Chassidismus

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2.6. Bei den Kabbalisten von Zefat/Safed

Die Kabbalisten von ZefatIm reichen Schrifttum der Kabbalisten von Zefat um Cordovero, Luria oder Chajim Vital (1543–1620) begegnet man dem Zaddik ebenfalls bei weitem häufiger als dem Chassid. Dies hängt vermutlich mit den vielfältigen Identifikationen zusammen, die sich vor allem an Jessod-Zaddik heften. Neben den kosmologischen, anthropologischen und Seelenwanderungs-Meditationen (vgl. beispielsweise Ez Chajim, Scha’ar 38,3) finden sich jedoch einige dezidiert ethische Ausführungen, die begriffliche Unterscheidungen zwischen Zaddikim und Chassidim enthalten. Hierbei muss wieder daran erinnert werden, dass es sich um punktuelle Beschreibungen handelt, die keineswegs für alle oder auch nur für einen Großteil der Texte repräsentativ sind. Die folgende Begriffsbestimmung entstammt immerhin den Scha’aré Qeduscha (שערי קדושה; Tore der Heiligkeit; 1734 erstmals gedruckt) des Chajim Vital, einer Art Anleitung zur persönlichen Vervollkommnung, die zu den populären Klassikern der kabbalistischen Literatur gehört.

Allgemein ist festzuhalten, dass derjenige, der die Einhaltung der 613 Gebote [bewerkstelligt], indem er sich als stärker erweist als der Böse Trieb, der im Menschen ist, Zaddik genannt wird. Wer sie aber einhält, indem er den Bösen Trieb nichtet, sodass dieser den Erwerb der guten Eigenschaften in vollkommener Weise lehren kann, siehe, dieser wird vollendeter Chassid genannt. (Chajim Vital, Scha’aré Qeduscha I,3)

Als eine einzigartige Gemeinschaft von Gelehrten legten die Kabbalisten von Zefat größten Wert auf gelebte Frömmigkeit. In der nordgaliläischen Stadt entstanden etliche Bruderschaften (חבורות/Chavurot), die sich verstärkt bestimmten Aspekten des spirituellen Lebens kabbalistischer Prägung widmeten. Eine Reihe der großen Persönlichkeiten Zefats übten und empfahlen asketische Praktiken wie die Enthaltsamkeit von Wein und Fleisch, Fasten, mitternächtliches Gebet und sogar Geißelungen. Die in jenen Chavurot gepflogene Frömmigkeit verbreitete sich durch ihre Hanhagot (הנהגות), schriftliche Ordnungen, die oft von den Safeder Meistern wie Mosche Cordovero oder Abraham Galante (starb 1560) persönlich |28|verfasst worden waren. Mittels der zahlreichen durch Cordovero oder Luria inspirierten ethischen Werke beeinflusste die Gemeinschaft von Safed die ab dem 17. Jahrhundert zahlreich entstehenden kabbalistischen Zirkel in Zentral- und Osteuropa.

Die Gelehrten des obergaliläischen Zefat schufen als Exponenten einer kabbalistisch inspirierten Gemeinschaft Denkmodelle und Lebensformen, die im osteuropäischen Chassidismus aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Dazu gehören unter anderem Konzepte zur Einbeziehung einfacher Gläubiger in das Gefüge einer komplexen Spiritualität. So vertraten sowohl Schlomo Alkabez wie auch sein Schüler Mosche Cordovero die Auffassung, ein Schüler oder einfacher Mensch könne sich an seinen Lehrer oder einen Gelehrten heften und dadurch einen spirituellen Aufstieg erfahren (z.B. Cordovero, Schi’ur Qoma, fol. 85b–86a; vgl. Sack, Ijjun, S. 226–231). Die chassidischen Meister sollten dies sukzessive zu einer Lehre der normativen Mittlerfunktion des Zaddik ausbauen und transformieren.

[Zum Inhalt]

|29|3. Die Vorgeschichte: Jitzchak Luria und die Chassidim ‚alter Schule‘

Etkes, Immanuel, The Besht: Magician, Mystic, and Leader, Hanover, London 2005, S. 7–45.

