Codename Travertin

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4. Kapitel

Michélle riss Kommissar Krüger aus seinen Gedanken. „Leiche, Chef“, rief sie ihm fast eine Spur zu fröhlich, zu.

„Unnatürlich?“, gab er knapp zurück.

„Erstochen, ja!“

„Gut, Frau Guerin.“ Krüger stockte immer noch leicht bei diesem Namen. Stets musste er aufpassen, sie nicht mehr Frau Steinmann zu nennen. „Beim Auto, wie immer!“

Während der Fahrt versorgte sie Krüger, der nur dann selbst fuhr, wenn es nicht anders ging, mit ersten Informationen.

„Männliche Leiche, offenbar Stichverletzung. Liegezeit mindestens zwanzig Stunden, noch kein Name, keine Verdächtigen. Fundort: Rastplatz an der Bundesstraße!“

„Und dort liegt er schon so lange unentdeckt?“, fragte Krüger nach.

Michélle nickte nur.

„In einem Fahrzeug?“, mutmaßte Krüger.

Sie zuckte mit den Schultern. „Die Kollegen sprachen von Gebüsch.“

„Möglicherweise nur abgeladen.“

„Wir sind gleich da“, gab Michélle ausweichend zurück.

***

Doktor Holoch, der Pathologe, nickte den beiden zu, als sie am Fundort eintrafen. Auf Krüger wirkte er oft distanziert, außer bei Michélle.

„Madame Guerin! Wie schön, Sie zu sehen!“, schleimte der Doktor, während er ihr die Wagentür aufhielt.

Krüger, noch auf dem Beifahrersitz, wusste nicht, ob Holochs Gehabe bloß dazu dienen sollte, ihn zu ärgern oder ob der es ehrlich meinte. Auf jeden Fall musste er zugeben, dass „Madame Guerin“ viel eleganter klang als sein vergleichsweise holperiges „Frau Guerin“.

„Herr Doktor“, brummte Krüger. Demonstrativ kurz.

Er erntete ein knappes, „Herr Kommissar“, von Holoch, der offenbar lieber weiter mit Madame schäkerte, als Krüger Respekt zu zollen. Immerhin bemühte sich eine junge, uniformierte Beamtin, auch seine Wagentür zu öffnen, was Krüger mit einem möglichst spöttischen Lächeln in Richtung des Rechtsmediziners zu unterstreichen versuchte.

Vergeblich. Der Pathologe konzentrierte sich vollständig auf Michélle. Krügers kleiner Triumph versickerte in der Bedeutungslosigkeit.

Schulterzuckend wandte er sich ab und prägte sich den Fundort ein. Ein typischer Rastplatz an der Landstraße. Mehrere Bäume, Birken oder Espen, wie Krüger vermutete. Darunter standen einige grob gezimmerte Tische und Bänke. Eine asphaltierte Fahrspur, flankiert von gekiesten Stellplätzen, durchschnitt den Platz. Keine Gebäude, keine Toilette, keine Wasserstelle, registrierte er. Links, in Fahrtrichtung, begrenzte ein mit Büschen bewachsener Abhang die Landstraße, die sich, nur durch wenige Meter vom Parkplatz getrennt, in der Ferne verlor.

Außerhalb der Bäume, auf der rechten Seite, breitete sich ein großer Acker aus, den man nicht hätte durchqueren können, ohne deutliche Fußabdrücke zu hinterlassen. „Immerhin“, brummte Krüger vor sich hin.

Ein weißes Stoffzelt bezeichnete die Stelle mit dem Toten. Krüger näherte sich vorsichtig, die Augen fest auf den Boden gerichtet. Jedes Mal stellte er sich vor, einen Gegenstand zu finden, den die Techniker übersehen hatten. Bisher ohne Erfolg, aber das nahm er hin.

Der Tote wirkte seltsam friedlich. Das war wohl seinen geschlossen Augen und dem üppigen Grün zuzuschreiben, das ihn umgab. Das Zelt erweckte den Eindruck eines geschützten, geschlossenen Raumes. Natürlich störte der hölzerne Messergriff, der aus der Brust ragte, die Idylle ein wenig. Aber auf den ersten Blick hätte man das auch für einen abgestorbenen Ast aus dem Gebüsch halten können.

Krüger rief sich selbst zur Ordnung. Geschlossene Augen bei einem Mordopfer?

