Die Verlängerung

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Loe katkendit
Märgi loetuks
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4. Die Tommys

Mal sehen, wie es weitergeht. Komm da raus! Da verkriecht sich so ein Bild hinter einem anderen. Komm raus da! Warum versteckst du dich? Wenn du nicht willst, ziehe ich dich eben raus. Na klar, konnte man sich denken. Das Bild schämt sich. Es ist ein schlechtes Beispiel, passt nicht so ganz in das QS. Das ist das Qualitätsmanagement hier. Bei der Zertifizierung ist der Raum zunächst durchgefallen, hat die Reinmachefrau mir erzählt. Da wusste sie noch nicht, dass ich ihr nicht antworten kann. Danach hat man die Fußbodenleisten rausgerissen, den ganzen Boden mit Linoleum verklebt und dieses an den Rändern hochgezogen. Zu einem Viertelbogen. Etwa zehn Zentimeter, ähnlich einer Hohlkehle. Ich habe mir das genau angesehen, weil es mich an die Nasszellen an den Autobahnen erinnerte. Und Zeit genug hatte ich ja.

Sie haben mich da reingefahren, in die Zelle, weil sonst kein Platz war. Gefallen hat es mir nicht. Es roch nicht gut dort. Mir wird jetzt noch ganz elend davon, wenn ich das rieche. Als die Reinigungskraft dort ihren Dienst tat, beeilte sie sich, den Raum schnell wieder zu verlassen. Sie kippte in ihren Wassereimer einen reichlichen Schuss aus der Flasche, die ein Gefahrenzeichen auf dem Etikett hatte. Eine scharf riechende Flüssigkeit. Der Duft hing auch nach ihrer Wischarbeit in dem Raum wie ein Moskitonetz über den Betten. Zwei standen dort schon. Meines war das dritte. Eines war leer bei meiner Ankunft. In dem anderen lag ein unrasierter Typ, der laut schnarchte. Ab und zu wurde er, wohl aus seinem Inneren heraus, angestoßen. Dann kam sein Körper ins Schütteln, bis er sich schließlich aufrichtete. Ein Grunzen oder Knurren, dann fiel er wieder in sich zusammen und schnarchte weiter. Davon abgesehen, war mein Nachbar ganz verträglich.

Zunächst wusste ich nicht, dass man ihn erst in der Nacht hier abgelegt hatte. Nach einigen Stunden regte er sich wieder, stand sogar auf und ging schwankend ein paar Schritte zur Tür. Das war wohl zu weit für das, was ihn antrieb. Die nächstgelegene Ecke empfand er als rechten Ort, um seine Blase zu entleeren. Es müssen einige Biere gewesen sein, die ihn bedrückt haben. Nur gut, dass es diese Hohlkehle gab. Danach ging er zufrieden wieder zu seinem Bett und legte sich, ohne seine Kleider zu ordnen, wieder hin. Schon bald zeugte das Schnarchen von seiner Zufriedenheit.

Mir ging es dort nicht so. Schließlich hatte ich seit mehr als drei Jahrzehnten Privatversicherung für Einbettzimmer und Chefarztbehandlung bezahlt. Aber das wusste die Aufnahme des Krankenhauses natürlich nicht. Ohne die Papiere von meinem Nachtschrank mit der Patientenverfügung konnte sie darauf keine Rücksicht nehmen.

Hans macht das auch nicht. Jetzt drängelt er sich aus dem Papier! Schiebt das wichtige Dokument auf seinem Kopf achtlos beiseite. Dabei wäre es so dringend gewesen! Er stapft aus dem Sumpf von Druckerzeugnissen heraus, klettert am Rand des Kraters hoch und vergisst immer noch, dass die Zeit vergeht. Wenn er sich jetzt wenigstens beeilen würde! Da geht er erst noch zu dem grünen Holzschuppen. Das Fenster steht auf Kipp. Natürlich ist er neugierig, will wissen, was da drin ist, stellt sich auf die Zehenspitzen. Mein Gott! Er kriegt vor Staunen den Mund nicht wieder zu. Da liegen Berge von neuen Schulheften, Zeichenblöcke in Stapeln, Notizblöcke, Rollen von Packpapier und vieles mehr! Alles neu!

Jetzt hat er es plötzlich eilig. Jetzt läuft er den langen gebogenen Weg nach Holm hinunter. Von da aus ist es immerhin noch eine gute halbe Stunde. Jetzt will er schnell nach Haus und von dem Schatz berichten, den er gefunden hat.

