Codename Travertin

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6. Kapitel

Freddy Endtinger biss sich genervt auf die Lippen. Jetzt ließ es sich nicht mehr ignorieren. Sein Fundstück von unschätzbarem Wert erwies sich als schwer verkäuflich. Nicht nur, weil sich eine solche Sensation längerfristig ohnehin nicht geheim halten ließ. Sondern auch, weil es inzwischen der dritte interessierte Käufer gewesen war, der es als plumpe Fälschung bezeichnet hatte. Das glaubte Freddy immer noch nicht. Aber seine bisher unerschütterliche Überzeugung, sein Wissen sei umfassend und das Fundstück echt, hatte doch erste Risse bekommen.

Nicht nur schlecht für sein Ego. Freddy hatte in Anbetracht des zu erwartenden Reichtums den einzigen Mitwisser gezielt zum Schweigen gebracht. Teilen gehörte nicht zu Freddys bevorzugten Eigenschaften. Deshalb konnte und durfte es einfach nicht anders sein. Die Platte mit dem eingekratzten Muster zeigte ein Sonnensystem mit Planeten und ihren Monden, wie es heute jedermann kennt. Die Knotenornamente am Rand dagegen, deuteten ganz klar auf den keltischen Ursprung hin. Also wussten die Kelten bereits über die Himmelsmechanik Bescheid. Schon vor mehr als tausend Jahren.

Das hatte Freddy zunächst natürlich auch nicht geglaubt. Aber der Anbieter hatte einige fundierte Argumente vorgebracht, die Freddy alle nach und nach sorgfältig überprüft hatte. Für einen Laien war es kaum nachvollziehbar. Aber der Fachmann konnte nicht bestreiten, dass diese Darstellung den Sinn einiger bisher entdeckter keltischer Kultplätze, ein Stück weit erklären konnte.

Außerdem hatte Freddy von diesem Händler schon länger regelmäßig kleinere Fundstücke gekauft. Die waren immer echt gewesen und gut gelaufen. Das bewies, dass er über eine kompetente und seriöse Quelle verfügte. Getroffen hatten sie sich stets auf dem gleichen Rastplatz an einer wenig befahrenen Landstraße. Ganz in der Nähe lag eine Bushaltestelle, von der ein Trampelpfad über eine kleine Anhöhe zu dieser Straße führte. Der ein unauffälliges Kommen und Gehen ermöglichte. Genau so professionell ausgesucht wie der übrige Ablauf der Geschäfte.

Immer wieder zeigte ihm der Verkäufer, der sich „Meyer“ nannte, eine Fotografie seines Prunkstückes. Dieser Platte. Nach und nach senkte er auch den Preis. Freddy war klar geworden, dass bald jemand zuschlagen würde, wenn er es nicht selbst tat.

Als er dann endlich das Stück zu ersten Mal in der Hand halten durfte, sah er sofort, dass es echt sein musste. Diese Patina auf Bronze entstand nur in Jahrhunderten im Boden. Das ließ sich nicht so überzeugend fälschen. Dass er selbst vom Fach war, hatte Freddy dem Verkäufer von Anfang an verschwiegen. Der scheute offenbar die viele Arbeit oder ihm fehlten einfach die notwendigen Kenntnisse, die ihn selbst reich machen würden. Lieber schnelles, unkompliziertes Geld erhalten. Ein unverkennbares Merkmal der meisten Dummköpfe.

Sie hatten ausgemacht, dass Freddy für hunderttausend Mark zum neuen Besitzer werden sollte. In einer Woche, am gleichen Platz.

Er besaß zwar einen Führerschein, jedoch kein Auto. Wie sollte er die Platte unauffällig abtransportieren? Auch dafür bot ihm der Verkäufer eine einfache Lösung an. Freddy konnte das Fundstück zusammen mit einem alten Kleinwagen übernehmen. Einzige Bedingung: Den Wagen musste er noch am gleichen Tag zurückbringen. Freddy hatte sich mit einer kleinen Einschränkung daran gehalten und die alte Büchse an einem ruhigen Waldweg abgestellt.

Natürlich konnte Freddy die Summe nicht einmal ansatzweise aufbringen. Aber er besaß ein Messer, mit dem er gut umgehen konnte. Eigentlich passte es bestens. Das Messer war selbst auch ein Fundstück. Nicht aus der Erde, es hatte ganz einfach auf einer Parkbank gelegen. Also ideal, um gleich eine Spur zu legen, die in eine ganz andere Richtung führte.