***

Doktor Holoch wiederholte auf der ersten Besprechung, die noch am Fundort stattfand, im Wesentlichen die Dinge, die Krüger bereits von Michélle erfahren hatte. Die Todesursache schien so offensichtlich, dass kaum darauf zu hoffen war, dass die Obduktion nennenswerte, andere Erkenntnisse zutage bringen würde. Der Mann dürfte auf der Parkbank erstochen und danach hier im Gebüsch notdürftig versteckt worden sein. Soweit die Fakten.

Die geschlossenen Augen wiesen möglicherweise auf eine Bekanntschaft zwischen Opfer und Täter hin, vermutete Holoch.

Für Krüger keine wirklich neue Erkenntnis. Das ergab sich für ihn allein aus der von Holoch zuvor erwähnten Tatsache, dass das Opfer beim Angriff gesessen haben musste und keinerlei Abwehrverletzungen aufwies. Er äußerte jedoch nichts Negatives über Holochs Vermutung. Schon öfters hatte ihm der Doktor mit seiner eigenen Sicht auf die Indizien nützliche Impulse geliefert.

Eher beunruhigend fand Krüger den Umstand, dass dieser Fall das Potential hatte, einer jener aussichtslosen Fälle zu werden, die sich jahrelang hinziehen und die er nur zu gut kannte. Dann nämlich, wenn es sich beim Täter um einen Fremden oder sogar um einen Ausländer handelte, der bestimmt nie wieder hier auftauchte. Wie sollte man so jemanden finden?

„Danke Herr Doktor“, brummte der Kommissar Holoch zu, um sich gleich darauf an Erwin Rohr, den Chef der Spurensicherung, zu wenden. „Bei dir, Erwin?“

Rohr wirkte bekümmert. „Bei Kiesplätzen ist die Spurensicherung oft sehr schwierig. Einige Blutstropfen, die kaum weiterhelfen werden, konnten wir sichern. Auch die schwache Schleifspur, die zur Leiche führt, haben wir untersucht. Das Ergebnis dieser Untersuchung, nämlich den Ablageort, hätte sich auch ohne den ganzen Aufwand leicht erkennen lassen.“

Krüger nickte tröstend. „Fußspuren? Im Acker?“ Er deutete auf das weite Feld.

„Keine frischen. Aber wir arbeiten daran“, gab Rohr zurück.

Ohnehin unwahrscheinlich, dass sich der Täter zu Fuß entfernt hatte. Der Tatort lag schließlich an einer Landstraße im Grünen, die dem Durchgangsverkehr diente. Mitten in der Pampa, dachte Krüger. Aber in seinem Bericht tauchten solche Begriffe natürlich nie auf.

Als Großstadtmensch aus Frankfurt sollte man die Befindlichkeiten der Provinz zu berücksichtigen wissen, hatte ihm einer seiner früheren Vorgesetzten einmal beigebracht. Lange her. Wie hatte der doch gleich geheißen?

Ich schweife dauernd ab, wies Krüger sich selbst zurecht. Weshalb konnte er sich bloß nicht richtig auf den Fall konzentrieren?

War Holoch schuld, der ihm Michélle zu entziehen versuchte?

Blödsinn! Er liebte doch Elisabeth, seine neue Lebenspartnerin, wirklich. Michélle war bloß eine begabte Assistentin, der er Fachwissen vermittelte und sie auch auf Führungsaufgaben vorbereitete. Seine potentielle Nachfolgerin. Und dazu frisch verheiratet.

Außerdem war das Ganze ja nichts Neues. Holoch, der sonst kaum auf Frauen reagierte, hatte Michélle schon immer sehr bevorzugt behandelt. Sah er in ihr vielleicht ebenfalls ein Stück weit die Tochter, die er gerne gehabt hätte?

Krüger selbst würde dies auf keinen Fall jemals zugeben. Aber das der Doktor solche Gedanken hegte? Kaum vorstellbar. Wahrscheinlich ging es doch nur darum, zu provozieren. Das passte zu Holoch. Ein ausgezeichneter Fachmann, daran gab es für Krüger keinen Zweifel. Jedoch Einer, der es liebte, allen in seiner Umgebung laufend kleine Brocken Nonsens vor die Füße zu werfen. Sicher nur eine Art Schutzfunktion. Schutz vor dem Grauen seines Berufes. Oder konnte tatsächlich jemand in Holochs Position eine solch unvorstellbare Gelassenheit an den Tag legen ohne irgendwelche Ersatzhandlungen?

