Chassidismus

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Exkurs: Konkurrierende kabbalistische Studienzirkel im Umfeld des Besch“t

Pinchas von KorzecPinchas von Korzec, geboren in Szkłów, entstammte einer angesehenen Gelehrtendynastie. Er hatte demzufolge in weiten Teilen der jüdischen Tradition eine sorgfältige Ausbildung erfahren. Pinchas ließ sich im wolhynischen Korzec nieder, wo er einen Schülerkreis um sich sammelte, der sich dem Studium der rabbinischen und kabbalistischen Tradition und einer heiligen Lebensführung verschrieb. Es heißt, dass er durch seinen Vater, Abraham Abba Schapiro, auf den Ba’al Schem Tov aufmerksam wurde, der ihn von seiner extrem asketischen Lebensführung abbrachte (vgl. Etkes, Besht, S. 191). Angesichts der Tatsache, dass sich beide Männer nur etwa zwei bis drei Male begegneten, scheint es nicht angemessen, von einer Lehrer-Schüler-Beziehung zu sprechen. Die beiden waren eher Kollegen, die einige wesentliche Grundsätze kabbalistischer Lebensführung und Lehre teilten (Weiß, Studies, S. 8). Auch nach |46|dem Tode des Besch“t wirkte Pinchas weiter als charismatische Integrationsfigur eines kabbalistischen Zirkels. Bezeichnender Weise steht am Lebensende des Pinchas von Korzec dessen Entschluss, eine Pilgerfahrt nach Zefat zu unternehmen. Dies Projekt konnte er allerdings nicht mehr realisieren: Er starb kurz nach Antritt der Reise im wolhynischen Szepetówka.

Nachman von KosóvNachman von Kosóv, wie der Ba’al Schem selbst ein Mitglied des Zirkels von Kutów, war anders als die meisten seiner Kollegen ein wohlhabender Mann, ein erfolgreicher Getreidehändler. Wie Pinchas von Korzec oder Jakob Josef von Połonne, kultivierte er eine strenge Askese nach lurianischem Vorbild. Neben seiner Tätigkeit als Geschäftsmann wirkte er als Wanderprediger (Maggid). Wie Pinchas, so soll auch Nachman einen eigenen kabbalistischen Zirkel um sich geschart haben. Dieser habe sich als Chavura Qadischa (חבורה קדישה; Heilige Genossenschaft) bezeichnet (Weiß, Circle, S. 27). Ihre Mitglieder galten einander als B’né Chavura Qadischa (בני חבורה קדישה; Söhne der Heiligen Genossenschaft) bzw. Ansché ha-Chavura (אנשי החבורה; Männer der Genossenschaft). Verschiedentlich ist von Spannungen die Rede, die es zwischen ihm und dem Besch“t gegeben haben soll. Die Schivché ha-Besch“t, die Nachman (wie anderen führenden Mitgliedern des kabbalistischen Zirkels von Kutów) einen eigenen kleinen Zyklus von Legenden widmen, heben sein außerordentlich machtvolles Gebet hervor (vgl. Grözinger, Geschichten I, S. 117–118).


Abb. 3: Das Entstehungsgebiet des Chassidismus

Der Besch“t als Begründer des Chassidismus?Der Ba’al Schem Tov wird also gerade nicht als unbestrittenes Haupt eines ungewöhnlichen Kreises von Kabbalisten greifbar. Er profilierte sich kaum als eine rebellische Lichtgestalt, sondern erwies sich eher als eine in das bestehende System gut integrierte Person. Um so dringlicher stellt sich die Frage, inwiefern man die Entstehung einer derart revolutionierenden Strömung, wie sie der osteuropäische Chassidismus gewesen ist, auf ihn zurückführen kann.

