Sonderappell

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»Wird morgen nachgeliefert«, sagte die Dicke, »muss ich vom Ersatz holen.« Sie hatte Charlotte genau wie die anderen mit einem Blick gemustert, dann nach den Kleidern gegriffen und »Passt!« und »Die Nächste!« gesagt, und wer fertig war, stolperte mit seinem Stapel vorwärts.

»Gleich in die Spinde einräumen!«, sagte die Führerin, und die andere Maid setzte hinzu: »Erst anprobieren: Wenn’s nicht passt, gleich wiederkommen und umtauschen!«

Die Mädchen schwankten nach oben, packten die Hälfte in die Spinde und probierten die anderen Sachen zwischen den Schränken an. Charlotte passte alles bis auf das Kostüm, das zu weit war. Sie rannte wieder hinunter, und als sie ein anderes Kostüm auf dem Arm hatte, fragte sie: »Kann ich vielleicht noch eine Wolldecke haben?«

Die Führerin warf ihr einen prüfenden Blick zu.

»Sind oben zu wenig?«

Charlotte nickte. »Nur zwei in jedem Bezug.«

»Wollen die anderen auch noch welche?«

»Ich glaube schon.«

»Na ja«, seufzte die Führerin, »die Sache ist nur die, wir haben die Wintersachen noch nicht. Da muss was dazwischengekommen sein. Oder der Transport ist bombardiert worden, was weiß ich. Wir haben auch keinen Bindennachschub gekriegt. Und keine Marmelade.«

Charlotte blieb abwartend stehen. Die andere Maid hatte das zu weite Kostüm wieder weggeräumt und schaute die Führerin ebenfalls an.

»Ich weiß auch nicht«, sagte die Dicke wie zur Verteidigung, und dann rappelte sie herunter: »Es ist unsere Pflicht, in Treue zu unserem Führer Opfer zu bringen.« Sie stieß die Luft aus und setzte hinzu: »Also, wir haben keine Decken.«

»Ja«, antwortete Charlotte, »danke schön.«

Die beiden hinter der Theke schauten ihr nach, wie sie aus der Kleiderkammer lief, und die Dicke seufzte. »Und die Fleischrationen sind auch noch nicht da.«

Im ersten Stock waren die Mädchen noch dabei, ihre Sachen zu probieren und einzuräumen. Charlotte hängte das Kostüm auf den Bügel und fragte: »Muss man die Stukas eigentlich auch anziehen?«

»Ich behalte meine eigenen Unterhosen drunter«, sagte Ingrid, »aber die Stukas finde ich gut. Die halten einem wenigstens den Podex warm.«

Charlotte faltete ihre blaue Strickhose ordentlich zusammen und legte sie auf den Stapel mit der Unterwäsche. Zur Not, dachte sie, kann ich die nachts anziehen. Wenn sie nur nicht so kratzen würde.

Als Ingrid und sie mit Waschsachen und Nachthemden wieder in ihre Kameradschaft kamen, stand Hertha mit drei Latten unterm Arm da.

»Woher hast du die denn so schnell?«, fragte Ingrid und baute die Bretter sofort ein.

»Organisiert«, erwiderte Hertha.

»Was heißt das?«, fragte Charlotte.

Ingrid kicherte. »Ist doch klar: Aus einem Bett geklaut, in dem noch keiner schläft. Nicht?«

»Genau«, sagte Hertha.

»Aber …«, begann Charlotte, »das ist doch …«

»Halt bloß keine Moralpredigten!«, warnte Hertha. »Besonders du nicht!«

»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte Charlotte aufgebracht. »Geklaut ist geklaut.«

»Ach, misch dich da doch nicht ein«, sagte Ingrid.

»Und was das mit dir zu tun hat, wirst du schon noch merken«, erwiderte Hertha freundlich, »und außerdem: Organisieren ist nicht klauen. Alles ist hier für alle da. Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Bloß: Es reicht nicht für alle, und da haben wir selber dran schuld, sagt mein Vater, aber nun wär’s nicht mehr zu ändern, und du musst nur schnell sein, wenn’s ans Verteilen geht. Und außerdem: Wo kommst du denn eigentlich her, dass du nicht weißt, was organisieren ist?«

»Ich –«, antwortete Charlotte, »also: Bei uns, da war so was nicht nötig.«

»Na, dann kommst du wohl aus dem Paradies! Hat’s denn bei euch immer alles gegeben?«, fragte Hertha ungläubig.