Krüger schüttelte den Kopf. Holoch mochte exzentrisch sein. Aber zu einem Übermenschen reichte es dann doch nicht.

Michélles helles Lachen riss ihn aus seinen Gedanken. Natürlich stand sie dicht neben Holoch. Wo sonst, ärgerte er sich. Immerhin schrieb sie alle Fakten auf, so dass es kaum eine Rolle spielte, womit sich Krüger vor Ort beschäftigte.

Die junge Beamtin, die ihm die Türe aufgehalten hatte, sprach ihn schüchtern an. „Entschuldigen Sie, Herr Kommissar! Ich glaube, den Toten zu kennen. Nicht mit Namen, aber er arbeitet als Landesarchäologe, da bin ich mir ziemlich sicher!“

Holochs Präsenz verblasste augenblicklich. „Wie sicher?“, fragte Krüger zurück.

„Vor einigen Monaten hatten wir einen Skelettfund. Die Kochen waren aber schon ziemlich alt. Da habe ich den Herrn gesehen, als er die Fundstelle übernommen hat.“

„Dann könnte er ja ein Beamter sein“, nahm Krüger den Faden auf.

„Darüber weiß ich nichts, Herr Kommissar. Aber wenn Sie meinen.“

***

Am nächsten Tag konnte Krüger bereits mit ersten Ergebnissen aufwarten, die er Polizeirat Vogel berichtete. „Das Opfer, ein Beamter der Denkmalpflege, Jürgen Leimer, konnte zweifelsfrei identifiziert werden. Auch die Todesursache hat sich inzwischen definitiv bestätigt. Ein einziger Stich ins Herz.“

Vogel nickte. „Daran hatte Doktor Holoch von Anfang an festgehalten. Wie steht es mit der Fahrradspur, hat sich da was ergeben?“

Krüger nickte. „Ja. Jemand hat den Rastplatz mit einem Fahrrad durch den Acker verlassen, so viel steht fest!“

„Verlassen?“, wiederholte Vogel. „Könnte er nicht auch damit gekommen sein?“

Krüger räusperte sich vorsichtig. „Wir haben das Fahrrad am Ende der Spur gefunden, und es gibt nur die eine Spur, Herr Polizeirat.“

Vogel winkte ab. „Ja, klar!“

„Eigentlich ganz raffiniert“, erklärte Krüger. „Die Spur des Rades ist nicht zu übersehen, hilft jedoch am Ende wenig. Einen Fußabdruck, den wir auswerten und weiterverfolgen könnten, haben wir nicht. Deshalb setzen wir große Hoffnung auf den Fingerabdruck, der am Fahrrad sichergestellt werden konnte.“ Vogel sah ihn fragend an, deshalb ergänzte Krüger gleich: „Das Rad wurde flüchtig gereinigt. Deshalb gibt es nur einen brauchbaren Abdruck. Dieser ist allerdings von guter Qualität.“

 

Vogel wirkte zufrieden. „Einen Fehler machen alle, das ist unsere Chance“, stellte er fest.

Krüger wollte voreilige und dadurch möglicherweise falsche Schlüsse unbedingt vermeiden. „Es steht allerdings noch nicht fest, dass der Radler überhaupt etwas mit dem Delikt zu tun hat“, schwächte er ab.

Vogel stutzte kurz. „Das ist klar. Aber ich denke schon, dass man nicht grundlos durch einen Acker radelt und danach das Rad einfach liegenlässt. Noch dazu gereinigt.“

Da musste Krüger ihm Recht geben. „Ja, Herr Polizeirat!“

***

Frank Berger hatte den Rest des Tages und die folgende Nacht in seinem Zimmer verbracht. Schlaflos, ungeduldig wartend auf die stündlichen Nachrichten im Radio. An diesem Morgen beruhigte er sich nach und nach. Wenn die eine Spur von ihm hätten, wären sie längst da. Oder es hätte zumindest ein Zeugenaufruf im Radio laufen müssen.

