Altneuland

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

3. Kapitel.



Als Friedrich Löwenberg in die Winternachtluft hinaustrat, legte er sich die Frage vor, was das Widerlichere gewesen sei: die Besitzergebärde des Herrn Weinberger aus Brünn, oder das Lächeln des jungen Mädchens, das er bisher so bezaubernd gefunden hatte. Wie? Seit vierzehn Tagen erst kannte der »Mitchef« die Holde, und er durfte seine schwitzende Hand auf ihren Leib legen. Welch ein ekelhafter Handel. Es war der Zusammenbruch einer feinen Illusion. Der Mitchef hatte offenbar Geld, und Friedrich hatte keines. In diesem Kreise, wo man nur für Vergnügen und Vorteil Sinn hatte, war Geld alles, und doch war er auf diesen Kreis der jüdischen Bourgeoisie angewiesen. Mit diesen Leuten und leider auch von diesen Leuten mußte er leben, denn sie stellten die Klientel einer zukünftigen Advokatenpraxis vor. Wenn es hoch kam, wurde man Rechtsbeistand eines Mannes wie Laschner — von dem phantastischen Glücksfalle, daß man einen Kunden wie Baron Goldstein bekam, gar nicht zu träumen. Die christliche Gesellschaft und eine christliche Klientel gehörten zum Unzugänglichsten in der Welt. Also was? Entweder sich dem Löfflerschen Kreise einfügen, dessen niederes Lebensideal teilen, die Interessen zweifelhafter Geldmenschen vertreten und zum Lohne für solche brave Aufführung nach so und so viel Jahren auch eine Kanzlei besitzen, mit dem Anspruch auf die Hand und Mitgift eines Mädchens, das nach vierzehntägiger Bekanntschaft den Erstbesten heiratet. Oder, wenn einem das alles zu ekelhaft war, die Einsamkeit und Armut.



Er war in solchen Gedanken wieder vor dem Cafe Birkenreis angelangt. Was sollte er auch jetzt schon zu Hause in seinem engen, Stübchen anfangen? Es war zehn Uhr. Schlafen gehen? Ja, wenn es kein Erwachen mehr gäbe …



Vor der Tür des Kaffeehauses wäre er beinahe über einen kleinen Körper gestolpert. Auf der Stufe des Einganges hockte ein Knabe, Friedrich erkannte ihn: es war derselbe Junge, den er vor wenigen Stunden beschenkt hatte.



Barsch ließ er ihn an: »Was? Du bettelst da schon wieder?«



Der Knabe erwiderte mit fröstelnder Stimme: »Ich wart’ auf mein’ Taten.« Dann stand er auf und hüpfte wieder und schlug die Arme übereinander, um sich zu erwärmen. Friedrich war so unglücklich, dass er für das frierende Kind kein Mitleid empfand.



Er trat in den qualmigen Raum ein und setzte sich auf seinen gewohnten Platz am Lesetisch. Um diese Stunde war das Kaffeehaus schwach besucht. Nur in den Winkeln einige verspätete



Spieler, die sich voneinander nicht trennen konnten und immer wieder die letzten Runden ankündigten, an die sich die allerletzten und unwiderruflich letzten sowie die »Schuft mein Name« letzten anschlössen.



Eine Weile saß Friedrich und starrte vor sich hin, dann kam ein schwatzhafter Bekannter an den Tisch heran. Friedrich flüchtete sich hinter eine Zeitung Und tat, als ob er lese. Aber wie er in das Blatt hineinsah, fiel sein Blick zufällig wieder auf die Anzeige, von der Schiffmann vor einigen Stunden gesprochen hatte:



»Gesucht wird ein gebildeter und verzweifelter junger Mann, der bereit ist, mit seinem Leben ein letztes Experiment zu machen. Anträge unter N. 0. Body an die Expedition.«



Wie sonderbar. Jetzt passte die Anrufung auf ihn. Ein letztes Experiment! Das Leben war ihm ohnehin verleidet. Bevor er es wegwarf wie sein armer Freund Heinrich, konnte er immerhin noch etwas damit unternehmen. Er ließ sich vom Kellner einen Kartenbrief geben und schrieb an N.0. Body diese wenigen Worte: »Ich bin Ihr Mann. Doktor Friedrich Löwenberg, IX. Hahngasse 67.«



Während er den Brief zuklebte, kam von hinten jemand an ihn heran: »Zahnbürsteln, Hosenträger, Hemdknöpf’ gefällig?«