Gewöhnlich wird in diesem Kontext auf die außerordentliche charismatische Ausstrahlung des Israel ben Eli’eser verwiesen, welche Menschen in ihren Bann schlug, die aus weit angeseheneren Familien stammten und zudem anerkannte Mitglieder der gelehrten Elite darstellten (Etkes, Besht, S. 78). Denkbar wäre auch, dass der Ba’al Schem Tov ungewöhnliche Fähigkeiten als Heiler und Exorzist an den Tag legte. Vereinzelt finden sich in der Tat – auch außerhalb der Legenden – Hinweise darauf, dass sich gestandene Chassidim alter Schule dem Ba’al Schem Tov anschlossen, weil er über besondere spirituelle Gaben verfügte. Man schrieb ihm die Fähigkeit zu, Einsichten über himmlische Sphären zu vermitteln. Als sein Proprium galt das ekstatische Gebet, das dem Besch“t als Mittel zu Seelenaufstiegen gedient haben soll (Etkes, Besht, S. 122–151). |47|In dieser Weise äußerte sich etwa Schlomo von Lutsk (starb 1813), ein Schüler des Dov Ber von Międzyrzecz, in seinem Vorwort zu den von ihm herausgegebenen Predigten seines Meisters:

Bis dass sich der Ewige über uns erbarmte und das Licht Jisra’els leuchten ließ – d.i. des Heiligen göttlichen Meisters, des Lehrers und Meisters Israel Besch“t und seiner heiligen Schüler, welche sich mit dem Staube seiner Füße bedeckten, durstig seine Worte zu trinken als Worte des lebendigen Gottes. Denn er offenbarte uns die teure Quelle des Glanzes [Tif’eret] dieser Weisheit [Chokhma] über jedes einzelne Detail, jedes Häkchen der Prozesse in der Oberen Welt und deren Einheit mit der Unteren Welt – in allen Bewegungen, im Wandel, in Wort und Werk. […] Und ich [Schlomo] |48|hörte aus seinem [des Dov Ber von Międzyrzecz] heiligen Mund: Was verwundert es dich, dass er [der Besch“t] Erscheinungen Elijas und noch andere sehr hohe spirituelle Ränge hatte? […] Und einmal hörte ich aus seinem heiligen Mund, dass der Besch“t, sein Andenken sei zum Leben in der Kommenden Welt, ihn gelehrt habe, mit Vögeln und Palmen zu kommunizieren etc. Auch lernte er mit ihm die arkane Bedeutung der heiligen [Gottes-]Namen und Jichudim […] und er sagte ihm Erklärungen für jeden Buchstaben. (Maggid Devaraw, S. 2)

EinigeCharismatische Fähigkeiten der dem Ba’al Schem Tov gewissermaßen vom Schüler des Schülers zugeschriebenen spirituellen Fähigkeiten, wie etwa die Konversation mit Vögeln und Bäumen, erinnern sehr an Chajim Vitals Eloge auf Jitzchak Luria oder repräsentieren hagiographisches Gemeingut. (Zumindest denkt man bei wolhynischen Bäumen, deren Sprache man erlernen könnte, nicht zwingend zuerst an Palmen.) Andererseits, historisch oder nicht, lassen sie den überragenden charismatischen Rang erkennen, den man im unmittelbaren Umfeld des gelehrten Dov Ber dem Besch“t beimaß.

Ablehnung der AskeseAuf relativ sicherem Terrain befindet man sich hingegen bei der deutlichen Ablehnung asketischer Praktiken durch den Besch“t. Diese stellte zweifelsohne eine Besonderheit seines Profils dar, wodurch er sich klar von anderen Chassidim ‚alten Stils‘ unterschied. Sowohl etliche Legenden als auch das in den Schivché ha-Besch“t überlieferte Schreiben des Ba’al Schem Tov an seinen späteren Anhänger Jakob Josef von Połonne wissen davon zu berichten, dass er zum Beispiel das Wochenfasten als Frömmigkeitsübung ablehnte und demgegenüber den Gottesdienst in Freude propagierte.