Charlotte dachte nach. Alles gegeben? Nein, alles gegeben hatte es nicht. Die Großmutter schnitt jedes Mal, wenn sie ein frisches Brot gekauft hatte, Kerben in die Rinde, etwa zwei Finger breit für jeden Tag. Sie kochte Marmelade aus Hagebutten und Schlehen. Sie stampfte fein gewiegte Küchenkräuter mit Salz und Selleriekraut und Lauch und Salbei als Fleischwürzenersatz ein. Sie kochte zu Weihnachten steifen Grießbrei, würzte ihn mit Bittermandelaroma und rollte kleine Kugeln daraus – »Wie Marzipan! Man schmeckt den Unterschied fast gar nicht!« – Nein, schon im letzten Sommer vor dem Krieg hatte es keine Schokolade mehr gegeben, daran konnte sich Charlotte noch genau erinnern. Aber: Man hatte sich beholfen, hatte sich auch gegenseitig ausgeholfen, hatte gehungert und verzichtet, aber dieser Hunger und diese Verzichte waren nie bis an die Grenze des Unerträglichen gegangen. Sie hatten gehungert, aber nicht gedarbt. Und organisieren: Nichts hätte der Großvater verächtlicher gefunden. Er duldete es, dass sich die Großmutter plötzlich mit dem Kolonialwarenhändler gutstellte, damit er ihr die Haferflocken oder die Grütze auf die aufgerufenen Abschnitte der Lebensmittelkarten auch wirklich verkaufte. Er duldete es auch, dass sie einen alten kleinen Teppich bei ihrem ehemaligen Gemüsebauern gegen einen Sack Kartoffeln eintauschte. Aber er hätte keiner Unredlichkeit, keinem Organisieren zugestimmt, und wenn es ihn und seine Familie das Leben gekostet hätte.

»Bei uns war’s sicher besser als bei euch in der Großstadt«, sagte Charlotte schließlich, »aber wieso weißt du hier so gut Bescheid?«

»Ick war als Erste hier, und da wohnten noch die Letzten von der vorigen Belegschaft im Haus. Na, da hab’ ick schön die Ohren aufgeknöpft.«

In der offenen Tür zur Halle hatten sich ein paar andere Mädchen angesammelt. »Icke hält Volksreden«, stellte eins von ihnen fest.

»Aber wenn’s stimmt«, erwiderte Hertha kriegerisch.

»Icke?«, fragte Charlotte.

»Weil ick aus Berlin bin«, antwortete Hertha.

»Und weil sie immer sagt: icke, icke, icke! Immer weiß sie alles am besten, immer hat sie recht!«

Hertha zuckte die Schultern. »Lass man«, sagte sie friedlich, »also und: Icke geh’ jetzt essen!« Traudel, Charlottes Klassenkameradin, schob sich zwischen den anderen Mädchen durch und musterte Charlottes Bett.

»Du hast auch einen platten Sack erwischt«, sagte sie.

»Ja«, erwiderte Charlotte, »Pech mit den Zimmern. Icke behauptet, das wäre Absicht.«

»Die gibt an wie zehn nackte Neger. Essen wir erst mal.«

Unten ertönte ein Gong.

»Das heißt: futtern!«, schrie Hertha und stürmte davon. Die anderen Mädchen folgten ihr, und die Treppe erdröhnte vom allgemeinen Getrampel.

»Komm«, sagte Traudel schon in der Tür.

Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich hab’ noch zwei belegte Brote. Das reicht mir.«

»Na gut«, sagte Traudel, »guten Appetit!«

Als die anderen fort waren, setzte sich Charlotte auf ihr Bett und holte das letzte Paket aus dem Brotbeutel. »Salami« stand in der ordentlichen Schrift auf dem Butterbrotpapier. Salami gab’s auch auf Zuteilung nur noch selten. Vielleicht war das der Rest von einer Urlauberwurst, von der die Großmutter ein Stück dafür bekommen hatte, dass sie jemandem aus der Nachbarschaft aus alten aufgetrennten Kleidern oder Gardinen etwas Neues genäht hatte. Die Großmutter konnte so gut nähen wie eine Schneiderin, und da die Kleiderpunkte, für die man Stoff oder Kleider bekam, niemals ausreichten, und die Kriegsstoffe außerdem immer schlechter geworden waren, wenn man überhaupt welche ergatterte, waren die meisten Familien dazu übergegangen, aus alt neu zu machen. Und wer selbst nicht nähen konnte, war gern bereit, etwas für das Nähen einzutauschen: echten Tee oder Kaffeebohnen aus den spärlich zugeteilten Rationen, Obst oder Gemüse aus dem eigenen Garten, einen Eimer Schafsmist für die Tomatenplantage, die die Großmutter mit Erfolg auf dem Balkon begonnen hatte.

