Tishby, Wisdom, S. 1411)

Asri’el entwirft in seinem Kommentar zu den Gebeten eine Rangfolge von drei lobenden Attributionen, die er jeweils einer der Śefirot zuordnet. Dabei wird der Zaddik auf die zehnte (מלכות/|26|Malkhut oder שכינה/Schekhina) bzw. sechste (תפארת/Tif’eret) Śefira bezogen, der „Aufrechte“ (יושר/Joscher) auf die fünfte (גבורה/Gevura oder דין/Din) bzw. die zehnte und schließlich der Chassid auf die vierte (Chessed oder רחמים/Rachamim) und somit höchste der genannten Manifestationen des Ewigen.

Was auf den ersten Blick wie eine klare Rangfolge aussieht, lässt jedoch bei näherem Hinsehen jede spezifische Qualifikation vermissen. Dies sollte als absolut typisch für die Art und Weise gelten, wie die Tradition mit der scheinbar so klaren Begrifflichkeit umgeht: Verwendung und Darstellung der Termini sind völlig von den Grundtexten abhängig, die gerade kommentiert werden – in diesem Fall ein Abschnitt aus der Neujahrsliturgie. Weitreichende Schlussfolgerungen, etwa im Sinne einer klaren Überordnung des Chassid über den Zaddik, sollte man besser nicht anstellen.

Zaddik und Chassid im SoharGleiches gilt für das Hauptwerk der klassischen Kabbala, den Sohar und seine „Satelliten“ (Midrasch ha-Ne’elam, Tiqquné Sohar, Sohar Chadasch etc.). Diese Textgruppe wird auf den Zirkel der kastilischen Kabbalisten um Mosche de León (ca. 1250–1305) zurückgeführt. Der im Sohar weitaus häufiger verwendete generische Begriff für einen vorbildlichen Menschen ist der des Zaddik. Er wird verhältnismäßig (!) konstant mit der Śefira Jessod (IX) verknüpft. Im anthropologischen Symbolsystem des Sohar kann Jessod mit dem männlichen Geschlechtsorgan des Adam Qadmon (אדם קדמון), des präfigurierten Urmenschen, identifiziert werden und dieses wiederum mit dem Bund der Beschneidung. Daraus ergibt sich – im ethischen Symbolsystem – die Kardinaltugend der Keuschheit, für die wiederum der biblische Joseph als ideale Verkörperung gilt (vgl. Sohar II, 23a).

Seltener äußern sich soharische Traditionen zum Chassid (beispielsweise I, 39a; II, 129b–130b; III, 145a.b), und dies noch dazu mit recht unterschiedlichen Perspektiven und Ergebnissen. Im Grunde bleibt dem Beobachter nichts anderes übrig, als sich der Einschätzung Isaiah Tishbys anzuschließen, wenn er konstatiert:

Es ist mir nicht gelungen, zu mehr als nur vagen Schlussfolgerungen der dürftigsten Art zu kommen. Es trifft zu, dass der Autor des Sohar an wenigen Stellen eine Unterscheidung zwischen Zaddik und Chassid vornimmt, und in diesen Fällen den Chassid eher zufällig auf einen höheren Rang hebt. Er macht sich aber nirgends die Mühe, die Charakteriska der Chassidut zu erklären oder ein genaueres Bild vom Idealtypen eines Chassid zu etablieren. […] Generell bedeutet Chassidut, wenn es überhaupt erwähnt wird, individuelle Vollkommenheit in Bezug auf Moral und gute Taten, wohingegen die hauptsächlichen Qualitäten anderer Art – nämlich mystische Wahrnehmungsfähigkeit und Betätigung einerseits und Führungskraft beim inneren und praktischen Leben andererseits – einen weitaus prominenteren |27|Platz im Sohar einnehmen und beinahe ausschließlich mit dem Zaddik assoziiert werden. (Tishby, Wisdom, S. 1416)

Diese Verwendung der beiden Begriffe, so vorsichtig sie auf den gesamten soharischen Korpus ausgedehnt werden mag, deutet schon auf ihren spezifischen Gebrauch innerhalb des osteuropäischen Chassidismus hin.