Dies ist der Wortlaut des Briefes [des Ba’al Schem Tov an Jakob Josef von Połonne]: Zu Händen meines Geliebten, des Geliebten meiner Seele, der großen Leuchte, der rechten Säule, des starken Hammers [vgl. bBer 28b], des in der Chassidut berühmten, des vollkommenen und wunderbaren Weisen, der Wunder tut und im Inneren meines Herzens eingeschlossen ist, mir anhänglicher als ein Bruder, unserem Lehrer Josef ha-Kohen. Siehe, ich empfing das Siegel seiner heiligen Hand und ich sah eine der zwei oberen Zeilen. Dort aber wurde gesagt, dass Eure Erhabenheit meint, als ob es erforderlich sei zu fasten. Mein Inneres aber zürnt ob der Stimme, die [solches] ausruft. Denn, siehe, ich füge den ‚Beschlüssen der Wächter‘ [עירין גזירות; Dan 4,14] und zusätzlich dem Heiligen, Er sei gelobt, und seiner Schekhina hinzu: Nicht darf man sich selbst in eine Gefahr wie diese bringen! Denn dies ist ein Werk der schwarzen Bitterkeit [der Galle] und der Traurigkeit. Und die Schekhina ruht nicht inmitten der Traurigkeit, sondern nur inmitten der Freude der Gebote! Wie Eurer Erhabenheit bekannt sein dürfte, sind [dies] Dinge, die ich [schon] etliche Male lehrte. Und ‚diese Worte seien‘ auf Seinem ‚Herzen‘ [Dtn 6,6]! Und wegen des Teils seiner Gedanken, die ihn zu solchem veranlassen, diesbezüglich rate ich: ‚Es sei Gott mit dir, du starker Held‘ [Ri 6,12; Ex 18,19]! An jedem einzelnen Morgen, in der Zeit seines Lernens schmiege er sich selbst an die Buchstaben, |49|in vollendeter Anschmiegung [דביקות] zum Dienst an seinem Schöpfer, Er sei gelobt und gelobt sei Sein Name. Dann aber werden die Gerichtsurteile an ihrer Wurzel versüßt und es werden die Gerichtsurteile von ihm leicht gemacht. ‚Aber vor deinem Fleisch verschließe dich nicht‘ [Jes 58,7], um Himmels willen, um mehr zu fasten, als es erforderlich und notwendig ist. Und wenn du gewiss auf meine Stimme hörst, dann wird Gott mit dir sein! Und mit diesem lasse ich es ein Bewenden haben und sage Schalom von mir, der ich immer nach deinem Schalom strebe! Spruch [נאום] des Israel Besch“t. (Grözinger, Geschichten I, S. 58–59)

Das von der Forschung durchaus für authentisch gehaltene Schreiben (vgl. Rosman, Founder, S. 114–115) bringt die Gegnerschaft des Israel ben Eli’eser zur harten asketischen Fastenpraxis kabbalistischer Prägung auf den Punkt. Der Brief beeindruckt zunächst durch die Intensität und Autorität, mit der er seine Ansicht vorträgt. Sein Verfasser begegnet seinem Adressaten als vollmächtiger Lehrer, dessen Worte schlechthin unzweifelhaft sind: „Wenn du gewiss auf meine Stimme hörst, wird Gott mit dir sein“ (!). Engel, die Schekhina und schließlich Gott selbst werden als Gewährsleute für die zentrale Botschaft des Besch“t in Anspruch genommen: Die Schekhina weilt nicht in Trauer und Zerknirschung, sondern in Freude! Das göttliche Urteil über eine Person lässt sich durch das Wochenfasten nicht abmildern – im Gegenteil: Es ist lebensgefährlich und daher nicht geboten. Anstatt dessen empfiehlt Israel ben Eli’eser die meditative Anhaftung (Devequt/דבקות) an die Buchstaben des hebräischen Alphabets.