Charlotte legte sich lang ausgestreckt auf das Bett und kaute langsam und genussvoll. Wie hier das Essen wohl sein würde? Kohl mit Kümmel zum Abendessen. Der Geruch zog durchs ganze Haus, und Charlotte stand auf und machte die Tür zu und das Fenster auf. Draußen war es fast dunkel. Sie konnte gerade noch erkennen, dass unter dem Fenster ein Teil des alten Gemüsegartens lag. Verunkrautete Beete, ein gemauerter Komposthaufen, um den sich offensichtlich seit Jahren niemand gekümmert hatte, zwei, drei niedrige Hütten oder Schuppen, dann ein Zaun und dahinter eine Zeile Katen, eine wie die andere, einstöckig, zwei Fenster, eine Tür, die in die kleinen Gärten führte, die musterhaft und bis an die Zaungrenzen ausgenutzt waren, dazu noch ein kleiner Stall. Dahinter streckte sich das Land endlos ins Grau, ganz fern am Horizont ein dunkler Streifen Wald.

Charlotte lehnte das Fenster etwas an. Es war kalt geworden, aber die frische Luft tat gut. Sie legte sich wieder auf ihr Bett und holte den letzten Apfel heraus. Er hatte ein paar Druckstellen bekommen, aber er duftete unverändert.

Charlotte rieb ihn mit einem Zipfel des Bettlakens und biss kräftig in das saftige Fleisch. Im Zimmer konnte man fast nichts mehr sehen, aber sie hatte keine Lust, die Verdunkelung herabzurollen und Licht anzumachen. Sie blieb im Dunkeln liegen und aß den Apfel samt Stumpf und Kernen langsam auf. Draußen auf der Treppe erklangen Schritte. Eine Tür nach der anderen wurde aufgerissen und wieder zugeklappt. Dann ging die Tür von Charlottes Kameradschaft auf. Charlotte sah nur die Silhouette im Türrahmen.

»Was ist denn hier los?«

Charlotte erkannte die Stimme der Führerin, die sie abgeholt hatte. »Gar nichts«, erwiderte sie.

»Es hat ja wohl laut und deutlich genug zum Abendessen gegongt«, sagte die Führerin.

»Ja, das hab’ ich gehört. Aber ich hatte noch einen Rest Brote von der Fahrt.«

»Hier gibt es keine Privatmätzchen«, sagte die Führerin eisig. »Wenn es gongt, versammeln sich immer sofort alle unten in der Halle.«

 

»Tut mir leid«, antwortete Charlotte, »das hast du uns aber nicht gesagt.«

»Im Reichsarbeitsdienst«, sagte die Führerin und wurde noch eisiger, »sagt man zu den Führerinnen Sie.«

»Oh«, murmelte Charlotte, »entschuldigen Sie, das hat uns auch noch niemand gesagt.«

»Machen Sie die Verdunklung zu und kommen Sie herunter«, befahl die Führerin, »allgemeine Begrüßung.«

Charlotte erhob sich steifbeinig, rollte die Verdunklung herunter, tappte im Dunkeln durch das Zimmer und ging nach unten. Die Halle schwirrte von Mädchen. Manche trugen schon die blauen Kleider, manche hatten noch ihre eigenen Sachen an. Die Mädchen vom Küchendienst schleppten Schüsseln und Tellerstapel in die Küche, der Kohlgeruch hing noch wie eine Wolke in der Luft, und alle redeten oder schrien durcheinander.

»Wo ist eigentlich das Klo?«, fragte Charlotte eins der Mädchen im blauen Kleid.

Die schaute sich flüchtig um und sagte: »Die Villa? Ach, du bist neu! Draußen, das erste Haus links um die Ecke. Aber pass auf! Da gibt’s kein Licht!«

Ehe Charlotte fragen konnte, um welche Ecke, war das Mädchen in der Küche verschwunden. Aber dann entdeckte Charlotte Traudel und zupfte sie am Ärmel. »Warst du schon auf dem Klo?«, flüsterte sie.

»Nee«, sagte Traudel, »ich wollte aber auch gerade hin.«

»Man hat mir gesagt: Das erste Haus links um die Ecke. Gibt’s denn hier im Lager keins?«

»Das ist, glaube ich, nicht für uns«, antwortete Traudel, »los, komm, wir suchen es einfach.«

Zwei andere Mädchen rannten auch die Treppe zum Hintereingang hinunter und meinten: »Sucht ihr die Villa?«

Charlotte und Traudel nickten.

»Dann kommt mit. Allein dürft ihr nach Einbruch der Dunkelheit sowieso nicht rüber.«

»Sollen wir’s durch die Rippen ausdünsten?«, fragte Charlotte.