Für Freddy schien es die Gelegenheit, auf die er schon seit Jahren gewartet hatte. Sein inzwischen zehnjähriges Studium der Archäologie sollte direkt zu Geld führen. Ohne schmutzige Hände. Blutige nahm er dazu eher in Kauf, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Außerdem war der Verkäufer selbst schuld, wenn er nicht wusste, dass der Besitz solcher Dinge auch gefährlich sein konnte. Wenn er zum Beispiel an die Mafia geraten wäre …

Die hätten ihn genauso umgelegt. Manchmal waren harte Maßnahmen einfach unumgänglich. Kein Platz für Dumpfbacken in großen Geschäften. Das wurde jedem klar, wenn er darüber nachdachte. Aber Nachdenken setzte eine gewisse Intelligenz voraus. Womit sich der Kreis schloss.

Freddy selbst wusste genau, wo seine eigenen Schwächen lagen. Die Geduld fehlte ihm einfach. Sein Fundstück würde ihm reich machen. Sehr reich sogar. Aber nur wenn er es schaffte, abzuwarten.

Sonst beginge er ja den gleichen Fehler wie Meyer. Selbstverständlich ließen sich ihre Gründe nicht vergleichen. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass es nicht trotzdem zum gleichen Ergebnis führen konnte.

Für Freddy eine glasklare Sache. Und genau dieses Wissen sorgte für den Unterschied. Ihm wäre nicht so leicht, beizukommen, wie diesem unsäglichen Trottel.

***

Kommissar Krüger runzelte ungläubig die Stirn: „Und das haben die erst nach drei Wochen gemerkt?“

Otto Grünwald, zusammen mit Thomas Sieber sein Dienstältester Assistent, hob hilflos die Hände. „Ja, Chef! Ist eine alte Karre. So ein Kleinwagen oder ein Frauenauto.“

„Vorsicht, Otto!“, mahnte Krüger.

„Sie wissen, was ich meine, Chef.“

„Und dieses Fahrzeug ist seit drei Wochen einfach nicht mehr da? Und keiner merkt´s?

„Das Museum hat rund dreißig eigene Fahrzeuge in der Garage. Die kann jeder Mitarbeiter mit Fahrberechtigung einfach nehmen. Außer den Chefs hat niemand ein fest zugeteiltes Auto. Jürgen Leimer war offenbar der Einzige, der sich noch mit der Antiquität zufriedengab. Passt ja auch zu ihm, irgendwie.“

Krüger grinste nur kurz. „Das wäre vermutlich die entscheidende Spur gewesen, wenn wir davon gewusst hätten“, stellte er genervt fest. „Was haben Sie schon unternommen, Otto?“

„Fahndung ist raus. Sieber ist unterwegs zum Museum, um den Verantwortlichen für den Fuhrpark zu befragen. Das ist alles, im Moment.“

Krüger sah ihn nachdenklich an. „Woher stammte eigentlich die Annahme, dass Leimer nicht selbst auf diesen Rastplatz gefahren ist?“

„Erstens hatte er eine Busfahrkarte in der Tasche und zweitens von seiner Sekretärin: Er habe die Umgebung zu Fuß erkundet, um das Gelände besser lesen zu können. Hingefahren sei er immer mit dem Bus. Das hat sie ausgesagt.“

„Dann könnte es sein, dass Leimer sie mit Absicht falsch informiert hat, um ungestört zu sein“, überlegte Krüger laut. „Aber was könnte er bei sich gehabt haben, dass einen Raubmord provoziert hat?“

„Den Wagen wohl kaum?“, gab Grünwald zurück.

„Natürlich nicht, Otto“, tadelte Krüger.

„Könnte er vielleicht Antiquitäten verscherbelt haben?“, mutmaßte Grünwald weiter.

„Kein Wort davon in einem Bericht, bis wirklich ein konkreter Anhaltspunkt auftauchen sollte“, mahnte Krüger. „Einen so schwerwiegenden Vorwurf gegenüber einem ermordeten Beamten zu erheben, ist äußerst heikel. Ich gebe zu, dass ich auch schon daran gedacht habe. Der Ort und die Tageszeit sprechen dafür. Es sieht wirklich danach aus, dass Leimer ein Treffen gehabt hat, von dem sonst niemand wissen sollte. Mit der angeblichen Erkundung als Tarnung.“

***

Frank konnte es noch einige Monate ohne Verdienst aushalten, wenn er wollte. Aber die Schatzsuche hatte ihm gefallen. Weshalb es nicht einmal an einem anderen Ort versuchen. An einem dieser Punkte, die er in einer TV Doku gesehen hatte. Nicht direkt an einem solchen Platz, so blöd war Frank natürlich nicht. Aber in der Nähe oder auf einem der Zugangswege. Wenn er nach den gelernten Kriterien einen bekannten Fundort untersuchte, würde er bestimmt einen interessanten Platz finden. Eine Stelle, die nicht schon durch ganze Horden von Sondlern abgegrast wurde.