4.4. Die Lehre des Ba’al Schem Tov

Die Lehre des Ba’al Schem TovDies führt mitten hinein in die mystische Lehre des Ba’al Schem Tov, die nun daraufhin untersucht werden soll, ob sich aus ihr einige der innovativen Ansätze des osteuropäischen Chassidismus ableiten lassen. Dabei muss zunächst daran erinnert werden, dass Israel ben Eli’eser keine eigenen Schriften hinterlassen hat. Grundzüge seiner theologischen Konzeptionen können nur aus den Werken seiner Anhänger und der von ihnen ausgebildeten Gelehrten herausgefiltert werden. Dabei stellen insbesondere die Schriften des Jakob Josef von Połonne, des Adressaten des Fastenbriefs, und des Besch“t-Enkels Mosche Efrajim von Sudylków (ca. 1740–1800) wertvolle Quellen dar. Beide Autoren leiteten Zitate des Ba’al Schem Tov oft mit „Ich hörte von meinem Lehrer“ oder ähnlichen Formulierungen ein, wodurch diese gut als solche zu erkennen sind. Das Hauptwerk Mosche Efrajims, der Degel Machané Efrajim (דגל מחנה אפרים; Banner des Lagers Efrajim), gehört zu den Klassikern |50|der chassidischen Literatur und enthält zahlreiche wertvolle Traditionen von Meistern der ersten Generation. Schon früh extrahierte man aus diesen und anderen Schriften die Worte des Besch“t und fügte sie zu Anthologien zusammen. Bereits im Jahre 1784 wurde mit Keter Schem Tov (כתר שם טוב; Krone des Guten Namens) das erste Werk dieser Art gedruckt. Die umfassendste Kompilation von Zitaten des Ba’al Schem Tov, der Śefer Ba’al Schem Tov (ספר בעל שם טוב), erschien hingegen erst 1937/38.

 

Ein Blick auf die von seinen Schülern kolportierten Äußerungen des Ba’al Schem Tov erweist deren hohe Originalität. Anders als es aufgrund des geistesgeschichtlichen Kontexts seiner Zeit zu erwarten gewesen wäre, bezog sich Israel ben Eli’eser gerade nicht primär auf die Lehren Jitzchak Lurias. Vielmehr wählte er eine Alphabetmystik zu seinem Bezugsrahmen, wie sie in der spätantiken Hekhalotmystik bzw. im Śefer Jezira entwickelt wurde und im Mittelalter z.B. durch Abraham Abulafia (etwa 1240–1291) oder Josef Gikatilla (1248–1325) weitere Ausformung erfuhr (vgl. dazu Grözinger, Jüdisches Denken 2, S. 29–64; 303–393).

KosmologieDie Schöpfung zeigte sich dem Ba’al Schem Tov als ein aus den transzendenten Sphären des Ewigen emaniertes hebräisches Alphabet, dessen 22 Buchstaben die Kraft des Schöpfers in sich bergen. Dabei befindet sich das Alef, der erste Buchstabe des Alphabets, seiner göttlichen Wurzel am nächsten. Die nachfolgenden Schriftzeichen (Bejt; Gimel) umhüllen ihren jeweiligen Vorgänger wie einen Mantel bis herunter zum letzten (Taw):