Ein Mädchen lachte. »Ach Quatsch. Das ist wegen der Jungen aus dem Dorf und wegen der polnischen Arbeiter. Die lauern uns immer auf.«

»Die Kerle!«, sagte Hertha, die sich zu ihnen gesellte, verächtlich. »Die sollen das mal bei mir versuchen! Da kriegen sie eine von meinen Pantinen an den Kopf!«

Sie schlüpften durch die Tür, deren Glaseinsatz schwarz gestrichen war, und konnten zuerst gar nichts sehen, weil sie selbst von dem trüben Licht im Haus wie geblendet waren. Sie folgten dem Geräusch der Tritte, tappten durch nassen Lehm, prallten nach 20 Schritten fast gegen eine Wand, tasteten nach der Tür, und als sie sie aufklappten, schrien die Mädchen von drinnen: »Vorsicht! Wir haben Licht!«

Charlotte und Traudel schoben sich schnell durch die Tür. Der Raum war lang und schmal. Auf der einen Seite ein helles Holzbrett mit sieben oder acht kreisrunden Löchern. Die anderen drei Mädchen hatten sich einen Kerzenstummel auf den Fußboden geklebt und hockten auf dem Brett je über einem Loch. Charlotte und Traudel blieben unschlüssig stehen.

»Los«, sagte eins von den anderen Mädchen, »macht schnell. Ich kann meine Kerze nicht ewig brennen lassen.«

Schweigend schob Traudel die Hose runter und setzte sich neben die beiden.

Charlotte murmelte: »Ich komme später noch mal her.«

»Leer ist es hier nie«, stellte eins von den Mädchen fest, »daran musst du dich gewöhnen.«

»Ihr habt ja kein Papier!«, sagte Hertha. »Da, nimm ein Stück von mir!« Sie hielt Charlotte und Traudel ein Bündel mit zurechtgeschnittenem Zeitungspapier hin.

Anmachholz, Kerzen und Klopapier, dachte Charlotte, ob mir die Großeltern das schicken können? Aber was mach’ ich bis dahin?

Das erste Mädchen war fertig und sagte: »Los, los, die fangen gleich an!« Das Letzte pustete die Kerze aus, und gemeinsam tasteten sie sich durch die Dunkelheit zum Lager zurück.

Die Mädchen hatten sich schon fast vollzählig in dem großen Raum versammelt, der als Einziger durch eine Hängelampe aus hellem Holz etwas besser erleuchtet war. Auf dem Weg durch die Halle kam Charlotte an einem Zimmer vorbei, in dem offenbar eine der Führerinnen wohnte. Der Raum war ganz anders eingerichtet, als es Charlotte von zu Hause kannte: helle Möbel aus Naturholz, schafswollene Decken und Kissen auf dem schmalen Holzsofa, ein unglasierter Tonkrug mit einem Kiefernzweig auf einem Anbauregal. An den Wänden Holzschnitte und ein großes Bild aus gepressten Blumen.

In dem großen Raum hatten sich alle auf die Stühle gesetzt, die in einem großen Kreis standen, und Charlotte rutschte neben Traudel. Dann ging die Tür auf, und die Führerinnen kamen herein. Zuerst eine kleine dunkelhaarige Frau mit kurzen Haaren, die Lagerführerin, dann die beiden anderen. Charlotte erkannte die dicke Führerin aus der Kleiderkammer wieder, deren sandbrauner Rock über dem Bauch spannte und die sie an eine Bekannte der Großmutter erinnerte, die alle Führerreden aus der Zeitung mit großen steifen Buchstaben in Schulkladden abschrieb. Die Dicke sah gutmütig aus, aber sie hatte den gleichen gläubigen Glanz in den Augen wie die Nenntante zu Hause. Als Letzte folgte hastig die Führerin, die die Mädchen von der Bahn abgeholt hatte. Charlotte sah jetzt, als diese Führerin neben den beiden anderen stand, dass sie das war, was man eine nordische Schönheit nannte: schmales Gesicht, gerade Nase, aschblonde Haare, die im Nacken zu einem Knoten zusammengeschlungen waren.

Die Führerinnen hatten zu den üblichen sandbraunen Röcken verschiedene Blusen an, private Blusen für festliche oder inoffizielle Gelegenheiten, ein Privileg, das nur ihnen zustand. Die Mädchen standen auf, dass die Stuhlbeine scharrten.