Na klar, der Empfang ist nicht gerade freundlich. Er kann von Glück sagen, dass sein Vater nicht da ist. Der ist immer die ganze Woche im Dienst. Muss montagsfrüh um halb drei schon losgehen, um zu Fuß gegen neun in Harburg zu sein. Eine Bahnverbindung gibt es nicht mehr. Freitags kommt er zurück. Also ist er werktags nicht da.

Hans’ Mutter ist mal wieder gnädig mit ihm. Es gibt nur Schimpfe. Von seinem Schatz erzählt er ihr lieber nichts. Aber Joachim, dem Sohn von Frau Beuße, der Bäuerin, bei der sie wohnen. Gleich am nächsten Tag gehen die beiden mit einem leeren Kartoffelsack hin, um den Fund zu bergen. Das Fenster brauchen sie gar nicht einzuschlagen, hätte vielleicht auch zu viel Lärm gemacht. Die Schuppentür ist unverschlossen! Hans passt auf und Joachim packt die Ware ein. Ganz sorgfältig, so viel sie tragen können.

Aber wartet mal, Freunde, das dicke Ende kommt noch.

Vorher muss ich jedoch noch bei der Ankunft der Tommys zusehen. Wie gesagt, so wurden damals die Engländer genannt. Das rattert und quietscht die Dorfstraße hoch. Das Kopfsteinpflaster schreit, der Sand fliegt hoch, will fliehen, wird aber von den Panzern zurückgehalten und platt gedrückt oder setzt sich auf das grünbraune Blech. Vorweg aber fährt ein Jeep! Er hält vor dem Haus, zwei Soldaten kommen mit ihren Gewehren in der Hand die sandige Hofeinfahrt runter. Sie sind gar nicht besonders vorsichtig. Wahrscheinlich kommt das von der weißen Fahne, die Tante Beuße an einem Stock an die Straße gehängt hat.

Die beiden Frauen sehen die Männer schon kommen, ängstlich sehen sie ihnen entgegen. Aber da fällt Frau Beuße noch etwas ein, etwas ganz Wichtiges. Der Wecker! Es ist die einzige Uhr, die man noch im Haus hat. Wirklich die einzige, die noch funktioniert! Wenn sie die nun wegnähmen, mitgehen ließen! In aller Eile überlegen die Frauen, wo man sie schnell verstecken könnte. Im Küchenschrank, ja, aber wenn die die Tür aufmachen? Da hebt Frau Beuße den Deckel eines Topfes hoch und steckt den Wecker hinein. Das war auch höchste Zeit. Die Soldaten sind schon an der Tür. Jetzt ist der Wecker versteckt, aber er meldet sich! Sein Ticken hallt viel deutlicher aus seinem Topfgefängnis heraus als vorher. Aber nun ist das nicht mehr zu ändern. Die Soldaten kommen in die Küche. Beide haben ihre Knarre in der Hand.

„Männer hier?“

„Nein, im Krieg.“

„Frauen alleine?“

Die Frauen nicken. Ein Soldat sieht in die Wohnstube, der andere sieht zum Herd und zum Küchentisch. Von dort sehen ihn fünf Kinder mit großen Augen ängstlich an. „Alle Kinder von hier?“

„Ja.“

„Keine Männer?“

Die Frauen schütteln den Kopf.

„Okay, good bye.“

Sie gehen und lassen den Wecker im Kochtopf weiterticken.

Was ist denn nun mit dem Papierschatz der Jungen? Richtig. Ihr Schatz ist zu Hause gar nicht richtig bestaunt worden, wurde nicht würdig befunden. Im Gegenteil! Wieder gab es ein Donnerwetter. Und dann mussten die beiden mit dem Blockwagen den Weg noch einmal machen und alles wieder hinbringen. Nichts durfte zu Hause bleiben. Unverständlich! All die schönen neuen Hefte, liniert und kariert, in Deckeln mit roten und blauen Rändern, die es nirgendwo zu kaufen gab! Die sollten nun wieder in dem Schuppen rumliegen. Und entschuldigen sollten sie sich auch noch.

Da sehe ich die beiden, wie sie lustlos und deshalb ziemlich langsam die holperige Dorfstraße langschleichen. Oder, nein, das ist ja schon auf dem Heimweg! Der Blockwagen ist schon leer. Holm liegt bereits hinter ihnen. Aus dem Mittelweg kommt gerade Siggi raus mit seinem kleinen Bruder Gerold an der Hand.

„Wo kommt ihr denn her?“, fragt Siggi.