Nachdenklich breitete er eine Karte der Bundesrepublik auf seinem Bett aus. Karlsruhe schien vielversprechend und noch in Reichweite. Ein größeres Waldstück neben der Stadt, unterhalb von Durlach und Pfinztal gelegen, entsprach den Kriterien. Dort musste es alte Steige und vielleicht auch Naturdenkmale geben, die die Menschen schon sehr lange kannten. Gewissheit konnte jedoch nur eine Suche vor Ort bringen. Fast wie Urlaub, dachte Frank. Morgen würde er sich auf den Weg machen, ohne die Zelte hier ganz abzubrechen. Ein paar Stunden mit der Bahn, so weit weg lag das nicht. Und wenn ihm die Gegend gefallen sollte, konnte er immer noch umziehen. Bei „Umzug“ musste er unwillkürlich grinsen. Ein Wort, welches eigentlich nur existierende, sesshafte Menschen kannten. Wie sollte er es für sich nennen? Treibgut fiel ihm ein. Das passte schlecht. Obschon es irgendwie an vertrieben erinnerte. Aber er war kein Vertriebener. Eher ein Überflüssiger.

Mit einem kühlen Bier versuchte er die aufkommenden schlechten Gedanken, zu verscheuchen. Irgendwann würde er auffliegen. Er konnte auf der Straße zusammenbrechen und in eine Klinik gebracht werden. „Wer sind Sie? Ihr Wohnort und welche Krankenversicherung?“

„Niemand und nirgends“, würde er antworten müssen.

Vermutlich würde jemand die Polizei rufen. Oder ihn gleich in die Klapse einliefern. Am Ende vielleicht die bessere Lösung?

***

Schläfrig saß Michael Gerteis vor dem Monitor, der ihm Bilder des Gedränges auf der Treppe im Bahnhof direkt in die Wohnung brachte. Es kam ihm wie ein Blitz vor. Ein Gesicht, welches ganz kurz aufleuchtete. Das war Lehmann gewesen. Heinrich Lehmann. Einer seiner früheren Spione.

Gerteis rieb sich die Augen. War es eine Einbildung gewesen oder hatte er gerade einen unglaublichen Treffer gehabt. Die Zweifel wuchsen schnell. Lehmann war nicht nur kaum auf diese Weise zu finden, sondern auch noch tot. Er musste sich geirrt haben. War ja auch kein Wunder, wenn man sich stundenlang nur vorbeiziehende Gesichter ansieht, dachte er. Einmal musste das Gehirn die Notbremse ziehen.

 

Das Standbild ruckelte Stück für Stück zurück. Keine Spur von Lehmann. Gerteis winkte geistig schon ab. Nur Einbildung. Nur noch ein kleines Stück zurückfahren, um sicher zu sein. Wenn Fleischer wüsste, wie viel Film im Halbschlaf an ihm vorbeizog. Aber er schaffte einfach nicht mehr. Diese Masse von Gesichtern ohne jede Handlung schläferte jeden … Da! Da war es wieder gewesen. Lehmann. Gerteis war inzwischen so nervös, dass er es kaum noch schaffte, den Film an der richtigen Stelle anzuhalten. Er kannte viele Menschen, die sich im Laufe der Jahre deutlich verändert hatten. Aber Lehmann sah immer noch genauso aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. Es konnte sich höchstens um einen Zwilling handeln. Aber der existierte nicht. Gerteis wusste fast alles über Lehmann. Zumindest über den Lehmann von früher.

Tausend Dinge fielen ihm ein. Er musste sofort Fleischer informieren. Waldtraut musste so schnell wie möglich aus der Öffentlichkeit verschwinden. Bevor Lehmann sie erkannte.