»Heil Hitler, Maiden«, begrüßte sie die Lagerführerin, und dann lief das ab, was Charlotte seit ihrem zehnten Lebensjahr, seit dem JM, kannte: Schulungsabend. Ansprache, Lied, Erklärung, dass die gemeinsame Aufgabe für die Erhaltung des nationalsozialistischen Staates wichtig sei, dass sie, die Maiden, jetzt mitten im totalen Krieg andere Pflichten hätten als in den Jahren davor. Dass der Feind, »der vor all unseren Grenzen steht«, zurückgeworfen werden müsse. Dass sie die verantwortungsvolle Aufgabe hätten, den tapferen kämpfenden Truppen »hinter der Front so beizustehen, dass …«

Charlotte erfuhr, dass geschlossene weibliche RAD-Einheiten zu Wehrmachtseinsätzen herangezogen worden waren, dass sie bei der Luftwaffe als Nachrichtenhelferinnen arbeiteten, Scheinwerferbatterien bedienten, dass sie in den bombardierten Städten Trümmer räumten, und zwischendurch immer wieder die wohlvertrauten Redensarten: »Erziehung zur Volksgemeinschaft«, »Nationalsozialistische Erziehung zur richtigen Arbeitsauffassung und Volksverbundenheit im Geiste unseres Führers«, »Gemeinsame Weltanschauung, die die Volksgemeinschaft verbindet«, »Vorbildung zur künftigen deutschen Frau und Mutter«, »Hilfe in Siedlungs-, Bauern- und Notstandsgebieten …«, »… Segen, den diese gemeinsame Volksschule Ihnen für Ihr ganzes späteres Leben spendet …«, »Bevorzugung der arbeitenden Jugend: mehr Zuteilungen auf den Lebensmittelabschnitten als die Zivilbevölkerung …«. Und dann: »Dank an unseren geliebten Führer, dem wir helfen müssen, die Ordnung hinter der Front zu halten.«

Dann die Erläuterung, dass ein weibliches RAD-Lager von einer Lagerführerin mit zwei oder drei Führerinnen als Gehilfinnen geleitet würde, einer Gehilfin der Lagerführerin – eine kurze Geste zu der blonden Führerin, die, wie die Maiden erfuhren, auch Ärztin war –, eine Wirtschaftsgehilfin – eine kurze Geste zur Dicken – und Verwalterin und, wenn genügend Führerinnen zur Verfügung stünden, eine außerplanmäßige Lagergehilfin. Weiter: dass eine Lagereinheit aus 32 oder 41 Arbeitsmaiden bestehe – hier seien es 32 –, dass diese Maiden in Kameradschaften eingeteilt seien, denen je eine Kameradschaftsälteste vorstehe, die noch bestimmt würden, und dass aus einer KÄ eine Führerin werden könne: sie käme dann auf eine RAD-Schule, arbeitete als Lagergehilfin und Jungführerin, käme nochmals auf eine RAD-Schule und könne dann als Maidenunterführerin oder Maidenführerin im Lager arbeiten, als Maidenoberführerin selbst ein Lager leiten oder in die Verwaltung gehen. Weitere Dienstränge : Maidenhauptführerin, Stabsführerin …

Charlotte riss die Augen auf und merkte, dass die anderen Mädchen ebenfalls mit dem Schlaf zu kämpfen hatten. Unerbittlich ging die Schulung weiter. Dienstdauer: 26 Wochen. Vereidigung: in 14 Tagen. Pflicht: absoluter Gehorsam den Führerinnen gegenüber … Ganze Kraft einsetzen, um an der ihr zugewiesenen Stelle am Aufbau des nationalsozialistischen Staates mitzuarbeiten … Den Anweisungen ihrer Führerinnen zu gehorchen und die ihr übertragenen Aufgaben gewissenhaft und nach besten Kräften auszuführen … Eine treue Kameradin sein … Durch gesittetes Betragen und tadellose Führung in und außer Dienst sich der Ehre würdig zu erweisen, dem deutschen Frauenarbeitsdienst anzugehören und seine Tracht als Ehrenkleid zu tragen. Wieder ein Lied, dann die Beschreibung ihrer zukünftigen Arbeiten: 14 Tage Grundschulung, Außendienst bei Bauern und Umsiedlern im Wechsel mit Heimdienst. Tagesordnung, die hier Dienstplan hieß: Wecken, Frühsport, Waschen, Kameradschaft reinigen, Bettenbau, Stubenrevision, Frühstück, Antreten, Flaggenhissung, Schulung, Singen, nach der Grundschulung: Abmarsch zu den Arbeitsstellen, 16 Uhr zurückmelden im Lager, Freizeit, Singen, Schulung, Singen, Flaggeneinholen, Küchendienst, Abendbrot, Putz- und Flickstunde, Licht aus. Sonntags: kein Außendienst. Nachmittags: Freistunde.