Grözinger, Karl Erich, Wundermann, Helfer und Fürsprecher. Eine Typologie des Ba’al Schem in aschkenasisch-jüdischen Volkserzählungen, in: Idel, Moshe/Grafton, Anthony (Hg.), Der Magus – Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, Berlin 2001, S. 167–192.

Hundert, Gershon D., Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century: A Genealogy of Modernity, Berkeley, Los Angeles 2006.

Idel, Moshe, Hasidism: Between Ecstasy and Magic, Albany 1995.

Ders., Jewish Magic from the Renaissance Period to Early Hasidism, in: Neusner, Jacob u.a. (Hg.), Religion, Science, and Magic: In Concert and in Conflict, New York, Oxford 1989, S. 82–117.

Nigal, Gedalyahu, Magic, Mysticism, and Hasidism: The Supernatural in Jewish Thought, Northvale 1994.

Der osteuropäische Chassidismus speist sich wesentlich aus Impulsen, die er aus der Lehre und der gelebten Spiritualität der kabbalistischen Gemeinschaft von Zefat empfing. Die Kunde von der neuen, faszinierenden Form der Kabbala verbreitete sich etwa ab Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa und dem Osmanischen Reich. Zunächst geschah dies in der Form von Erzählungen über Jitzchak Luria und seinen Schülerkreis. Ein sehr früher dieser zunehmend hagiographisch gefärbten Berichte geht auf den böhmischen Juden Schlomo ben Chajim Meinsterl von Dresnitz zurück, der im Jahre 1602 nach Zefat emigrierte und zwischen 1607 und 1609 vier umfangreiche Briefe in die alte Heimat sandte. In ihnen teilte er seine Erkenntnisse über das wundersame Wirken Lurias mit. Später wurden sie als Schivché ha-Ar“i (שבחי האר״י; Preisungen des Ar“i) kopiert und gedruckt.

3.1. Die Verbreitung der lurianischen Kabbala

Verbreitung der Lehren LuriasIn der Folgezeit verfassten Mitglieder des Safeder Schülerkreises Darstellungen der Konzepte Cordoveros und Lurias. Zu diesen gehören die Werke Chajim Vitals, Joseph ibn Tabuls (geb. um 1545) oder Israel Sarugs (um 1600). Obwohl Luria, mindestens nach Auskunft Chajim Vitals, die Weitergabe seiner Lehre untersagt haben soll, fand diese bald größere Verbreitung als jedes andere kabbalistische System zuvor. Die Produktion lurianisch inspirierter |30|Werke explodierte ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geradezu: Enzyklopädisch angelegte Neue kabbalistische LiteraturWerke, Sammlungen von Homilien, Kommentare zu den Gebeten, ethische Schriften (מוסר/Mussar) und Ratgeberliteratur (הנהגות/Hanhagot) konfrontierten die jüdische Leserschaft mit Safeder Theorie und Praxis, wie sie von zeitgenössischen Autoren verstanden und auf deren kulturelle Kontexte angewendet wurde.

Als paradigmatisch für jene Literatur können die Sch’né Luchot ha-Berit (שני לוחות הברית) des Jesaja Horowitz (1565–1630) gelten. Das erstmals im Jahre 1649 gedruckte enzyklopädische Werk enthielt kabbalistisch inspirierte Kommentare zur Tora ebenso wie Homilien, Traktate zu ethischen Themen, Erklärungen zur spirituellen Bedeutung von Geboten, Gebetstexten und Ritualen. Es übte einen immensen Einfluss auf die gelehrten Eliten Europas aus.

Das Eindringen kabbalistischer Konzepte in breitere Schichten der Bevölkerung verursachte eine tiefgreifende Veränderung des spirituellen Wertesystems. Jede Einzelheit der tradierten Riten und Gebote erlangte durch ihre Verbindung mit den umfassenden kosmologischen und anthropologischen Konzepten quasi universale Bedeutung. Wer mit der passenden Ausrichtung und Konzentration (Kawwana) an die Umsetzung der Liturgie, Bräuche und Vorschriften ging, konnte sich deren Wirkung auf die himmlischen Sphären sicher sein. Zugleich entwickelten bereits der Zirkel von Zefat und später seine Multiplikatoren (wie eben Horowitz) neue, kabbalistisch inspirierte Rituale und Gebrauchstexte, die das jüdische Leben prägen und verändern sollten.