Waldtraut verschwinden zu lassen war nicht möglich. Sie stand in der entscheidenden Phase des Wahlkampfes, fiel ihm ein. Es blieb nur die Alternative. Lehmann musste verschwinden. Und er gefährdete nicht nur Waldtraut. Sondern auch Gerteis selbst. Und mit ihm einige hundert pensionierte Genossen, die einen sorglosen Ruhestand genossen. Darüber hatten sie oft gelacht. Dass ausgerechnet der Klassenfeind sie zu dem werden ließ, wofür sie sich früher gehalten hatten.

Gerteis versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er konnte immer noch so tun, als sei nichts gewesen. Wenn er alles abhob, was auf seinen Konten lag, würde es für ein paar Jahre in Kanada oder irgendwo in Südamerika reichen.

Weshalb musste ausgerechnet er sich darum kümmern? Hatte er nicht schon genug geleistet? Unwillkürlich ging ihm durch den Kopf, wie sehr er sich heimlich geschämt hatte, als er von der neuen Behörde mit seinen angeblichen Verdiensten in den Ruhestand verabschiedet wurde. Jetzt wäre der Moment, wo er sich das damalige Lob verdienen könnte.

Aber wozu? Besser an sich denken und verschwinden. Jedoch sie würden ihn überall finden. Nicht die, die ihn für einen Ehrenmann hielten. Diejenigen, die er verraten würde, wenn er sich aus dem Staub machte.

Der Tod eines Einzelnen konnte sich lange hinziehen, das wusste Gerteis nur zu gut. Und die würden genauso davon überzeugt sein, das Richtige zu tun, wie er es früher selbst gewesen war.

Trotz beginnender heftiger Kopfschmerzen griff er zum Telefon. Fleischers aktuelle Nummer wusste er auswendig. Vor wenigen Tagen gelernt und sofort abrufbar. Genau wie Früher. Er konnte nur hoffen, dass er etliche dieser Eigenschaften noch besaß. Fleischer erwartete das. Also ging es um Pflicht. Und damit brauchte er keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden was richtig oder falsch war.

Er würde funktionieren. Und nicht nur er. Ein letztes Mal konnte der Apparat anlaufen. Lehmann hatte keine Chance.

***

Eine neue Spur brachte meistens in schleppende Ermittlungen neuen Schwung. Jedoch nicht im Fall Jürgen Leimer. Die Suche nach dem Wagen blieb zunächst erfolglos und die Befragung des Museumspersonals führte in eine Sackgasse. Jemand hatte offenbar die Vermutung gestreut, dass die alte Kiste endlich auf dem Schrottplatz gelandet sei, womit sich jede weitere Diskussion erübrigte. Der zuständige Verwalter des Fahrzeugparks hatte zudem erklärt, dass wirklich nur noch Leimer den Wagen benutzt hatte.

Den Ablauf des Mordes konnte von Doktor Holoch anhand der Verletzungen ziemlich genau dokumentiert werden. Leimer hatte zuerst einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf erhalten, bevor ihm das Messer ins Herz gerammt wurde. Vor dem Schlag hatte er offenbar eine gebückte Haltung eingenommen. Wie wenn er in ein Behältnis geschaut hätte oder sich auch nur einen Schuh binden wollte. Den Schlag hatte er bestimmt nicht kommen gesehen. Keine sehr schwere Verletzung. Ob er davon nur benommen oder ohne Bewusstsein geblieben war, ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen.

Kommissar Krüger spielte mehrere Varianten eines möglichen Treffens auf diesem Rastplatz durch. Ausgehend von Personen die sich verabredet und auch von solchen, die sich zufällig getroffen hatten. Das dichte Gebüsch konnte leicht als Versteck gedient haben, wenn es jemand darauf abgesehen hatte, einfach wahllos Reisende zu überfallen, die nur eine Rast einlegen wollten.

Die Blutspuren an der Parkbank sprachen dafür, dass Leimer dort Platz genommen hatte. Ein im Sitzen erstochenes oder erschlagenes Opfer kannte normalerweise seinen Mörder. Wenn er sich nicht von hinten angeschlichen hatte.

Wirklich neue Erkenntnisse ergaben sich kaum. Keine Variante erwies sich als sehr viel wahrscheinlicher als die andere.

Deshalb entschloss sich Kommissar Krüger dazu, genauere Nachforschungen über Jürgen Leimer selbst anzustellen. Hatte er irgendwelche Geschäfte am Laufen gehabt, die ihn in Gefahr gebracht haben konnten?

Polizeirat Vogel hatte zögernd zugestimmt, jedoch absolute Diskretion verlangt. Noch galt Jürgen Leimer als vorbildlicher Beamter und das musste so bleiben, bis absolut stichhaltige Beweise vorlagen.