Wie ich von meinem Lehrer, sein Andenken sei zum Leben in der kommenden Welt etc., hörte: Der Anfang der Schöpfung geschah durch den Buchstaben Alef, denn er ist Weisheit. Und Er schuf das All durch Weisheit, wie gesagt ist: ‚Sie alle hast du durch Weisheit gemacht‘ [Ps 104,24]. Denn es emanierten die Buchstaben von oben nach unten herab und dadurch schuf Er alles Geschaffene: durch 22 Buchstaben vom Alef bis zum Taw. Und alles, was durch einen Buchstaben geschaffen ist, der dem Höchsten nahe ist, ist höher als das durch den Buchstaben Taw geschaffene, welcher der letzte Buchstabe ist. […] Siehe, Seine Geistigkeit, Er sei gelobt, ist inmitten des Buchstaben Alef und in Ihm verborgen und Er schuf das Licht aus dem Buchstaben Alef. Und dies ist das Licht der Azilut. Und danach verhüllte Er sich mit dem Buchstaben Alef inmitten des Buchstabens Bet und schuf die Welt der Schöpfung [Olam ha-Beri’a]. […] Und danach verhüllte Er sich wieder: mit dem Buchstaben Bejt inmitten des Buchstabens Gimel und schuf die Welten unterhalb der Welt der Schöpfung, bis dass Er sich im Buchstaben Taw verhüllte. Und Er schuf die unteren Welten, die Malkhut genannt werden. […] Denn es verbarg und verhüllte sich der Heilige, Er sei gelobt, inmitten der 22 Buchstaben. (Jakob Josef, Tol’dot, Bereschit, fol. 8c)

|51|Die Schöpfungskraft des WortesDas Konzept des Besch“t verarbeitet biblische Schöpfungslehre. Dies geschieht unter Berücksichtigung ihrer spätantiken und mittelalterlichen Deutungen, der zufolge der Ewige sprach und es ward. Die Schöpfung durch das Wort wird als eine Emanation des Alphabets interpretiert, das sich zu Worten zusammensetzt. Die absteigende Reihe der Buchstaben dient dabei als zunehmend dichter werdende Hülle um die göttliche Geistigkeit, die zugleich eine Abfolge mehrerer übereinanderliegender Welten verkörpert. Dabei repräsentiert der Olam ha-Azilut (עולם האצילות; in etwa: Welt der Emanation) die oberste der Welten. Darunter findet sich der Olam ha-Beri’a (עולם הבריאה; Welt der Schöpfung) und unter ihm weitere Welten. Diese werden hier Malkhut (מלכות; Königtum, d.i. die zehnte und somit letzte Śefira) genannt und ‚materialisieren‘ sich zunehmend. Mit der Verhüllung der Kräfte des Ewigen in den Buchstaben geht also eine wachsende Verbergung der ‚Geistigkeit‘ Gottes in der oder zur Materie einher.

Kein Ort ist leer von IhmDas kosmologische Konzept des Ba’al Schem Tov hat zur Folge, dass „kein Ort [der Welt] leer von Ihm“ ist. Dieser Satz kann als eine Art Leitwort der frühen chassidischen Theologie gelten. Mosche Efrajim von Sudylków kolportiert ihn mehrfach unter Berufung auf seinen Großvater (z.B. Degel Machané Efrajim, ראה, fol. 224c). Die Konsequenzen eines solchen, religionswissenschaftlich als Panentheismus zu klassifizierenden Systems für die Sicht auf Mensch und Welt sind selbstverständlich enorm. Alles, was besteht, ist gewissermaßen ein aus hebräischen Buchstaben zusammengesetzter Text des Ewigen, der seine Existenz auf die in ihnen verborgene göttliche ‚Geistigkeit‘ zurückführt. Würden die Buchstaben zu ihrem Ursprung in Gott zurückkehren, fiele Alles sofort ins Nichts. Im Śefer ha-Tānjá des Schne’ur Salman von Ljady wird unter Berufung auf den Ba’al Schem Tov folgender Kommentar überliefert:

‚Und das Wort unseres Gottes hat für immer Bestand‘ [Jes 40,8b], und Seine Worte sind lebendig und beständig für alle Zeit etc. Denn wenn sich die Buchstaben, um Himmels willen, auch nur einen Augenblick entfernen und an ihren Ort zurückkehren würden, dann wäre der ganze Himmel tatsächlich wie Null und Nichts und es wäre, als ob das Gesamte nie gewesen wäre – tatsächlich wie vor dem Dictum ‚Es sei eine Feste‘ [Gen 1,6]. Und so mit allen Geschöpfen, die in allen Welten sind, den oberen und den unteren. Sogar dies materielle Land in seinem tatsächlichen mineralischen Aspekt: Wenn die Buchstaben der Zehn [Schöpfungs-] Worte, mit denen das Land an den sechs Tagen der Schöpfung erschaffen worden ist, sich auch nur einen Augenblick aus ihr entfernen würden – um Himmels willen – dann kehrte es tatsächlich zum Nichts und Null zurück, wirklich wie vor den sechs Tagen der Schöpfung. (Śefer Ba’al Schem Tov, Bereschit, § 28, S. 27)