„Jahh“, sagt Joachim, schlagfertig wie immer, „wir wollten Pfefferminze holen.“

„Und?“

„Jahh, steht nicht gut dies Jahr.“

„Gerold, weg da!“, sagt Siggi zu seinem kleinen Bruder.

Gerold betrachtet sehr interessiert, was in der Sandspur liegt. Da ist wohl kurz vorher ein Pferdefuhrwerk langgefahren. Die Pferdeäpfel interessieren den Kleinen brennend.

„Weg da!“

Gerold kann mal wieder nicht hören. Jetzt puhlt er mit den Fingern darin rum.

„Musst mal probieren“, sagt Joachim, „schmeckt wie Schokolade.“

Gerold sieht ihn groß an. Sieht zu seinem Bruder, der grinst. „Wirklich. Schokolade.“

Gerold probiert, verzieht das Gesicht und fängt an zu heulen. Siggi grinst, Hans grinst, Joachim grinst. Gerold dreht sich um und läuft heulend nach Haus.

Als Joachim und Hans nachher im Hof spielen, haben sie Gerold lange vergessen, ahnen noch nichts Böses. Sie spielen Stuka. Gerade fliegt Hans wieder einen Angriff. Auf der Erde hat jeder den Umriss eines Sturzkampfbombers aus groben Linien gezeichnet, so groß, dass sie in der Kanzel Platz nehmen können. Als Steuerknüppel dient der Stock, mit dem sie die Umrisse in den Sand geritzt haben. Joachims Motor heult gerade mächtig auf, als seine Mutter ihn ruft. Und gleich darauf wird auch Hans ins Haus gerufen. Da ist doch was im Busch? Genau! Diesmal geht es nicht mit einem Donnerwetter ab. Gerade sieht Hans, als er am Küchenfenster vorbeigeht, wie Frau Beuße den Joachim ohrfeigt. Aber dabei belässt es seine Mutter nicht. Sie entscheidet sich für ein sorgfältigeres Vorgehen.

Erst schimpft sie und dann sagt sie, er solle sich ausziehen und ins Bett legen. Das findet Hans nicht sehr schlimm. Nun liegt er da, im Pyjama, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, das helle Tageslicht scheint durch das Fenster und er denkt an seinen Stuka. Aber dann kommt ein ganz anderer Angriff. Seine Mutter rauscht rein, den Ausklopfer in der Hand, reißt ihm ohne ein Wort die Bettdecke weg, dreht ihn an den Beinen um auf den Bauch und dann gibt es Dresche.

Hans ist flink! Nach dem ersten Schlag wird er sehr flink. Als Erstes versucht er die Decke wieder über sich zu ziehen. Es gelingt ihm nur teilweise. Eine Seite bleibt immer noch ungeschützt. Schmerzlich. Er strampelt und windet sich, mit teilweisem Erfolg, aber eben nicht ausreichend.

 

„Nicht, Mama, aah, nicht! Aah! Nicht! Aah, aah! Nicht! Aah!“

„So“, sagt sie schließlich, „jetzt kannst du über dein Betragen nachdenken“, und geht aus dem Zimmer.

Da liegt er, unzufrieden mit seinem Schicksal, mit verkniffenem Gesicht unter der Bettdecke und reibt sich die heißen Stellen.

Aber das Zimmer verschwimmt. Sind das seine Tränen? Nein, er flennt ja gar nicht. Das war ja nur die große Seite des Ausklopfers, nicht der Stiel. Halb so schlimm. Das ist auch nicht sein Zimmer in Holm-Seppensen. Das sind ja Glaswände. Das ist, Moment, ich muss wieder klicken, das da ist, genau, das ist die Akutstation der Internistischen.

IM GRIFF

5. Trümmerkinder

An den Raum als solchen erinnere ich mich nur schwach. Aber an das, was geschah, sehr wohl. Dort hat man sich mit mir besonders viel Mühe gegeben.

Als die Laborergebnisse der Blutuntersuchung eintrafen, war meine Ruhepause vorbei. Da wurden sie richtig aktiv. Zwar hatten sie keine alarmierenden Werte festgestellt, wie sie sagten, aber Störungen der Blutzusammensetzung. Ich bekam eine Rundfahrt durch das Krankenhaus. Als ich im Vorzimmer zum Röntgenraum eintraf, war ich wieder in Gesellschaft. Es gab noch mehr Anwärter für eine Durchleuchtung. Meine Untersuchung verzögerte sich, es dauerte.