Wie auch immer. Desto mehr Zeit verstrich, desto unwahrscheinlicher wurde eine Aufklärung der Tat. Höchstens ein Zufall oder ein Hinweis aus unerwarteter Richtung konnte jetzt eine entscheidende Wendung bringen.

7. Kapitel

Schon seit mehreren Tagen saß Gerteis nicht mehr allein vor seinem Monitor. Fleischer hatte jeden verfügbaren Mann zur Suche nach Lehmann abgestellt. Der hatte die Stadt offenbar mit der Bahn verlassen und jetzt warteten alle darauf, dass er zurückkehrte. Die Warterei zehrte an den Nerven. Sich tagelang, ohne Pause zu konzentrieren war einfach nicht möglich. Aber Lehmann durfte nicht entwischen. Sobald er sich zeigte, würde die Jagd richtig beginnen. Ein Team mit Lieferwagen sollte ihn entführen und in den Schwarzwald bringen. Das Grab war bereits ausgehoben und wartete gut getarnt unter Tannenzweigen auf seinen vorgesehenen Inhalt.

Mit jeder Stunde wuchs die Nervosität. Hatte Lehmann den Bahnhof durch einen anderen Ausgang verlassen? War er nur auf der Durchreise gewesen und würde gar nicht mehr in Freiburg auftauchen? Das allerschlimmste Szenario: Lehmann war bereits auf dem Weg nach Berlin um Waldtraut zur Rede zu stellen. Deshalb wurde sie rund um die Uhr bewacht wie noch nie. Um schnell eingreifen zu können. So unauffällig wie in Freiburg würde das allerdings in Berlin kaum noch möglich sein. Fleischer rechnete damit, Lehmann schlimmstenfalls auf offener Straße erschießen zu müssen.

Mit allen Konsequenzen, die ein solches Vorgehen mit sich bringen würde. Es war nicht mehr zu vermeiden gewesen, Waldtraut einzuweihen. Sie hatte die Nachricht scheinbar gelassen aufgenommen. Erst als Fleischer sie über die vorgesehenen Maßnahmen informierte, verlor sie die Contenance.

„Seid ihr völlig vom wilden Affen gebissen!“, herrschte sie ihn an. „Es wird doch noch möglich sein, einen Mann von mir fernzuhalten, ohne gleich einen ganzen Krieg anzuzetteln. Glaubt ihr vielleicht, dass ich mir das leisten kann? Ich will nichts merken! Gar nichts! Ist das klar?“

Fleischer blieb keine andere Wahl, als kleinlaut zuzustimmen. Es gab ohnehin nicht nur eine Möglichkeit, bei der sie nicht mehr eingreifen konnten. Wenn Lehmann zum Beispiel plötzlich in einer Talkshow auftauchte. Dann war es vorbei. Oder wenn er sich direkt an die Presse wandte.

Und Waldtraut würde bestimmt nicht zögern, sie alle mit in den Abgrund zu reißen.

***

Frank genoss inzwischen die ruhige Gegend bei Karlsruhe. Schnell hatte er sich mit einer privaten Vermieterin auf ein Arrangement ohne behördlichen Segen geeinigt. Zehn Tage zum Preis einer Woche. Einige Funde konnte er bereits verbuchen. Allerdings nur Teile, die aus dem Zweiten Weltkrieg stammten und ihn nicht wirklich interessierten. Frank suchte ohnehin nur auf Sparflamme. Sein letzter Urlaub lag Jahre zurück. Er genoss es, am Tag ziellos durch den Wald zu streifen. Am Abend ließ er sich meistens in einem Gasthaus verwöhnen. Die Sonde setzte er nur ein, wenn ihm eine Stelle besonders vielversprechend erschien. Er grub auch längst nicht mehr alles aus. Das Signal verriet ihm als zunehmend geübten Benutzer, ob es sich um ein massives Teil handelte oder doch nur um einen lausigen Kronenkorken.

***

Nach einer Woche ebenso intensiver wie erfolgloser Überwachung verschwanden die ersten Helfer, die Fleischer organisiert hatte. Mit jedem Tag wuchs die Gefahr, dass sie ganz einfach, zu sehr auffielen. Der dauernde Wechsel grimmig aussehender Herren im Umfeld der feinen Wohngegend war bestimmt bemerkt worden. Davon war Gerteis überzeugt. Er einigte sich mit Fleischer darauf, nur noch zwei Helfer zu behalten, die die ganze Zeit in der Wohnung blieben. Er selbst begab sich wieder regelmäßig ins Freie, um eine gewisse Normalität vorzutäuschen.