Charlotte wusste aus Erfahrung, dass Freizeit keine Freizeit war, sondern bedeutete: Basteln, Leibesübungen, Mädeltanz. Aber vielleicht war der Sonntagnachmittag wirklich frei. Man würde es ja sehen.

Sie versuchte wieder genauer zuzuhören, aber sie sah das Gesicht der Lagerführerin, die freundlich und geduldig und langsam sprach, sie sah die Hinterköpfe der Mädchen, die meistens noch Zöpfe trugen, in einem Nebel verschwimmen, und sie fror.

»Morgen früh«, schloss die Lagerführerin, »werden zuerst einmal alle diejenigen, die heute eingekleidet worden sind, Gelegenheit haben, ihre Sachen zu richten.«

Dann noch ein Lied, ein ›Heil auf unseren geliebten Führer‹ und: ›Freizeit bis neun!‹

»Ich muss baden oder duschen, und dann nichts als pennen«, sagte Charlotte.

»Badewannen gibt’s hier nicht«, sagte das Mädchen neben ihr, »und Dusche abends nur kalt. Hast du Seife?«

Charlotte nickte. Die Großmutter hatte ihr eins von den eisern gehüteten Stücken mitgegeben, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammten. »Dann pass bloß auf, dass sie dir keiner wegorganisiert.«

Charlotte trappelte mit den anderen die Treppe zu der Kameradschaft hinauf. »Wie sieht’s bei dir aus?«, fragte sie Traudel.

»Genauso wie in deiner K«, antwortete sie.

»Na, dann bis morgen«, sagte Charlotte. In ihrem Schlafraum hatten sich alle Mädchen versammelt, und Hertha erklärte ihnen gerade, woher Ingrid und Charlotte stammten. Hertha, Charlotte und das Mädchen gegenüber von Ingrid waren die Einzigen, die so lange Anreisen gehabt hatten. Die anderen Maiden stammten aus Schlesien. Charlottes Nachbarin kam aus Breslau, ihr Vater war Heizer, sie hatte 13 Geschwister und sagte: »Schlimmer als zu Hause kann’s nirgends sein. Ich bin die Älteste.«

Charlotte war in dieser Kameradschaft die einzige Oberschülerin, aber das Mädchen gegenüber von Ingrid war Studentin. Sie kam aus Posen und studierte Sprachen, Englisch, Französisch und Deutsch. Sie wollte Dolmetscherin werden, und Charlotte verstand nicht genau, weshalb sie jetzt erst zum RAD eingezogen worden war. Vielleicht hing das mit Posen zusammen.

Charlotte hatte unterdessen ihre Waschsachen zusammengesammelt und fragte: »Wo ist denn das Badezimmer?«

»Badezimmer!«, sagte Hertha und lachte. »Das heißt hier Waschräume. Unten im Keller.«

»Kommt ihr nicht mit?«, fragte Charlotte.

»Nur wenn’s sein muss«, antwortete Hertha, »hier hat sowieso schon jemand das Fenster aufgemacht. Das reicht mir.«

»Das war ich«, sagte Charlotte, »es war so miefig hier drin.«

»Bist du vom Wahnsinn umzingelt?«, fragte Icke. »Erstunken ist noch keiner, erfroren schon viele. Die K wird doch überhaupt nicht geheizt! Da müssen wir das bisschen warmen Mief doch halten, verstehst du?«

»Aber wir sind doch sieben Mädchen«, protestierte Charlotte, »wir brauchen frische Luft.«

»Die kriegst du schon morgen früh ausreichend genug«, prophezeite Icke, »und nun wasch dich man, damit du uns wenigstens nicht die Luft verpestest.«

Charlotte lachte, und Hertha faltete ein Nachthemd auseinander, das Charlotte an die erinnerte, die ihre Großmutter erst vor Kurzem wieder für sich und den Großvater aus einer Kampferkiste auf dem Boden herausgekramt hatte, weil Großvaters Pyjamas zerschlissen waren und Großmutters Spitzennachthemden den schlechten Waschmitteln nicht standgehalten hatten und ebenfalls zerfallen waren: lange, weiße Gespenstersäcke mit angekrausten langen Ärmeln, Passe, Bündchen. »So was kriegst du morgen auch! Warte nur ab!«

 

»Und nimm lieber eine Nummer größer!«, rief Ingrid. »Da kannst du dir die Füße noch einwickeln.«

»Na«, sagte Charlotte, »ich geh’ mich erst mal waschen.«

Im Keller fand sie den Waschraum gleich. Nirgendwo sonst brannte Licht. Es war ein kahler großer Raum, die übliche trübe Funzel beleuchtete schwach einen großen rechteckigen Holztisch, dessen Platte mit Blech beschlagen war und in der Mitte eine Wasserrinne hatte. Ein Rohr mit vielen Hähnen nach rechts und links lief über den Waschtisch, und ein paar Maiden hatten sich Aluminiumschüsseln unter einen Hahn gestellt und wuschen sich. Mehr als den Oberkörper hatte keine frei gemacht.