Durch plötzliches Verschwinden würde er auch auffallen? Wahrscheinlich war es klüger, so zu tun, als ob nichts geschehen wäre? Kaum jemand wusste von seiner Beziehung zu diesem Denkmalpfleger. Und diejenigen, die es wussten, ihre gemeinsamen Kunden, würden die Klappe halten. Oder?

Der Gedanke, dass der Täter einer der Kunden sein könnte, ließe den Schluss zu, dass er, Frank, an dessen Stelle als Mörder angeschwärzt werden sollte.

Andererseits: Ihn kannte kaum jemand. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass man heimlich ein Foto von ihm geschossen hatte: Es blieb nicht mehr als ein Gesicht übrig. Dieser Frank Berger existierte ja nicht und war deshalb auch nicht auffindbar.

Noch einmal ließ er den Film in seinem Kopf ablaufen. Sah sich fröhlich pfeifend auf den Rastplatz rollen. Viel zu früh. Noch mehr als sonst. Nichts Auffälliges bemerkt.

Danach das Nickerchen, bis ihn der Idiot mit seinem Start geweckt hatte. Der Mörder? Oder auch nur ein zufälliger Zeuge, so wie er selbst? Der sich lieber aus dem Staub machte, anstatt die Bullen zu rufen? Das bedeutete, dass er nicht einmal sicher sein konnte, den Wagen des Täters gesehen zu haben.

Was war passiert, während er gepennt hatte? Geschrei oder ein Kampf konnten nicht stattgefunden haben. Davon wäre er aufgewacht. Bedeutete das, dass das Opfer nicht einmal mehr hatte schreien können?

Und das Motiv?

Ein Fundstück? Sie waren wertvoll, keine Frage. Jedoch dafür einen Mord riskieren? Und gleichzeitig den Lieferanten für immer verlieren?

Unwahrscheinlich. Je länger Frank über den Mord nachdachte, desto unwirklicher erschien ihm der Gedanke, dass das Leben des Denkmalpflegers von einem seiner Kunden ausgelöscht wurde. Zu Ende gedacht bedeutete das, dass Frank eigentlich überhaupt nichts wusste.

Wie konnte er seinen eigenen Abgang einstufen? Auf der Straße zu fliehen wäre vermutlich weniger auffällig gewesen. Aber dafür die Wahrscheinlichkeit, dabei gesehen zu werden, um ein Vielfaches höher.

Das Rad, das er zurückgelassen hatte, gehörte ihm nicht. Er hatte es „ausgeliehen“. Schon vor einiger Zeit. Immerhin möglich, dass die Polizei den richtigen Besitzer ermittelte und einige Zeit mit ihm beschäftigt sein würde. Und das die Presse über die Sache berichtete.

Einfach die Nerven behalten und nur reagieren, wenn es notwendig wurde. Das hatte man ihm in der Ausbildung beigebracht. Sorgfältiges Analysieren. Stillhalten, bis das Interesse abflaute.

5. Kapitel

Erwin Rohr grinste verstohlen, als er in Krügers Büro auftauchte. Dieser ließ die Akte sinken, in der er gerade las, und musterte ihn. „Du bist ein offenes Buch, Erwin. Was hast du entdeckt?“

„Du wirst es kaum glauben“, gab Rohr zurück. „Der Fingerabdruck auf dem Fahrrad …“

Krüger wartete gespannt. „Ja, was ist damit?“

„Wir haben einen Treffer!“

„Wirklich? Wer ist es denn?“

„Unbekannt“, gab Rohr verlegen zu.

„Also wirklich, Erwin, was hast du davon?“

„Na, ja, unbekannt stimmt. Aber trotzdem interessant. Es ist der Gleiche, den dieser Beamte aus Berlin mitgebracht hatte!“

Krüger begriff noch nicht vollständig. „Von dieser Leiche aus dem Hotel?“, fragte er nach.

„Nein“, wehrte Rohr ab, „nicht von der Leiche. Derjenige aus der Akte, der dann nicht gestimmt hat.“

„Lass mich mal rekapitulieren“, begann Krüger. „Du hast eine Übereinstimmung mit dem Fingerprint eines mutmaßlichen Spions aus dem Kalten Krieg am Tatort? Das willst du damit sagen!“

Rohr nickte.

„Die haben doch was verwechselt“, brummte Krüger.

„Wer?“, wollte Rohr wissen.