Der Lieferwagen, der für den Abtransport Lehmanns vorgesehen gewesen war, wurde durch ein kleineres Modell ersetzt, das sich auf dem Parkplatz einer Stadtwohnung abstellen ließ.

Die beiden Jungs hatte Gerteis soweit instruiert, dass sie ihm helfen würden, Lehmann zu schnappen und danach ihm zu überlassen. Wozu und weshalb wussten sie nicht. Ihre Belohnung bei Erfolg war so hoch angestzt, dass sie keine Fragen stellen würden. Gerteis hatte auch angedeutet, dass er auf keinen Fall über Gründe sprechen würde und Neugierige überhaupt nicht ausstehen könne. „Ich kenne noch ne ganze Menge Jungs, die so leicht Geld verdienen wollen und trotzdem die Klappe halten können“, war der einzige Satz zu diesem Thema gewesen. Und die beiden hatten es offenbar verstanden.

Das schloss jedoch aus, dass einer von ihnen Lehmann liquidieren würde. Darüber grübelte Gerteis die ganze Zeit nach. Fleischer erwartete offenbar, dass er das erledigte. Aber Gerteis hatte schon vieles in seinem Leben gemacht. Leute waren in seinem Auftrag ums Leben gekommen oder jahrelang eingesperrt gewesen. Unbelehrbare Genossen hatte man auch schon mal zum Krüppel geschlagen. Gerteis griff schnell hart durch als hoher Beamter des Ministeriums für Staatssicherheit. Nur selbst jemanden umgebracht, das hatte er noch nie.

Er überlegte, Lehmann solange festzuhalten, bis er einen bezahlten Killer organisiert hatte. Allerdings konnte er das notwendige Geld dafür, nicht einfach so ausgeben. Er würde es von Fleischer verlangen müssen. Eine Variante, Leute mit den Abgasen eines Lieferwagens zu vergiften, hatten sie früher auch manchmal angewendet. Trotzdem war Gerteis sich nicht sicher, ob er das durchstehen könnte.

Allerdings rechnete er auch nicht mehr damit, dass Lehmann nochmal in Freiburg auftauchte. Damit wuchs die Chance, dass sich andere um die Sache kümmern mussten. Die ohnehin jünger und besser geeignet waren.

Am Abend des zehnten Tages schlug der Jüngere der Helfer, der sich nur Nils nannte, Alarm. Lehmann sei gerade dabei, den Bahnhof zu verlassen. Der Ältere, Hermann, hatte auf dem Sofa gedöst. Unglaublich schnell war er auf den Beinen. Es dauerte weniger als eine Minute, bis die beiden den Lieferwagen erreicht hatten und mit quietschenden Reifen losfuhren.

Gerteis spulte mit zitternden Händen das Band zurück. Tatsächlich. Lehmann schlenderte offenbar gutgelaunt an der Kamera vorbei. Jetzt konnte Gerteis nur noch abwarten und hoffen, dass die zwei Erfolg hatten. Immerhin bestand die kleine Chance, dass sich Lehmann heftig wehrte und dabei schwer verletzt wurde. Am liebsten so schwer, dass er nicht mehr aufwachte. Natürlich hatte er das nicht durchblicken lassen können. Allerdings war auch nie die Rede davon gewesen, dass Lehmann unversehrt abgeliefert werden müsse.

***

Frank gönnte sich noch ein Bier im Garten eines Restaurants direkt am Bahnhof. Deshalb fiel es Nils und Hermann nicht schwer, ihn rechtzeitig aufzuspüren. Frank blieb fast eine Stunde sitzen. Dann „lieh“ er sich das Fahrrad, das gerade jemand unverschlossen abgestellt hatte, der danach in großer Eile im Bahnhof verschwunden war. Frank machte sich mit dem alten Bike auf den Weg nach „Hause“.

 

Nils und Hermann folgten ihm vorsichtig. Es begann bereits zu dämmern. Frank hatte inzwischen die Landstraße erreicht, die auch an diesem Rastplatz vorbeiführte, auf dem der Denkmalpfleger erstochen worden war.