Charlotte stand unschlüssig in der Tür. In der Wand waren Haken für die Kleider, und in einem Regal standen ein paar Stapel mit Waschschüsseln. »Nimm dir eine und merk dir die Nummer, die unten drunter steht«, rief eins der Mädchen Charlotte zu.

»Ich wollte eigentlich duschen«, antwortete Charlotte, »ich bin heute erst gekommen. Wir sind drei Tage unterwegs gewesen.«

Die Mädchen starrten sie an. »Kalt duschen?«, fragten sie.

»Ist das Wasser aus den Hähnen denn warm?«

»Nee, nur lau. Aber das ist doch ganz was anderes.«

Charlotte zögerte. Sie genierte sich nicht, sich vor den anderen auszuziehen. Sie hatte zwar keine Geschwister, aber sie hatte sich bei anderen Schulungslagern und Fahrten daran gewöhnt, auch beim Waschen nie allein zu sein, und sie hatte jetzt ein starkes Bedürfnis danach, sich vom Kopf bis zu den Füßen einzuseifen. »Ich dusche«, sagte sie entschlossen.

Der Duschraum war daneben, ohne Tür, aber auch ohne Licht. Charlotte zog sich aus und ließ das Wasser laufen. Es brauste nicht, es tröpfelte nur und war so eiskalt, dass Charlotte alle Glieder einzeln wusch und fast keine Luft bekam, als ihr das Wasser über Bauch und Rücken rann. Sie hatte ein eigenes Frottierhandtuch im Koffer gehabt, und es war klitschnass, als sie sich fertig abgetrocknet hatte. Sie zog ihr Nachthemd an, bündelte die Kleider zusammen und ging in den Waschraum, sich die Zähne zu putzen.

Es war nur noch eine Maid da, die ihr freundlich zunickte, fragte, woher sie käme und wie sie hieße, und erzählte, dass sie aus Tirol stammte und Tilly hieß. »Ich will Köchin werden«, sagte sie, »und ich hätt’ schon eine Lehrstelle in einem Erholungsheim für Verwundete gehabt. Aber dann hab’ ich doch hierher müssen. Vielleicht nehmen sie mich hier in die Küche. Viel lernt man bei so was ja nicht, aber immerhin.«

»Ich weiß noch gar nicht, was ich werden will«, sagte Charlotte, »wir haben ja noch nicht mal das Abitur zu Ende machen können. Nur ausgerechnet das Turnabi, und ich hasse Sport.«

Tilly lachte. »In welcher K bist du denn?«

»K 2. Das ist die von Icke.«

»Ach, ich weiß schon. Fertig?«

»Ja. Machen wir das Licht aus?«

»Nein, lass nur, vielleicht kommt noch wer. Nachher geht die Führerin vom Dienst sowieso noch mal durch.«

Sie gingen einträchtig die Treppe hinauf und verabschiedeten sich vor Charlottes Kameradschaft. Die anderen Maiden waren schon im Bett. Die kleine Dünne neben Charlotte hatte sich eine Wolljacke über das Nachthemd gezogen und streifte sich gerade Wollsocken über.

Als Charlotte ihren Rock, ihren Pullover und ihr Unterzeug auf den Hocker legte, fragte Ingrid: »Hast du denn nichts drunter unter deinem Nachthemd?«

Charlotte schüttelte den Kopf.

»Wir haben alle unser Unterzeug noch drunter«, sagte die Kleine fast beleidigt.

»Zu Hause hab’ ich auch ungeheizt geschlafen«, verteidigte sich Charlotte.

»Zu Hause, zu Hause – da hast du aber sicher mehr Decken oder ein Federbett gehabt.«

Charlotte schlug die Decke zurück und betastete sie. Im Überzug steckten nur zwei Decken, und sehr dick fühlten sie sich nicht an. »Ich weiß nicht –«, sagte sie, »zur Not kann ich morgen ja noch meine eigene einziehen.«

»Probier’s nur selber aus«, sagte Ingrid, »ich will niemandem meinen Rat aufdrängen.«

»Gleich ist Licht aus«, sagte Hertha, »und dann setz’ ick meine Zipfelmütze auf!« Sie schwenkte eine Wollmütze. »Und wenn ihr euch schieflacht. Es ist nämlich wirklich eisig.«

»Kein Mensch soll hungern, ohne zu frieren«, murmelte die Studentin.