Aber dann, als ich dran war, als sie mich röntgen wollten, machte ich Ärger. Eigentlich war ich es gar nicht, der die Dame bei ihrer regelmäßigen, standardisierten Tätigkeit störte, ich wusste nur nicht, ob sie das wusste. Es war mein Körper, der sich selbstständig bewegte, stoßweise verkrampfte und leider auch etwas Schaum aus mir rausdrückte. Da hatte die Dame es plötzlich eilig, telefonierte, und bald kamen sie zu dritt zu mir, der Internist, der Neurologe und der Pfleger von der Aufnahme. Der Pfleger rannte gleich wieder weg und kam kurz darauf mit einem Bildschirmgerät wieder, an das ich angeschlossen wurde. Natürlich führte das EKG dazu, dass sie unzufrieden waren. Da mein Körper dann wieder krampfte, als sie gerade beratschlagten, was zu tun sei, und ihnen die Sauerstoffsättigung des Blutes in meinem Mittelfinger nicht gefiel, bekam ich wieder eine Rundfahrt.

Diesmal wollten sie mehr Geld ausgeben. Diesmal wollten sie mit der CT Einblick gewinnen. Ich glaube, ich sagte es schon, sie taten wirklich alles, was ihnen möglich war. Vorsorglich wurde ich festgeschnallt. Verständlich, da mein Körper sich doch wieder hätte selbstständig machen können. Und in der Röhre, durch die sie mich fahren ließen, musste man sich ruhig verhalten, sagten sie, sonst verwackelten die Aufnahmen. Aber es klappte gleich auf Anhieb. Ich konnte auch gar nicht anders. Sie erkannten keinen auffälligen Fleck in meinem Kopf. Danach waren sie sich uneinig. Sie stritten, wer mich haben sollte.

„Ischämisch“, meinte Dr. Butt, der Internist.

„Wahrscheinlich, aber welche Ursache?“, sagte der Neurologe. „Ich weiß nicht so recht, wir wissen einfach noch zu wenig von ihm. Bedenken Sie das Krampfen, Dr. Butt! Vasospasmus? Eine Lumbalpunktion könnte weiterhelfen.“

„Das muss natürlich beobachtet werden. Ich weiß, es ist nicht ganz modern, aber wir haben früher immer gesagt, dass ein Apoplex Zeit zur Beruhigung braucht. Ich denke, wir legen ihn auf die Intensivstation. Blutdruckabsenkung vorsichtshalber und kontinuierliche Beobachtung des Verlaufs werde ich dort vorschlagen. Jetzt ist er nicht ansprechbar. Aber das kann sich ändern.“

Ich wollte ihm gleich widersprechen. Aber es ging nicht. Ich war ja ansprechbar! Ich konnte nur nicht antworten, das war das Problem. Und immer diese Kopfschmerzen, sie wurden immer schlimmer, seit ich hier war. Aber dann fuhren sie mich doch zur Intensivstation. Fand ich auch besser. Das mit der Punktion war sicherlich übertrieben, dachte ich. Wenn sie gewusst hätten, dass ich mein Blut immer verdünne, hätten sie damals vielleicht anders entschieden, denke ich. Aber ihnen fehlte meine Dokumentation vom Nachtschrank mit der Patientenverfügung. Die Blätter aus sorgfältig bedrucktem und beschriebenem Papier. Seiten über Seiten.

Ununterbrochen schrieb man die wichtigen Funktionen auf, die mein Körper herzugeben bereit war. Aber er hatte auch seine Geheimnisse, die er ihnen nicht erzählte. Meine Betriebstemperatur war mit einer Blutdrucksenkung heruntergefahren worden. Ich durfte immer schlafen. Das minimale Blutgerinnsel im Kopf sollte sich selbst auflösen, die kleine Ader, die geplatzt war, sollte sich selbst schließen. Sie ließen mir Zeit für meine Rettung.

Aha, jetzt wird es spannend, ich erinnere mich, da kam Frau Pückler ins Bild. Die Dame, die mir immer im Haushalt behilflich war. Schon seit dreißig Jahren tat sie das, verlässlich, sauber, zurückhaltend. Genau das, was ich brauchte. Sie sprach den Stationsarzt an, wollte ihn überzeugen. Aber der wollte nicht überzeugt werden. Es war Dr. Mohr und daneben stand natürlich Angela. Er hat es einfach nicht gern, überzeugt zu werden. Aber Frau Pückler hat sie mitgebracht, die Patientenverfügung! Sie hatte sie natürlich gefunden, auf meinem Nachttisch, brachte sie her, damit mein Wille berücksichtigt würde. Die Szene sehe ich noch genau vor mir, weil ich mich auf meine Freiheit freute.