„Ja, die in Berlin. Bei dieser Behörde. Da liegen doch Unmengen von Akten herum, von denen keiner weiß, was zusammengehört und was nicht!“

„Das steht auf einem Blatt“, wehrte Rohr ab. „Das kann man nicht verwechseln. Höchstens mit Absicht manipulieren.“

Krüger zuckte mit den Schultern. „Und wozu?“

„Keine Ahnung“, antwortete Rohr. „Ich habe natürlich auch zuerst nach einer Erklärung gesucht, bevor ich zu dir gekommen bin. Aber ich finde keine, bei der ein Zufall oder ein Versehen möglich scheint. Die beiden Abdrücke sind identisch, daran besteht kein Zweifel. Das habe ich schon nachgeprüft. Und ich selbst habe diesen Abdruck gestern gesichert, auf diesem Fahrrad. Also an dieser Stelle ist alles klar!

Woher oder wie die in die Akte gekommen sind“, fuhr Rohr fort, „das ist das Eine. Und an dieser Stelle wäre eine Manipulation vorstellbar. Das Andere“, jetzt zuckte er mit den Schultern, „das Andere ist einfach das, wonach es im Moment aussieht. Ein ehemaliger Spion ist in einen aktuellen Mord verwickelt. An einem Zeugen vielleicht. Jemand hatte den Spion erkannt und erpresste ihn, zum Beispiel. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, findest du nicht auch?“

Krüger seufzte. „Ich habe von Anfang an gedacht, dass das ein seltsamer Fall ist. War erst nur so ein Gefühl.“

Rohr legte den Bericht, den er die ganze Zeit hinter dem Rücken gehalten hatte, auf Krügers Pult. „Ich liefere die Fakten und ihr die Erklärungen dazu“, sagte er lächelnd.

„Das bleibt im Moment noch unter uns, Erwin“, bestimmte Krüger. „Darüber muss ich zuerst nachdenken!“

„Tut mir leid. Im AFIS-System ist das jetzt schon drin“, erwiderte Rohr. „Da kann ich nichts mehr machen!“

„Schon klar“, antworte Krüger. „Das ist kein Problem. Nur wer Zugriff und das Wissen über die Zusammenhänge hat, kann damit was anfangen. Ich denke da eher an die Presse. Stell dir vor, wenn was durchsickert!“

Rohr zog sich zurück. Eine Bemerkung über Krügers Angewohnheit, die Fälle mit seiner Lebenspartnerin zu besprechen, verkniff er sich. Offiziell wusste er nichts davon, aber Krüger ließ es ab und zu durchblicken. Aber sie gab nichts weiter, davon war auch Rohr überzeugt.

***

Herbert Fleischer wirkte nervös, als er in dem tiefen Sessel des Restaurants, das als Treffpunkt diente, auf Michael Gerteis wartete. Das Unvorstellbare war eingetroffen. Lehmanns Fingerabdrücke waren bei einer Routineanfrage im System aufgetaucht. Dass es sich um die Prints eines EX-Spions handelte, war im AFIS nicht hinterlegt. Deshalb hatte die Anfrage auch keinen Alarm ausgelöst.

Herbert konnte nur hoffen, dass es sonst keiner bemerken würde. Er hatte seinen Computer so eingestellt, dass er eine Meldung erhielt, wenn dieser Datensatz angewählt oder verändert werden sollte. Zu den Gründen einer AFIS-Abfrage erhielt Herbert keine automatische Auskunft. Lediglich die Information, von welcher Stelle die Anfrage stammte, konnte er einsehen. Normalerweise würde man sich bei Bedarf an die entsprechenden Kollegen wenden.

Dienststelle Freiburg. Ein Abgleich, der einen Treffer ergeben hatte. Unbekannt, Gott sei Dank. Aber ein Treffer blieb ein Treffer. Das konnte alles Mögliche auslösen.

Endlich tauchte Michael Gerteis auf und ließ sich neben ihn in den Sessel sinken. „Du hast Neuigkeiten?“, fragte er gespannt.

Herbert nickte und schob ihm einen Hefter zu. „Da drin findest du alles nochmal zum Nachlesen“, gab er zurück.

„Mach es nicht so spannend“, forderte Gerteis.

Er hörte aufmerksam zu, bis zu der Stelle, an der Fleischer erwähnte, dass in Freiburg bereits eine Wohnung geräumt werde.