»Hör mir mit solchen Redensarten auf«, sagte Hertha scharf.

»Das sagt heute doch schon jeder«, verteidigte sich die Studentin.

»Schlimm genug! Schließlich kann der Führer doch nichts dafür, dass wir Versorgungsschwierigkeiten haben.«

»Dann hätt’ er ja nicht zu versprechen brauchen, dass kein Volksgenosse zu hungern und zu frieren braucht«, sagte die andere ungerührt.

»Na und? Ick find’ das einfach gemein, wenn man zuerst hurra schreit und sich dann drückt, wenn’s mal nicht so flutscht.«

Die andere schwieg und rollte sich in die Decke. »Drücken tu ich mich sicher nicht«, murmelte sie, und wie es weiterging, wusste Charlotte nicht mehr. Sie schlief schon, als die Führerin vom Dienst in die Kameradschaft schaute, gute Nacht sagte und das Licht ausknipste. Sie schlief traumlos, aber sie wachte einmal in der Nacht auf, weil sie fror. Sie holte sich ihren Pullover und wickelte ihn um die Füße. Das schuf nach einer Weile eine kleine Insel der Wärme, und sie blieb so liegen, zusammengekrümmt wie ein Embryo, die Hände in der warmen Kuhle zwischen Bauch und Schenkeln, die Bettdecke bis über die Nasenspitze hochgezogen.

Als sie wieder aufwachte, weil sie jemand an der Schulter rüttelte, hatte sie das Gefühl, gerade eben erst eingeschlafen zu sein. Es war eisig kalt in der Kameradschaft, und das trübe Licht ließ alles noch kälter und trübseliger erscheinen.

»Mensch«, sagte ihre Nachbarin, »du pennst aber vielleicht fest! Mit dir werden wir jeden Morgen Ärger haben!«

Charlotte rieb sich die Augen. Die anderen Maiden hatten schon ihr Trainingszeug an, waren blass im fahlen Licht, verschlafen, ungewaschen, verstrubbelte Haare, verfilzte Zöpfe. Wie viel Uhr? Charlotte schaute auf die Armbanduhr. Halb sieben.

»Los, los, raus mit dir!«, hetzte Hertha. »In fünf Minuten wird gegongt, dann müssen wir unten antreten.«

Charlotte schob sich widerwillig aus dem Bett. Die Luft lag wie kaltes Eisen auf ihren nackten Beinen. Es stank nach dem Nachtschweiß der Mädchen, und Charlotte schlüpfte in den Trainingsanzug und drängelte sich so rasch wie möglich aus dem Raum. Stummes Gepolter auf der Treppe, als die Mädchen durch die unbeleuchtete Halle nach unten liefen. Unten brannte auch noch kein Licht, nur aus der offenen Küchentür drang ein schwacher, gelber Schein, und draußen vorm Haus war es stockfinster. Dort stand schon eine Führerin, und nachdem sich Charlotte an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte sie, dass es die Blonde mit dem dicken Haarknoten war. Sie hatte eine Pfeife zwischen die Lippen geklemmt und pfiff den Rhythmus, den Charlotte ihr Leben lang nie vergessen würde, denn er war immer gepfiffen, getrommelt oder geklopft worden, im BDM, bei Sportfesten, bei Aufmärschen: Tam, tam, tamtamtam. Tam, tam, tamtamtam. Die Mädchen stolperten übereinander, alle noch fast geblendet und halb im Schlaf.

»Aufstellen, in einer Reihe aufstellen!«, erklang die helle, frische Stimme der Führerin.

Sie wuselten gehorsam durcheinander, bis sich eine Reihe gebildet hatte.

»Durchzählen!«, kam der nächste Befehl. »Eins – zwei – drei!« Geübt seit Jahren, auch noch im Schlaf gekonnt: Zahl hören, Kopf nach links reißen, nächste Zahl der Nachbarin ins Ohr schmettern und auf das »Rechtsum« warten. Dann im Trab hinter der Führerin her. Einmal ums Rondell, einmal ums Haus. Im Kreis aufstellen. Hüpfen. Rumpfbeugen. Federn. Laufen. Arme kreisen. Ein Wettlauf. Den Mädchen wurde endlich warm, und als die zehn Minuten herum waren, dampften sie alle. Wieder aufstellen, wieder durchzählen, dann im Trab ins Haus und waschen.