|52|Andererseits lässt die Präsenz des Ewigen überall in seiner Schöpfung keine tatsächliche (ontische) Existenz des Bösen zu. Wie alles andere, so ist auch das Böse letztlich ‚buchstäblich‘ vom Ewigen durchdrungen. Mehr noch: Es ist der verborgene, unter ‚Schalen‘ verhüllte Gott. Aus dieser Vorstellung ergibt sich, dass das Böse nicht zerstört werden muss, sondern nur verwandelt werden kann. Böse Worte und Taten müssen ‚geheilt‘, richtig geordnet und somit wieder zu ihrer göttlichen Wurzel zurückgeführt werden. In diesem Vorgang des „Aufhebens“ (im schönen Mehrfachsinn des deutschen Wortes) des Bösen in das Gute hinein wird die Störung und Verdrehung allen menschlichen Tuns und Redens, das sich aus den verhüllten Buchstaben des göttlichen Schöpferwortes zusammensetzt, ‚repariert‘ und somit wieder an ihre göttliche Wurzel angenähert.

Die Aufgabe des MenschenNatürlich erhebt sich nun die dringliche Frage, auf welche Weise das Böse wieder zu seiner göttlichen Wurzel geführt werden kann. Der erste Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel besteht nach Auffassung des Besch“t darin, das Problem erst einmal zu erkennen.

Da ich aufschrieb, was ich von meinem Lehrer, sein Andenken sei zum Segen und zum Leben in der kommenden Welt, hörte: […] In der Erkenntnis des Menschen, der erkennt und vertraut, dass der Ewige, Er sei gelobt, die ganze Erde mit Seiner Gewichtigkeit erfüllt; jede Bewegung und [jeden] Gedanken: [dass] alles von Ihm, Er sei gelobt, ist, dann ‚zerstieben alle Übeltäter‘ etc. [Ps 92,10b] […] Dies aber ist eine Bedeutungsebene des [biblischen Verses]: ‚Erkenne den Gott deines Vaters‘ [1 Chron 28,9] – wie ich auch in dieser Angelegenheit von ihm [dem Besch“t] hörte. (Jakob Josef, Zofenat Pa’aneach, 65b)

JichudWer also erkennt, dass alles – jedes Lebewesen, jeder Gegenstand, jede Aktion und jedes Wort (sei es gut oder böse) – vom Ewigen erfüllt ist; dass sich hinter allem Gott selbst verbirgt, der wird sich von der Oberfläche der Dinge nicht mehr irritieren lassen. Nur gilt es, die möglicherweise in Unordnung geratenen Buchstaben wieder in ihre richtige Reihenfolge zu bringen und sie auf diese Weise mit ihrer göttlichen Wurzel zu verbinden. Dies ist eine Art meditativer Akt, den der Besch“t – in Anlehnung an traditionelle kabbalistische Begrifflichkeit – als Jichud (יחוד; Einung; Plural: Jichudim) bezeichnet. Im Kern geht es darum, die (männliche) Śefira Tif’eret (VI) mit ihrem weiblichen Partner, der Śefira Schekhina (X), zu vereinigen und somit den Strom des göttlichen Segens aus den oberen Sphären nach unten zu ermöglichen.