Lurianisch inspirierte KabbalistenkreiseIn vielen Orten Zentral- und Osteuropas, wie zum Beispiel in Brody, Ostróg, Opatów, Brzesc Litewski (Brest-Litowsk), Lemberg oder Wilna, bildeten sich kleine kabbalistische Zirkel, deren Mitglieder sich als B’né Alija (בני עליה) oder als Chassidim bezeichneten (vgl. Hundert, Jews in Poland, S. 120). Sie versammelten sich in abgesonderten Räumen, sogenannten Kloysen, zum Gebet nach sefardischem Ritus oder zum Studium kabbalistischer Texte. In bewusster Abgrenzung von ihrer aschkenasischen Umgebung verwendeten sie das Gebetbuch Jitzchak Lurias (נוסח האר״י/Nusach ha-Ar“i) und kehrten somit ihrer liturgischen Heimat gewissermaßen den Rücken.


Abb. 2: Jüdische Gemeinden in Polen-Litauen im Bereich des Vier-Länder-Wa’ad

|32|3.2. Die Übernahme von Riten der Gemeinschaft von Zefat

Neue RitenMit gleicher Hingabe griffen jene Chassidim auch die erwähnten, in Zefat neu entwickelten Bräuche auf, was letztlich zu einer Vertiefung der Unterschiede zwischen ihnen und der traditionell orientierten Mehrheit in Zentraleuropa führte. So bevorzugten sie, wie die Anhänger Lurias, das Tragen weißer Kleidung am Schabbat. Die dritte Mahlzeit des Schabbat (סעודה שלישית/Śe’uda Sch’lischit; vgl. Weiß, Circle, S. 31–34), im Norden Europas wegen der des Winters früh hereinbrechenden Dunkelheit oft kaum rituell elaboriert, sowie das Essen direkt nach dem Abschluss des Schabbat, die Melawé Malka (מלווה מלכה), erfuhren bei ihnen entscheidende Aufwertung. Hinsichtlich der Kaschrut, insbesondere bei der Schächtung von Tieren, übten sie überaus genaue Observanz. Um sicher zu gehen, dass bei der Schlachtung tatsächlich nur geschnitten und nicht, wegen etwaig schartiger Geräte, auch „gerissen“ wurde, verwendeten sie ausschließlich sogenannte „überscharfe“ Messer. Die Zaddikim um den Ba’al Schem Tov und dessen Nachfolger behielten diese Praxis bei.

BußpraxisNeben den besonderen Riten in Gebet und den neuen Bräuchen während der Festtage zeichneten sich die Frommen lurianischer Prägung durch zahlreiche und intensiv geübte Bußpraktiken aus. Derlei Phänomene waren in elitären und esoterischen jüdischen Gruppen seit dem Mittelalter häufiger zu beobachten: Man denke nur an den ausgefeilten Bußkatalog der Chassidé Aschkenas (vgl. S. 21–22). Nach dem Untergang des Judentums auf der Iberischen Halbinsel und den massenhaften Konversionen der dortigen Bevölkerung zum Christentum wandten sich viele Juden mit großer Hingabe asketischen Übungen zu. Insbesondere an der Gemeinschaft von Zefat lässt sich ein von Umkehr und Reinigung geprägtes spirituelles Leben geradezu idealtypisch verfolgen.

 

An jedem Tag, drei Stunden vor Anbruch des Tages, begaben sich die Gemeinschaften der Erwählten in die Synagogen und lernten dort in Abgeschiedenheit. Einer, der dort in Zefat war, möge es bald erbaut und errichtet werden in unseren Tagen, dessen Name war der Herr und Meister, Herr Abraham Halevi, sein Andenken sei zum Segen. […] Jedes Mal zu Mitternacht stand er auf und durchstreifte die Straßen und erhob seine Stimme und schrie mit bitterer Stimme: Steht auf, zur Ehre des Ewigen, Er sei gepriesen, denn die Schekhina weilt im Exil und das Haus Unserer Heiligkeit ward im Feuer verbrannt und Israel steckt in großer Bedrängnis! Diese vielen Worte verkündete er und jeden einzelnen Gelehrten rief er beim Namen und er wich nicht vom Fenster, bis dass er sah, dass derjenige schon von seinem Bett aufgestanden war. Und zur ersten Stunde wurde die ganze Stadt erfüllt von den Stimmen derer, die Mischna, Sohar oder die Midraschim der Weisen studierten, oder von Psalmen und Propheten, von |33|Hymnen oder von Bitten um Erbarmen. (Aus einem Brief des Schlomo ben Chajim Meinsterl von Dresnitz; vgl. Avraham Ja’ari, Igg’rot, S. 205)