„Nein“, sagte Dr. Mohr, „wir können das Papier nicht berücksichtigen. Ich will Ihnen gerne glauben, dass es von seinem Nachttisch ist. Aber Sie sind keine nahestehende Bezugsperson, selbst wenn Sie ihn schon lange kennen. Das darf ich nicht berücksichtigen. Unser Gesetzgeber erlaubt das nicht. Würde sich wohl auch kaum beweisen lassen, der Ursprung. Ich kann Sie auch nicht zu ihm lassen.“

„Darum habe ich auch gar nicht gebeten. Ich möchte Sie bitten, den Inhalt seiner Verfügung zur Kenntnis zu nehmen“, sagte Frau Pückler.

„Nein, ich will das gar nicht haben. Wir nehmen es auch nicht in die Krankenakte. Es hat für uns keine Verbindlichkeit.“

„Ich habe schon die Kinder informiert. Sie müssen nur erst einmal anreisen. Ihr Wohnsitz ist anderswo. Ich wollte mit meinem Besuch hier nur dafür sorgen, dass Ihnen sein Wille bekannt ist, rechtzeitig, meine ich.“

„Was heißt rechtzeitig? Er ist bei uns in bester Obhut. Wir werden alles unternehmen, was möglich ist, um ihm zu helfen.“

„Das ist es ja gerade. Er will es offensichtlich gar nicht nach dem, was hier steht. Schon auf der ersten Seite hier steht es.“

„Also noch einmal. Wir nehmen dieses Papier nicht zur Kenntnis. Von wann ist das? Welches Datum hat es? Fast ein Jahr! Das ist noch nicht einmal aktuell. Nein, nein. Nehmen Sie es wieder mit. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Sie verstehen, die Pflicht!“

Höflich ist er nicht immer, aber bemüht. Mit seinem gewinnenden Lächeln, schräg geneigtem Kopf und einer abrundenden Handbewegung öffnete er ihr die Tür. Angela stand in aufrechter Haltung und mit abweisendem Gesicht daneben, das Kinn etwas angehoben. Natürlich drängte die Pflicht, da hatte Ewald recht.

„Und wenn die Angehörigen Sie anrufen und vorab den Inhalt vorlesen, nehmen Sie es dann zur Kenntnis?“

„Aber, beste Frau, mündliche Informationen! Und dann das Datum! Nein, nein, das ist für uns nicht verbindlich“, sagte Dr. Mohr schon im Weggehen.

Frau Pückler sah recht hilflos aus mit dem Papier in der Hand.

„Seien Sie unbesorgt“, sagte Angela, „er wird ja versorgt. Schon bald wird er wieder in der Lage sein, seine Wünsche selbst zu formulieren. Dann ist die Patientenverfügung sowieso hinfällig.“

Sie begleitete Frau Pückler noch bis zur Tür und sprach mit ihr. Aber das habe ich nicht mehr gehört, was sie ihr noch an aufmunternden Worten mitgegeben hat. Ich war auch viel zu müde.

Erst abends, als meine Tochter Stella auf die Akutstation kam, wurde ich wieder aufmerksam. Neben ihr stand Angela, aber Dr. Mohr war nicht da. Er hatte Vorstandssitzung im Kirchenbüro.

„Herrn Dr. Mohr kann ich jetzt leider nicht stören. Er hat eine wichtige Sitzung. Aber das ist auch nicht nötig. Ich kenne seine Einstellung. Die Verfügung ist nicht aktuell. Sagte er schon heute Morgen.“

„Die Verfügung ist zwar schon einige Jahre alt, sie wurde aber jedes Jahr erneut bestätigt. Damit ist der Inhalt von meinem Vater regelmäßig als gültig anerkannt, nein, sogar unterstrichen worden. Es gibt gar keinen Zweifel, dass er keine lebensverlängernden Maßnahmen wünscht.“

„Wir sehen das nicht so. Seine letzte Unterschrift ist über zehn Monate alt. Es ist nicht auszuschließen, dass er in der letzten Zeit seine Meinung geändert hat. Deshalb müssen wir den mutmaßlichen Willen des Patienten in der aktuellen Situation berücksichtigen. Er wird von uns bestens gepflegt. Es geht ihm also den Umständen entsprechend gut.“

„Da wir unseren Vater gut kennen, braucht nicht gemutmaßt zu werden. Er hat uns immer wieder gesagt, lieber schnell sterben zu wollen, als gepflegt zu werden.“