Nils, der am Steuer des Lieferwagens saß, kannte die Strecke. Deshalb überholte er Frank und die beiden legten sich am Rastplatz auf die Lauer. Sie stellten sich nebeneinander hinter die Hecke, die den Rastplatz von der Straße trennte. Jeder hielt ein Ende eines dünnen Kletterseils in den Händen. Die Hecke, zwischen Ein- und Ausfahrt rund fünfzig Meter lang, oben sauber auf Brusthöhe geschnitten, bot Deckung und Halt für ihr Vorhaben.

Frank radelte gemütlich weiter. Er blieb völlig arglos und bemerkte nichts, bis ihn plötzlich etwas seitlich abgedrängte und er in hohem Bogen im Gebüsch landete.

Die beiden hatten die Leine im richtigen Moment so über ihn geworfen, dass er sich darin verfangen musste. Ein kräftiger Ruck warf ihn schließlich vom Rad und über die Hecke.

Das Gebüsch hatte den Sturz gebremst. Trotzdem blieb Frank benommen liegen. Rasende Kopfschmerzen und eine stechende Übelkeit beherrschten ihn völlig. Außerdem rechnete er natürlich nicht damit, überfallen zu werden. Er erwartete von dem Mann, der auf ihn zustürzte, Hilfe. „Lassen Sie nur“, stöhnte er. „Nur einen Moment. Es geht gleich wieder!“

Frank atmete schwer. Der Aufschlag hatte ihm die Luft genommen.

Ein zweiter Helfer erschien, wie Frank feststellte. Aber anstatt erster Hilfe geleistet, wurden ihm die Arme auf den Rücken gezerrt. Bevor er reagieren konnte, klebte man ihm zudem ein breites Klebeband über den Mund. Wenigstens ließ man ihn noch einige Minuten in Ruhe liegen. Allerdings nur, weil Nils zuerst Franks Rad einsammeln und verstecken musste. Danach holte er den Lieferwagen und parkte ihn neben ihrem Fang.

Die zwei fackelten nicht lange. Unsanft wurde Frank liegend über die hintere Stoßstange in den Laderaum gezerrt. Sein Rücken brannte höllisch durch die entstehende Reibung auf dem Kunststoff. Einer blieb hinter ihm, rollte ihn auf die Seite und hielt ihn so fest, während der andere die Hintertüren zuknallte. Kurz darauf wurde der Wagen gestartet und fuhr los.

Frank wurde danach nicht weiter behelligt. Deshalb zog er es vor, sich nicht mehr zu rühren und abzuwarten, dass die Schmerzen nachließen. Erst nach einer Weile traute er sich, die Augen einen kleinen Spalt weit zu öffnen. Bisher hatte er seine Entführer noch nicht gesehen. Das sollte auch so bleiben. Vielleicht konnte genau dies, später sein Leben retten. Er lag praktisch im Dunkeln. Bloß der schwache Widerschein einer kleinen Lampe deutete sich an der gegenüberliegenden Wand an. Sein Bewacher hatte bisher noch kein Wort gesprochen. Als dessen einzige Aktion während der Fahrt hatte Frank gespürt, wie seine Handfessel offenbar irgendwo am Wagenboden festgezurrt wurde.

Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf. Das mussten die Leute sein, die den Denkmalheini umgebracht hatten, war sein erster Gedanke gewesen. Aber woher sollten die wissen, dass er hier vorbei radeln würde? Das konnte nicht sein. Außerdem war es für die doch gefährlich, sich hier zu zeigen. Am Tatort.

Er dürfte wohl eher ein zufälliges Opfer geworden sein. Erwarteten die möglicherweise ein Lösegeld für ihn?

Wer sollte zahlen? Frank schauderte. Niemals würden die ihm glauben, dass er gar nicht existierte.

Die Kopfschmerzen nahmen wieder überhand. Frank gab sich stöhnend hin. Offenbar fuhren sie jetzt auf einem Feldweg und er war den Schlägen direkt und ungeschützt ausgeliefert. Er riskierte einen Blick zu den Fenstern des Wagens. Keine Gläser. Frank kannte das System. Anstelle von Gläsern, eingesetzte Blechteile. Deshalb die Dunkelheit im Wagen. Draußen musste es inzwischen aber auch dunkel geworden sein. Der Wagen bremste ab und blieb stehen. Ein Quietschen war zu hören. Ein Tor oder eine Schranke vielleicht. Ein kurzes Wackeln, dann erstarb der Motor. Frank hob den Kopf an. Sein Bewacher wandte sich ihm zu und drückte ihm einen stark riechenden Wattebausch auf die Nase. Frank hielt die Luft an. Der Kerl schien es zu bemerken und kniff ihn in den Bauch. Frank erschrak und atmete natürlich tief ein. Schwindel erfasste ihn. Eine schwarze Welle, die plötzlich auf ihn zuraste, löschte alles aus.