Noch einen anderen Brauch pflegte der Chassid [Abraham Halevi Berukhim]: Er ging auf die Märkte und Straßen und verkündete die Bußumkehr. Und er versammelte Ansammlungen von Bußwilligen im Lehrhaus der Babylonier. Und dort sagte er ihnen: Was ihr von mir seht, das tut! Und er stieg in einen Sack hinein und gebot ihnen, ihn durch das ganze Lehrhaus zu ziehen, damit er gedemütigt würde und seinen [bösen] Trieb erniedrige. Danach gebot er, dass sie ihn mit Steinen steinigen sollten. Und er hatte dort Steine von anderthalb Litra Gewicht. Und sie steinigten ihn mit all diesen Steinen. Danach kam er aus dem Sack heraus und man bereitete ihm ein Bett aus Nesseln, die brannten auf dem Fleisch wie Feuer, die nennt man Bre“n-Nes’iln. Und er zog seine Kleidung aus und streckte sich nackt auf den Nesseln aus. Und er rollte auf ihm herum, bis dass sein Fleisch voll Pusteln war. (Schivché ha-Ar“i, Benayahu, Tol’dot, S. 226–227)

Asketische PraktikenZu den rigorosen Praktiken, die von den obergaliläischen Kabbalisten bis in die östlichsten Ecken Europas vorgedrungen waren, gehörte das sogenannte Wochenfasten, bei dem man nur am Schabbat etwas anderes als ein wenig Brot und Wasser zu sich nahm, das todesmutige Ertragen von Schmerzen oder Kälte und schließlich die „Galut-Wanderung“. Bei letzterer handelte es sich um ein imitatives Nachvollziehen des Exils (גלות/Galut) der Schekhina. Wie die Schekhina, die Präsenz des Ewigen, seit der Zerstörung des Tempels gewissermaßen heimatlos auf Erden herumstreifte, so sollte der Fromme von Ort zu Ort ziehen, ohne – Schabbat und Festtage ausgenommen – länger als eine Nacht irgendwo zu verweilen.

Ein Paar Beispiele hiervon, wovon ich selbst Augenzeuge war, werden hinreichend seyn, die Sache genugsam zu bestätigen. Ein wegen seiner Frömmigkeit damals bekannter jüdischer Gelehrter, Simon aus Lubtsch, der schon die Tschubath hakana (die Buße des Kana) ausgeübt hatte, welche darin besteht, daß er sechs Jahre täglich fastet, und alle Abend nichts von alledem, was von einem lebendigen Wesen herkömmt (Fleisch, Milchspeisen, Honig und dergl.), genießt, Golath [Galut], d.h. eine beständige Wanderung, wo man nicht zwey Tage an einem Ort bleiben darf, gehalten, und einen haarnen Sack auf dem bloßen Leib getragen hatte, glaubte noch nicht genug zur Befriedigung seines Gewissens getan zu haben, wenn er noch nicht Tschubath h[a]mischkal (die Buße des Abwägens), d.h. eine partikuläre, jeder Sünde proportionierten Buße, ausüben werde. Da er aber nach Berechnung gefunden hatte, daß die Anzahl seiner Sünden zu groß sey, als daß er sie auf diese Art abbüßen könnte, so ließ er sich einfallen, sich zu Tode zu hungern. Nachdem er schon einige Zeit auf diese Art zugebracht hatte, kam er auf seiner Wanderung an den Ort, wo mein Vater wohnte, und ging, ohne daß jemand im Hause etwas davon wußte, in die Scheune, wo er ganz ohnmächtig auf den Boden fiel. Mein Vater kam zufälligerweise in die Scheune und fand diesen Mann, der ihm schon längst bekannt war, mit einem Sohar in der Hand […] halb todt auf dem Boden liegen. […] Simon [der die wiederholten Bitten von Maimons Vater, doch |34|etwas zu essen, zurückwies] strengte alle seine Kräfte an, machte sich auf, ging aus der Scheune und endlich aus dem Dorfe. Als mein Vater abermals in die Scheune kam, und den Mann nicht mehr fand, lief er ihm nach und fand ihn nicht weit hinter dem Dorfe todt liegen. Die Sache wurde überall unter der Judenschaft bekannt, und Simon ward ein Heiliger. (Salomon Maimon’s Lebensgeschichte, S. 182–184)