„Ach, wissen Sie, wir kennen das. Vorher wollen die Patienten immer bald sterben. Und wenn es dann so weit ist, ändern sie ihre Meinung. Wir haben das so oft erlebt. Und unsere Pflicht ist es, das Leben zu erhalten. Nicht es abzukürzen. Dr. Mohr sagt immer, dass der Herr schon rufen wird, wenn es an der Zeit ist.“

„Ich vermute, in einem Krankenhaus zu sein und nicht in einer Kirche. Und von diesem erwarte ich, dass der Patientenwille gilt. Das Krankenhaus wird von mir nachdrücklich daran erinnert werden. Sie sagten, dass Dr. Mohr morgen Früh für mich erreichbar sei. Informieren Sie ihn bitte unverzüglich, dass ich jede lebensverlängernde Maßnahme verbiete.“

Da war sie verärgert. Das kannte ich von ihr. Wenn sie so spricht, lässt sie nicht mit sich spaßen, da war ich mir ganz sicher. Dann setzt sie sich durch. Da lässt sie nicht locker! Schließlich ist sie meine Tochter! Ich habe mich auch nie gedrückt. Schon als Junge war ich immer vorneweg.

Natürlich! Schon ist er wieder da. Hans macht mal wieder den Anführer. Sein Häuserblock ist aus tief gebranntem, lilafarbenem Backstein, Vorkriegsqualität. Er war wie die ganze Umgebung, so weit das Auge reichte, bei den Bombenangriffen ausgebrannt. Die guten Außenwände des Blocks waren dabei stehen geblieben. So war das große Mehrfamilienhaus, ein Ring mit Innenhof, vier Stockwerke hoch, als Erstes in Hamm wiederhergestellt worden und konnte bezogen werden.

Das riesige Trümmerfeld um den Block herum, von Billstedt bis zum Berliner Tor, von Hammerbrook bis Barmbek und darüber hinaus, war der ideale Platz für den Freiheitsdrang des Zwölfjährigen. Auf den Steinbruchflächen der zusammengefallenen Häuser kriegte ihn keiner. Er war immer schneller – wenn es notwendig war. Und natürlich kam Weglaufen auch vor.

Gerade hat er mit seinen Freunden wieder eine alte Wasserleitung aus Blei aus den Trümmern geborgen. Und ein Stück Regenrinne auch, bei der sie sich nicht ganz sicher sind, ob der Altmetallhändler die nehmen würde. Obwohl die, da sind sie ganz sicher, ganz bestimmt aus Zink ist, ganz bestimmt!

Sie sollen nicht auf den Trümmern spielen, hat man gesagt, wegen der Einsturzgefahr. Überall stehen auch noch brüchige Mauerreste. Aber welcher Junge lässt sich von so etwas abhalten, wenn man Einnahmen erzielen kann? Sie haben ihren Schatz in der Nähe des Landwehrbahnhofs geborgen, dort, wo auch ihre Schule steht, und ausgerechnet jetzt kommt der Rektor aus dem Tor. Der kennt den Hans. Er hat ihn bei der letzten Schulveranstaltung gelobt, weil er einen Abschnitt aus „Die Kraniche des Ibykus“ so gut aufgesagt hatte:

„Des Ibykus!“ – Der teure Name

Rührt jede Brust mit neuem Grame,

Und, wie im Meere Well auf Well,

So läuft’s von Mund zu Munde schnell:

„Des Ibykus, den wir beweinen,

Den eine Mörderhand erschlug!

Was ist’s mit dem? Was kann er meinen?

Was ist’s mit diesem Kranichzug?“

Richtig gut mit Betonung hatte Hans das aufgesagt und war damit dem Rektor aufgefallen.

Also, nichts wie weg! Querfeldein über die Trümmerflächen. Und später, genau, die Enttäuschung, was zu befürchten war. Der geizige Altmetallmann behauptet natürlich prompt, dass die Regenrinne nur aus verzinktem Blech sei.

Die erlösten Groschen geben sie nicht aus. Ganz in der Nähe der S-Bahn, dort, wo sie eine scharfe Kurve nach links Richtung Wandsbek macht, sieht man sie, wie sie in den Untergrund verschwinden.

Der alte Kellereingang des zusammengefallenen Hauses dort ist eine echte Entdeckung gewesen. Man konnte unter die Trümmer kommen. Die Reste der Wände hatten da, wo ihre Geheimhöhle war, noch glänzend weiße, mit blauen Ranken verzierte Kacheln. Im Keller, vor dem Besichtigungsloch des Kamins, hing noch der Verschlussdeckel, ungebrochen!