„Moment mal. Du erwartest, dass ich nach Freiburg ziehe?“, unterbrach er aufgebracht.

„Du bist der Einzige“, gab Fleischer ungerührt zurück, „der ihn kennt!“

„Nein, nein, das könnt ihr vergessen! Ich bin in Rente und raus aus der Sache“, wehrte Gerteis ab.

„In Rente ja, aber raus, das bist du nicht. Und das weißt du auch.“

„Trotzdem. Es muss bessere, jüngere Leute geben“, wandte Gerteis ein. „Einen Rentner als Fahnder, das muss schiefgehen!“

„Wir lassen dich nicht ganz allein“, beruhigte Fleischer. „Trotzdem, du musst ihn finden. Den Rest kannst du dann uns überlassen. Aber es eilt, verstehst du? Jeden Tag kann die Bombe platzen!“

„Ihn finden, in einer Stadt? Wie stellt ihr euch das vor?“

„Freiburg ist eine mittelgroße Stadt mit klar begrenztem Zentrum“, versuchte Fleischer, zu beruhigen. „Das er dir da über den Weg läuft, ist gar nicht so unwahrscheinlich. Falls er tatsächlich noch am Leben sein sollte. Was eigentlich gar nicht sein kann.“

„Ich bin doch kein Praktikant, Herbert! Ich kenne das Geschäft“, tadelte Gerteis.

„Was Besseres habe ich einfach im Moment nicht für dich“, presste Fleischer hervor. „Ich arbeite daran, eine ganze Gruppe auf alle gemeldeten Lehmanns in Freiburg anzusetzen. Sie werden uns Fotos liefern, die du prüfen kannst.“

***

Immerhin lag die Wohnung direkt im Zentrum. Ein großzügig renovierter Altbau, den sich Gerteis niemals hätte leisten können. Regelmäßig erhielt er Besuch von Fleischer, der ihm wie angekündigt Fotos aller in Freiburg und Umgebung gemeldeten Lehmanns zwischen dreißig und fünfzig vorzeigte. Bisher ohne Erfolg.

Ebenso erfolglos blieben die vielen Spaziergänge, die Gerteis jeden Tag an belebte Orte der Stadt führten: Bahnhof, Münster, die Gassen der malerischen Altstadt.

Dass es mit dieser Methode praktisch unmöglich sein dürfte, einen ehemaligen Agenten aufzuspüren, blieb bei den Gesprächen mit Fleischer tunlichst unerwähnt.

Fleischer ließ schließlich mit einigem Aufwand am Bahnhof eine gut getarnte Kamera anbringen, die den Menschenstrom direkt in die Wohnung übertrug. „Jeder geht mal zum Bahnhof“, so die Begründung, die kaum von der Hand zu weisen war. Vorausgesetzt natürlich, der Gesuchte lebte überhaupt in der Stadt.

Gerteis verbrachte unzählige Stunden vor dem Monitor. Es kam ihm vor wie damals, als es zwar nicht an Mitarbeitern gemangelt hatte, dafür aber umso mehr an Ausrüstung.

Damals hatte das dazu geführt, dass sie preiswerte Methoden entwickelt hatten. Den Mangel genutzt hatten, anstatt ihn zu beklagen.

Die Aufnahme blieb für einige Stunden aufgezeichnet. Gerteis konnte in einem Schnelldurchlauf vorsortieren. Falls es einen Treffer geben sollte, konnte er direkt aus dem Film ein Standbild erstellen, um Lehmann damit zu identifizieren.

Sobald ein brauchbares Foto vorlag, wurde der Rest vergleichsweise zum Kinderspiel. Lehmann würde unauffällig von der Bildfläche verschwinden. Die Leiche in einer entlegenen Gegend begraben, vorzugsweise in unzugänglichem Gehölz, das der nahe gelegene Schwarzwald zuhauf anbot. Was bedeutete ein weiterer Verschwundener, angesichts der Zahl, die das System schon gefordert hatte. Im Stillen würden diejenigen, die dadurch unentdeckt blieben, ihm möglicherweise für sein Opfer dankbar sein. Immerhin besser, als völlig umsonst gestorben zu sein. Darin waren sich Fleischer und Gerteis einig.