Der Blick hinter die Fassade von Lebewesen und Dingen verlangt jedoch eine besondere Ausrichtung des Denkens, das sich mit dem Handeln zu einer vollkommenen Einheit verbinden muss. Anders als in älteren Formen der Kabbala forderte der Ba’al Schem |53|Tov das Streben nach Jichudim nicht nur für spirituelle Tätigkeiten ein, wie für das Tun der Gebote, Fest und Ritual oder die Gebete, sondern für jede beliebige Alltagshandlung und jedwedes menschliche Reden.

Denken und HandelnWeiterhin soll Erwähnung finden, dass ich im Namen meines Lehrers [des Besch“t] eine Erklärung zum Vers [Qoh 9,10] hörte: ‚Alles, was deine Hand [zu tun] findet, das tue mit deiner Kraft, denn in der Unterwelt gibt es weder Erkenntnis noch Weisheit‘ etc. […] So wird der Gedanke ‚Mutter des Seins‘ (d.i. Śefira Bina; III) genannt und die Tat ist ‚Adonai‘ (אדני; mein Herr; d.i. Tif’eret; VI). Und wenn man beim Handeln die Tat mit dem Gedanken vereinigt, dann wird die Tat Jichud genannt: [Vereinigung] des Heiligen, Er sei Gelobt [Tif’eret, VI], mit Seiner Schekhina [X]. ‚Alles, was deine Hand [zu tun] findet, das tue mit deiner Kraft.‘ Soll sagen, dass der Gedanke Weisheit (חכמה/Chokhma) genannt wird: [das ist wie] Kraft [כח/Ko’ach] ‚[zu] etwas‘ [מה/Ma]. So sollst du das Tun deiner Hände verrichten: dass es die beiden verbindet; d.i. die Vereinigung der Schekhina mit dem Heiligen, Er sei gelobt [VI]. (Jakob Josef, Tol’dot, Wajjar, fol. 20a)

Dieser zugegebenermaßen ziemlich komplizierte Text spiegelt die spezifische Gedankenwelt des Ba’al Schem Tov vermutlich akkurat: Es geht um die Verbindung des (alltäglichen) Handelns mit dem Denken, das sich auf Prozesse innerhalb der offenbaren Gottheit ausrichtet, das sich gewissermaßen an sie heftet. Die Einheit dieser Art menschlichen Denkens mit dem Handeln führt zu Vereinigung (Jichud) in den göttlichen Sphären, präzise: zwischen deren männlichen (Tif’eret) und weiblichen (Schekhina) Protagonisten. Die kreative Energie hinter diesem Streben verbirgt sich wieder einmal in den Buchstaben: Weisheit (Chokh-ma) ist die ‚Kraft zu etwas‘ (Ko’ach ma). Die richtige Anordnung der Schriftzeichen zu Worten enthüllt die tiefe Verbindung zwischen Denken und Handeln. In der Diktion der frühen chassidischen Meister wird diese weit über die traditionellen Pflichten des Menschen dem Ewigen gegenüber hinausreichende spirituelle Aktivität als „Gottesdienst in Körperlichkeit“ (עבודה בגשמיות/Avoda be-Gaschmi’ut) bezeichnet. Es können eben nicht nur Gebet, Gebot oder Studium der Tora als Dienst am Ewigen gelten, sondern jedwede physische Handlung kann dies – sofern sie von einer wirkmächtigen Ausrichtung begleitet wird (Etkes, Besht, S. 141).

DevequtLetztendlich muss es dem Menschen darum gehen, den Abstand zum Ewigen zu überwinden und sich an Ihn selbst ‚anzuschmiegen‘. Dieser spirituelle Idealzustand kann mit dem der Kabbala entlehnten Begriff der Devequt (דבקות; Anschmiegung) beschrieben werden. Es wird kaum überraschen, dass dieser wiederum mittels der Buchstaben realisiert werden kann:

|54|Die Angelegenheit der Devequt an Ihn, Sein Name sei gelobt: Jene [geschieht] durch die Buchstaben der Tora und des Gebets, indem man sein Denken und sein Inneres an die innere Geistigkeit anschmiegt, die inmitten der Buchstaben ist – [so] die mystische Bedeutung des [Hld 1,2]: ‚Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes.‘ Devequt des Geistes an den Geist. (Jakob Josef, Ben Porat, fol. 59c)