 

Sie nehmen ihn raus, holen die nur wenig verrostete Teedose mit dem hübschen bunten Deckel raus, öffnen sie und tun das erlöste Geld hinein. Dann zählt einer das ganze Vermögen und schreibt die neue Summe mit Kreide an die Wand.

Jetzt halten sie Kriegsrat. Was könnte man jetzt unternehmen? Hans sagt, man müsse sich abhärten. Sie müssten an den Marterpfahl. Die anderen finden das nicht so gut. Hans sagt, er würde es ihnen zeigen. Da sieht man sie aus ihrer Höhle herauskriechen. Sie laufen an den Bahngleisen entlang und verschwinden auf einem verlassenen Gartengrundstück. Es ist ganz von den Trümmern angrenzender Wohnblocks eingeschlossen, nur die Seite zur Bahn hin ist offen. In der Mitte des kleinen Gartens steht ein nur noch wenig lebender Apfelbaum. Hier ist ihr Rastplatz. Solange keiner über die Trümmer kommt, werden sie nicht gesehen. Höchstens vom vorbeifahrenden Zug aus. Aber das ist unwahrscheinlich. Er fährt selten und Büsche gibt es auch noch.

So, was hat der Hans nun vor?

„Alle brechen sich dünne Gerten ab, aber ganz dünne“, befiehlt er. „Der Baum ist wie immer der Marterpfahl. Wer will zuerst? Jeder kommt dran!“

Keiner drängelt sich vor.

„Wie denn?“, fragt Erich.

„Du stellst dich mit dem Bauch vor den Baum und wir fesseln auf der anderen Seite deine Hände. Dann ziehen wir dir die Hosen runter und drehen eine Runde durch den Garten. Immer wenn wir bei dir vorbeikommen, gibt’s eins mit der Gerte. Aber nicht ganz doll!“

„Nee“, sagt Erich, „fang du man an.“

„Okay“, sagt Hans und stellt sich an den Baum.

„Wenn wir dich jetzt festbinden und du stehst da mit dem Blanken und da kommt jemand, was ist dann? Dann kannst du nicht mehr weg und die fragen dich aus und sagen das in der Schule weiter.“

„Gut“, sagt Hans von der Gedankenszene überzeugt, „dann machen wir das mit den Oberschenkeln. Einer hält meine Hände hinten fest und die anderen hauen nach einer Runde einmal mit der Gerte auf die Beine. Aber denkt dran, ihr seid danach dran.“

Jetzt laufen sie heulend wie echte Indianer durch den Garten. Erich hält die Hände von Hans hinter dem Baum zusammen. Dann kommen die anderen am Marterpfahl vorbei und Hans kriegt eine Serie leichter Gertenschläge, noch erträglich, wie man seinem Gesicht ansehen kann. Dann drehen sie wieder ihre Runde und diesmal sind schon dünne, rote Striemen zu erkennen. Nach der dritten Runde wird er freigelassen und reibt sich die Beine.

„Mann“, sagt Erich, „ist schon sechs, ich muss nach Haus.“

„Find ich nicht gut“, sagt Hans ärgerlich.

„Lass man“, sagt Micha, „ich muss auch los. Wenn ich nicht pünktlich bin, nimmt meine Mutter den Holzlöffel, das zieht richtig. Da kommt schon der Abendzug nach Ahrensburg. Wir anderen sind dann morgen dran. Versprochen ist versprochen.“

Und nun sehe ich sie, wie sie gemütlich über die Trümmer nach Hause ziehen, während der laute Personenzug schnaufend hinter ihnen verschwindet. Aber ihm kommt schon ein anderer entgegen. Das kann gar nicht sein, das ist viel später. Viele Jahrzehnte später. Das ist ganz durcheinander, das muss ich noch einordnen. In dem Regionalexpress ist Hans schon über sechzig Jahre alt, sieht man ja ganz deutlich an seinen Haaren. Also, mein Lieber, mit dem Auftritt musst du noch warten. Nun mach nicht so ein ungeduldiges Gesicht, das hat doch Zeit. Ich habe hier doch viel Zeit!

„Das ist sowieso eine schlechte Angewohnheit von ihm, seine Ungeduld.“

Das auch noch! Wo kommst du denn schon wieder her? Ich denke, du bist tot?

„Ich bin so lange, wie du denken kannst. Mindestens. Vielleicht auch darüber hinaus.“

Jedenfalls brauchst du dich hier nicht einzumischen. Dich hat keiner gefragt.