Das Studium esoterischer Schriften und das Gebet nach lurianischem Ritus in den Kloysen, insbesondere aber die asketischen Praktiken sorgten für eine Abgrenzung der Asketen von ihrer Umgebung, auch wenn sie selbst ihr Tun als spirituellen Dienst an der gesamten jüdischen Gemeinschaft interpretierten.

3.3. Ba’alé Schem und die praktische Kabbala

Während die meisten Kabbalisten den Weg asketischer Frömmigkeit und der Isolation gingen […], verbanden die Ba’alé Schem die Massen mit den zurückgezogen lebenden Chassidim. (Hundert, Jews in Poland, S. 142)

Praktische KabbalaKabbalistische Traditionen verbreiteten sich jedoch nicht nur unter den Eliten in ihren abgeschlossenen Zirkeln und Kloysen. Durch die „praktische Kabbala“ (Kabbala Ma’assit/קבלה מעשית) kamen auch breitere Schichten der Bevölkerung in Kontakt mit ursprünglich esoterischen Denkmustern. Diese Entwicklung begann, in jeweils charakteristischen Formen, im Spanien des 15. Jahrhunderts (vgl. Josef della Reina, 1418–1472) und im Italien der Renaissance (vgl. Jochanan Alemanno, ca. 1435 bis nach 1504). Unter dem Einfluss der Verfolgung der jüdischen und muslimischen Minderheit (Spanien) bzw. der Wiederentdeckung spätantiker neoplatonischer und hermetischer Texte (Italien) kam es zu einer Aufwertung magischen Handelns innerhalb kabbalistischer Kreise. Von der harschen Kritik insbesondere an den magischen Versuchen della Reinas, den Messias durch magische Techniken herbei zu zwingen, blieb die Grundidee, kabbalistisches Wissen zur Einflussnahme auf göttliche Sphären zu nutzen, unbeschadet. Mosche Cordovero beispielsweise, kurzzeitig Lehrer und Mentor von Jitzchak Luria, hielt ebenso an ihr fest wie zahlreiche andere einflussreiche Mystiker.

Ba’al SchemNatürlich sind etliche der ab dem 14. Jahrhundert in die Kabbala Ma’assit eingebundenen Verfahren – wie die Abwehr von Dämonen durch Amulette oder Medikationen, die magischen oder mantischen Beschwörungen höherer Mächte zum Zwecke der Rettung und Heilung – viel älter als die mittelalterliche Esoterik und stellen zudem kulturelle Universale dar. Die etwa seit dem 13. Jahrhundert in Zentraleuropa anzutreffenden Ba’alé Schem (sing.: Ba’al Schem/|35|בעל שם; Meister des Heiligen Namens) waren die Erben spätantiker mystischer Traditionen, welche ihre wirkmächtige Kraft unter anderem aus Meditationen von Heiligen Namen des Ewigen (Schemot/שמות) und den Buchstaben des hebräischen Alphabets bezogen. In der Forschung (vgl. Grözinger, Wundermann, S. 170–171) werden mitunter nicht weniger als sieben verschiedene Typen dieser Ba’alé Schem identifiziert, wie sie in der jüdischen Erzählliteratur sichtbar werden.