Gottesdienst in KörperlichkeitAuf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als hätte Israel ben Eli’eser mit dieser Darstellung eine eigentlich ganz traditionelle jüdische Lebensweise vor Augen gehabt. Sollte es sich beim Ideal der Devequt nur wieder um das gelehrte Treiben der Eliten handeln, die in Studium und Gebet nach besonderer Vervollkommnung strebten? Wie verhält sich dies anspruchsvolle Procedere zum „Gottesdienst in Körperlichkeit“, dem zufolge auch das alltägliche Reden und Tun zu einer heiligen Handlung transformiert werden müsse?

 

Die beschriebene Spannung weist auf ein Problem hin, das sowohl innerhalb der chassidischen Bewegung als auch in der Forschung virulent werden sollte: Richtete sich nun die Forderung, Devequt zu erreichen, an alle Juden oder nur an religiöse Spezialisten und die gelehrten Eliten? Für den Ba’al Schem Tov stellte sich, und darin liegt die besondere Radikalität seiner Konzeption, diese Aufgabe jedem Juden:

Der Glaube an Ihn, gelobt sei Sein Name, das ist die Devequt und das ist die vollendete Vollkommenheit etc. […] Und der Glaube ist der Grund für das Vertrauen, mit dem man auf den Ewigen, Er sei gelobt, vertraut in all seinen Erlebnissen und den Ewigen, Er sei gelobt, liebt, um Ihm zu dienen. (Jakob Josef, Tol’dot, Eqev, fol. 168d)

Wer imstande ist, dieser ebenso elementaren wie anspruchsvollen Forderung zu entsprechen, kann nach Auffassung des Besch“t als Zaddik angesehen werden (vgl. Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 797–799):

Ich hörte aus dem Munde des heiligen Ba’al Schem Tov, sein Andenken sei zum Segen, […] dass der Kern der Vollendung eines jeden einzelnen Zaddik [darin besteht], dass seine Devequt von ihm nicht unterbrochen wird – auch nicht für einen Augenblick. Ebenso in all seinen Worten, wenn er mit den Menschen Worte sprechen muss, die in den Augen der Welt nötig sind, dann sehe er zu, dass er in der Angelegenheit [in der Weise] spricht, dass die Devequt, um Himmels willen, nicht unterbrochen wird. (Śefer Ba’al Schem Tov Bd. I, Bereschit, § 107, S. 54)

Andererseits muss an dieser Stelle betont werden, dass sich das Problem der „Massentauglichkeit“ der Avoda be-Gaschmi’ut zunächst gar nicht stellte (Rapoport-Albert, God, S. 311). Der Ba’al Schem Tov und seine Anhänger waren samt und sonders potentielle Zaddikim. Sie gehörten der spirituellen und gelehrten Elite an und waren |55|als solche natürlich dazu prädestiniert, die permanente Devequt zu erreichen. Erst in dem Moment, da der Chassidismus eine breite Gefolgschaft auch in den sogenannten einfachen Schichten erzielte, entwickelte sich die zunächst universal angelegte Verknüpfung der steten Konzentration auf den Ewigen mit dem Begriff des Zaddik zu einer veritablen Belastung für den einzelnen Juden.

Folgerichtig kann in dieser systematischen Überforderung das Fundament für die neue und revolutionierende Umformung des Zaddik zu einem Gemeindeleiter, Mittler und Gravitationszentrum innerhalb der werdenden chassidischen Strömung gesehen werden. Es kann kaum überraschen, dass sich ein solches Konzept bereits in der zweiten Generation, bei den Schülern des Israel ben Eli’eser, zu entwickeln beginnt.

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