„Das ist das Gute an mir. Ich melde mich, wenn dein Bild schief hängt, auch ungefragt. Seine Ungeduld begleitet ihn, seit er Chef ist. Nicht weil sein Auftritt in deinem Kopfkino sich verzögert, ist er ungehalten. Er muss auf die Fahrkartenkontrolle des Zugbegleiters warten, damit er sein Nickerchen ungestört halten kann. Deshalb seine ungeduldige Mimik.“

Das werden wir gleich sehen. Ich zoome das Bild jetzt. Einordnen kann ich das ja noch später.

„Idealist! Später? Wann und wo soll das sein?“

Na, hier, wo wir sind!

„Hier bist du in deiner Cloud, in deinen Visionen, deinen Träumen oder Erscheinungen, nicht in der Wirklichkeit.

Aber ich kann den Hans doch wirklich sehen!

„Ja, in deiner Erinnerung.“

In seiner Wohnung angekommen, zieht Hans sich gleich den Pyjama an. Der bedeckt die Oberschenkel.

„Willst du nichts essen?“, fragt seine verwunderte Mutter. „Hier ist dein Teller mit den Broten. Und hast du deine Schularbeiten schon gemacht?“

Nervig, denkt Hans, muss sie danach wieder fragen? Er hatte vor, die Aufgaben am Morgen schnell von seinem Platznachbarn abzuschreiben. Jetzt wühlt seine Mutter im Ränzel.

„Hast du deine Klassenarbeit zurückgekriegt? Hast mir nichts davon gesagt. Was hast du denn gekriegt?“

Das auch noch! Die Berichtigung muss er ja auch noch machen!

„Ne drei. Musst du noch unterschreiben“, sagt Hans. Rechnen fällt ihm leicht. Darin ist er ganz gut. „Eigentlich ist das ne zwei, aber er hat die Zahlen nicht richtig gelesen. Außerdem war ich als Erster fertig!“

„Deine Zahlen kann man nicht richtig lesen, weil du so schmierst! Anstatt als Erster fertig zu sein, hättest du dir lieber mehr Mühe geben sollen, ordentlich zu schreiben! Fix ist nix! Eine Sauklaue ist das! Die Ohren hätte er dir langziehen sollen!“

„Pf! Der doch nicht. Prigge doch nicht“, sagt Hans und schiebt sich das nächste Brot rein. „Macht mir auch nichts“, rotzt er noch kiebig hinterher.

„Großmaul!“

Ich hab gar nichts gesagt, also misch dich nicht ein.

„Ich höre, was du denkst. Auch jetzt noch. Da unten liegst du steif und bleich mit glasigen Augen und hier vor mir siehst du in das Leben des Jungen. Kannst du ja machen. Ist ja in Ordnung. Aber erinnere dich auch an die nicht so glorreichen Stunden. Sie gehören dazu, gerade wenn man so alt ist wie du. Der Blick des Verstandes fängt an scharf zu werden, wenn der Blick des Auges an Schärfe verliert. Kommt dir bekannt vor, der Satz, nicht wahr? Ist schon älter als wir beide. Ich sehe jedenfalls noch scharf genug, wie er im Schlafsaal vor Herrn Prigge steht, in Erwartung einer saftigen Ohrfeige.“

Genau. Da steht Hans im Pyjama vor seinem Bett. Schon vor einer Stunde sollte Nachtruhe sein im Schlafsaal. Alle Jungen liegen in ihren Betten und sehen auf ihn und Klassenlehrer Prigge.

„Du hast eben gesprochen, Hans“, sagt Prigge, „gibst du es zu?“ Er musste an der Tür gelauscht haben.

„Ja.“

Eine kurze Aushohlbewegung und peng. Sein Kopf fliegt bei dem Aufprall zur Seite. Er fühlt das Brennen. Seine Zähne beißen aufeinander. Prigge sieht ihn noch böse an. Dann schickt er ihn mit einer drehenden Daumenbewegung ins Bett.

„Joachim Küssler, komm her!“

Küssler kommt nach vorn.

„Hast du gesprochen?“

Küssler schweigt.

„Hast du gesprochen? – Du willst nichts sagen? Gut. Komm mit in mein Zimmer!“

Er geht mit Küssler aus dem Saal und macht das Licht aus. Prigges Zimmer ist gleich nebenan. Man hört nicht, was er sagt. Aber auch von Küssler hört man nichts. Alles lauscht in die Dunkelheit. Platsch!