Einfluss der lurianischen KabbalaSeit Ende des 17. Jahrhunderts entwickelte sich der Personenkreis, der sich regelmäßig mit ‚praktischer Kabbala‘ befasste, zu einem angesehenen, von der Bevölkerung intensiv nachgefragten Berufsstand und infolgedessen zu einem häufig anzutreffenden Phänomen. Die Anzahl der noch heute namentlich bekannten Ba’alé Schem begann ab jener Zeit signifikant zu steigen. Unter dem Einfluss der lurianischen Kabbala kam es außerdem zu einer Art Spiritualisierung dieser Profession, da der diagnostische Prozess wesentlich als eine prophetische Aufdeckung von individueller Sünde und Unreinheit verstanden wurde. Vorbild und Modell dieser Art der charismatisch begabten Retter und Heiler war Jitzchak Luria selbst, dessen außergewöhnliche Fähigkeiten von seinem Schüler Chajim Vital folgendermaßen beschrieben wurden:

[Dies ist,] was ich tatsächlich mit meinen eigenen Augen sah: Wunderbare und wahrhafte Dinge sind es. Er wusste eine künftige Seele [aus den Oberen Gefilden] vor sein Antlitz herabzuziehen – sei es, von den Lebenden oder von den Abgeschiedenen, von den frühen oder von den späteren [Gelehrten]. Er befragte sie ganz nach seinem Willen über Erkenntnisse des Künftigen oder über Verborgenes der Tora. Auch offenbarte sich ihm Elija, der Prophet, sein Andenken sei zum Segen, und lehrte ihn. Ebenso kannte er sich mit den Buchstaben der Stirn [Metoposkopie] aus und mit der Lehre des Antlitzes [Physiognomie]. Oder mit den Lichtern, die es auf der Haut des menschlichen Körpers gibt. Oder mit den Lichtern in den Haaren. Und mit dem Zwitschern der Vögel. Und mit den Gesprächen der Palmen und Bäume und Kräuter. Und sogar mit dem Gespräch der unbelebten Materie, wie gesagt ist: ‚Ein Stein schreit aus der Mauer.‘ etc. (Hab 2,11a) Und mit dem Gespräch der Feuerflamme. Und der Flamme von Kohlefeuer. Er sah die Engel, die in der Welt alle Ankündigungen ankündigen – wie bekannt – und sprach mit ihnen. Und er war vertraut mit allen Kräutern und mit ihren wahrhaften Heilwirkungen. Und wie diese wäre noch vieles, was man nicht aufzählen kann. Man würde diese [Dinge] nicht glauben, wenn man sie erzählt bekommen würde – was aber meine Augen gesehen haben und nichts Fremdes, schrieb ich wahrhaftig. (Vital, Scha’ar Ru’ach Qodesch, S. 19)

Die meisten der Ba’alé Schem waren – genau wie ihre asketischen Gegenpole – gelehrte Männer. Man schrieb ihnen die Fähigkeit zu, sich des Unaussprechlichen Namens des Ewigen bedienen zu können (daher: Ba’al Schem), um die Himmlischen Segensströme herunterzuführen |36|und die dämonischen Kräfte der Anderen Seite (סיטרא אחרא/Śitrá Achrá) von den Menschen fernzuhalten. Praktiken der Ba‘alé SchemNeben der Durchführung wirkungsvoller Exorzismen und dem Anfertigen von Amuletten gehörten (heilpraktische) Medikationen, wirkmächtige Gebete, Beschwörungen oder mantische Fähigkeiten wie Metoposkopie und Chiromantik zum Standardrepertoire dieser Experten. Sie wurden nicht nur bei physischen Problemen konsultiert, sondern wirkten, soweit es ihre oft ortsunabhängige Tätigkeit zuließ, auch als spirituelle Führungspersönlichkeiten.

Etliche der Ba’alé Schem legten ihr Wissen auch schriftlich nieder, sodass vor allem im 18. Jahrhundert eine ganze Reihe äußerst einflussreicher Handbücher der Kabbala Ma’assit ihren Weg in die Druckerpressen fanden. Zu diesen Werken gehören beispielsweise der Śefer Amtachat Binjamin (ספר אמתחת בנימין, Wilhermsdorf 1716), der Śefer Tol’dot Adam (ספר תולדות אדם, Zolkiew 1720) des bekannten Ba’al Schem Jo’el Heilprin von Ostróg (starb 1713), und der Śefer Schem Tov qatan (ספר שם טוב קטן, Zolkiew 1781) des Benjamin Beinisch Ba’al Schem Tov ben Jehuda Leib ha-Kohen von Krotoszyn (ca. 1670 bis ca. 1725).