***

Nils kehrte gegen zehn Uhr am Abend allein in die Wohnung zurück, um Gerteis zu informieren. Hermann war als Wache bei Lehmann zurückgeblieben. „Er schläft jetzt im Lieferwagen und Hermann passt auf“, erklärte Nils. „Sie können damit rechnen, dass er bis am Morgen wieder munter ist. Wollen Sie ihn gleich übernehmen oder bis morgen früh warten?“

„Der Wagen steht in der Scheune?“, fragte Gerteis nach.

Nils nickte nur.

Dann kann ich Euch beide eigentlich auszahlen. Sie bringen mich hin und ich übernehme den Vogel.“

„Ok“, antwortete Nils zustimmend.

„Nur einen Moment“, sagte Gerteis. „Ich informiere nur noch einige Leute, dann können wir los.“

„Ich warte draußen.“

Gerteis rief Fleischer an. Wie ausgemacht erklärte er ihm, dass der Kanarienvogel wohlbehalten angekommen sei. Fleischer konnte seine Begeisterung kaum unterdrücken, hielt sich jedoch an die Abmachung. „Ausgezeichnet! Ich wusste doch, dass du der Richtige bist, um unseren Hansi wieder einzufangen. Jetzt können wir uns alle in Ruhe erholen. Endlich wieder einmal eine Nacht durchschlafen. Danke Michael!“

Gerteis legte auf. Durchschlafen? Fleischer vielleicht. Aber er nicht. Das Schlimmste stand ihm noch bevor.

Er klaubte die Kuverts mit dem abgezählten Geld aus dem Wertschrank, den Fleischer in der Wohnung deponiert hatte und begab sich zu Nils, der an seinem alten Golf lehnte. Die ganze Fahrt sprachen sie kein Wort. Gerteis grübelte weiter, wie er Lehman loswerden wollte und Nils konzentrierte sich auf das Fahren. Gerteis wusste nicht genau, wo die Scheune stand. Nur, dass es sich um ein abgelegenes und verlassenes Gehöft im Schwarzwald handelte, das Fleischer irgendwoher kannte, ohne näheren Bezug zu ihm. Auch er, Gerteis, würde sich nur solange dort aufhalten, bis Lehman in seiner Grube lag und das Loch verschlossen war. Man hatte ihm versichert, dass der Aushub am Abhang so aufgeschichtet sei, dass er ihn nur noch herunterzukratzen brauche. Außerdem solle die Grube in einer Kuhle so angelegt sein, dass die überschüssige Erde überhaupt nicht auffallen würde. Gerteis zweifelte nicht daran. Für solche Aufgaben hatte er früher Dutzende von begabten Helfern gehabt. Der eine oder der andere war sicher noch greifbar gewesen und hatte ganze Arbeit geleistet.

In dieser Beziehung war Fleischer kaum zu übertreffen. In kürzester Zeit wusste er, wozu jemand taugte oder auch wozu nicht. Nur bei ihm selbst schien Fleischer falsch zu liegen. Er war doch kein Mörder. Gerteis hegte den leisen Verdacht, dass Fleischer sich darüber im Klaren war. Aber Fleischer konnte ihn natürlich viel besser im Griff behalten, wenn er direkt beteiligt war. Als Mörder von Lehmann hatte Gerteis selbst jedes Interesse daran, dass die Sache nicht publik wurde. Das war kein direktes Misstrauen. So hatten sie im Ministerium meistens gearbeitet. Auch um die Agenten vor den Verlockungen des Westens zu schützen.

Nils löschte das Licht am Golf und rollte in einen Feldweg, der von der asphaltierten Straße abging. Trotz der Dunkelheit zeichneten sich die zwei Fahrspuren des Weges im Gras deutlich ab. Sobald sie den Wald erreicht hatten, schaltete Nils die Standlichter ein. Zu sehen war der Weg hier kaum noch. Aber die tief eingefahrenen Spuren leiteten sie wie auf Schienen zum Gehöft, das direkt am Ende des Waldes lag. Hermann zeigte sich kurz. Er war natürlich in Deckung gegangen, bis er den Wagen und Nils sicher erkannt hatte. Auch er ein Profi. Schließlich hatte Fleischer ihn ausgesucht.

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