***

Nach zwei Wochen war der Fall des Denkmalpflegers Jürgen Leimer bereits aus der täglichen Berichterstattung verschwunden. Spekulationen über eine heimliche Geliebte hatten sich nicht bewahrheitet. Selbst nach intensiven Recherchen durch die Presse hatte sich kein nennenswerter Skandal gefunden.

Franks Befürchtung, gesehen oder verpfiffen worden zu sein, verflüchtigte sich mit jedem Tag, der verging, etwas mehr. Wozu also die Gegend verlassen, an die er sich inzwischen so gewöhnt hatte. Für ihn als Heimatlosen war sie zu einem wichtigen Teil seiner Existenz geworden. Die Wurzeln, die er hier geschlagen hatte, waren die ersten seit Langem.

Die Polizei schien sich auf einen normalen Raubüberfall festgelegt, zu haben. Ein Unbekannter auf Durchreise, der auf ein Zufallsopfer gestoßen war.

 

Nur einige Plakate, die mögliche Zeugen aufriefen, sich bei der zuständigen Behörde zu melden, hingen noch da und dort und erinnerten an den Mord. Von intensiven Ermittlungen jedoch keine Spur.

Einer weniger, war offenbar die Arbeitshypothese, dachte Berger. Was soll`s? Der Mann hinterließ keine Familie, die Druck ausübte, spann er den Gedanken weiter. Von dem würde bloß eine dünne Akte übrig bleiben, die im Archiv verstaubte. Und vielleicht stiftete ihm der Staat dazu noch einen halbwegs ansehnlichen Grabstein.

Den auch schon bald keiner mehr beachten würde.

Wenn es ihn selbst erwischt hätte, überlegte Frank, würde es einfach bei der Akte bleiben. Da war der doch noch deutlich besser gestellt als er. Oder etwa nicht?

Frank konnte ein Grinsen beim nächsten Gedanken nicht unterdrücken. Wenn der Denkmalpfleger einmal in ferner Zukunft von Schatzsuchern ausgraben werden sollte, dann würden die bestimmt darauf schließen, dass er ein absolut unwichtiger Vorfahr gewesen sein musste. Jedenfalls keinerlei Beigaben wert.

***

So untätig wie es schien, blieb die Polizei natürlich nicht. Allerdings verlief die Auswertung der Spuren rasch im Sand. Die Techniker hatten viel Müll aufgesammelt und dutzende von Reifenspuren gesichert. Etliche Münzen, zwei einfache Schmuckstücke und ein offenbar vor längerer Zeit verlorener Schlüssel stellten die markantesten Funde dar. Ein direkter Zusammenhang mit dem Mord fand sich an keinem der Stücke. Mit Reifenspuren, die von einem solchen Rastplatz stammten, konnte man zwar einen klaren Verdacht erhärten oder entkräften. Aber für eine Suche ohne weiteren Anhaltspunkt blieben sie unbrauchbar.

Alle Hoffnung ruhte jetzt auf der Tatwaffe. Der dunkle Holzgriff des Messers mit den großen, gelb glänzenden Messingnieten und der fünfzehn Zentimeter langen Klinge musste irgendwo irgendwem aufgefallen sein. Die Nieten waren auffallend sorgfältig eingearbeitet. Die matt schimmernde Klinge verwies auf Stahl bester Güte. Kein billiges Küchenutensil. Eher das Werkzeug eines Meisters. Eines Kochs oder eines Schlachters?

Oder stammte es lediglich aus dem Besitz eines Ignoranten, der es sich einfach leisten konnte?

Genauso sehr, wie das Teil auffiel, sollte doch auch sein Fehlen bemerkt werden. Das wäre zumindest zu erwarten.

Solche Ermittlungen benötigten jedoch meistens sehr viel Zeit. Und ob die Herkunft des Messers wirklich weiterhelfen konnte, stand in den Sternen. Hätte es dem Täter schon längere Zeit gehört, hätte er es wohl kaum zurückgelassen.

Die Information über den am Fahrrad gefundenen Fingerabdruck hielt Krüger immer noch zurück. Offiziell, um den Täter in Sicherheit zu wiegen. In Wirklichkeit traute er dem Ergebnis nicht ganz. Ohne klaren Grund. Für Krüger war dieser Print einfach zu sehr im „richtigen Moment“ aufgetaucht. Das fand er einfach „zu glatt“.