Friedrich scheuchte den zudringlichen Hausierer mit einem barschen Wort weg. Der zog sich seufzend zurück, mit einem ängstlichen Blick nach dem Kellner, der ihn vielleicht hinausweisen würde. Da bereute Friedrich, dass er den armen Menschen eingeschüchtert hatte, rief ihn zurück und warf ihm ein Zwanzighellerstück in das Hausiererkistchen. Der Mann hielt ihm seinen Trödel hin: »Ich bin kein Bettler… Sie müssen etwas kaufen, sonst kann ich das Geld nicht behalten.«



Um ihn loszuwerden, nahm Friedrich einen Hemdknopf aus dem Kästchen. Jetzt erst dankte der Mann und ging weg. Friedrich sah im gleichgültig nach, wie er zu dem Kellner trat und diesem das eben erhaltene Geldstück gab. Der Kellner holte aus einem Korb altgebackene Brote hervor und lieferte sie dem Hausierer aus, der sie hastig in seine Rocktasche stopfte.



Friedrich erhob sich, um wegzugehen. Als er vor der Tür des Kaffeehauses stand, sah er den frierenden Jungen wieder, diesmal mit dem Hausierer, der ihm die harten Brötchen übergab. Das war also der Vater des Knaben.



»Was macht Ihr da?« fragte Friedrich.



»Ich geb ihm die Kipfeln, gnädiger Herr,« sagte der Hausierer; »daß er sie soll zu Haus tragen zu mein’ Weib. Es ist heut’ mei’ erste Losung.«



»Ist das wahr?« forschte Friedrich.



»So soll es nicht wahr sein, wie es wahr ist,« sagte der Mann stöhnend. »Überall werfen sie mich heraus, wenn ich handeln will. Wenn man ein Jud is, soll man lieber gleich in die Donau gehen.«



Friedrich, der noch kurz vorher mit dem Leben abgeschlossen hatte, sah plötzlich eine Gelegenheit, sich zu betätigen, jemandem nützlich zu sein. Eine Ablenkung seiner Gedanken. Er steckte den Kartenbrief in einen Postkasten. Dann ging er mit den beiden weiter und ließ sich vom Hausierer erzählen.



»Wir sind von Galizien hergekommen. In Krakau hab’ ich gewohnt in ein’ Zimmer mit noch drei Familien. Wir haben gelebt von der Luft. Hab’ ich mir gedacht, schlechter kann es nit mehr werden, und bin mit mei’ Weib und meine Kinder hergekommen. Hier is es nit schlechter, aber auch nit besser.«



»Wieviel Kinder haben Sie?«



Der Hausierer begann im Gehen zu schluchzen: »Fünfe hab’ ich gehabt, drei sind mir gestorben, seit wir hier sind. Jetzt hab’ ich nur den da und das kleine Mädel, was noch an der Brust is … David, lauf’ nit so schnell.«



Der Knabe drehte sich um: »Die Mutter war so hungrig, wie ich ihr die drei Kreuzer von dem Herrn da gebracht hab’.«



»So? Sie waren der gute Herr?« sagte der Hausierer und haschte nach Friedrichs Hand, um sie zu küssen.



Friedrich zog die Hand rasch zurück: »Was fällt Ihnen denn ein? … Sag’ mein Junge, was hat deine Mutter mit den paar Kreuzern angefangen?«



»Milch hat sie geholt für Mirjam,« sagte der kleine David.



»Mirjam ist unser anderes Kind,« bemerkte der Hausierer erklärend.



»Und die Mutter hungerte weiter?« fragte Friedrich erschüttert.



»Ja, Herr,« erwiderte David.



Friedrich hatte noch einige Gulden bei sich. Ob er die besaß oder nicht, war ziemlich gleichgültig, da er ohnehin mit dem Leben fertig war. Diesen Leuten konnte er die bitterste Not erleichtern, wenn auch nur für kurze Zeit.



»Wo wohnt Ihr?« fragte er den Hausierer.



»Auf der Brigittenauer Lände. Wir hab’n a Kabinett - aber es ist uns schon gekündigt.«



»Gut, ich will mich überzeugen, ob das alles wahr ist. Ich gehe mit Ihnen nach Hause.«



»Bitte!« sagte der Hausierer. »Sie wer’n ka Vergnüg’n hab’n, gnädiger Herr. Wir lieg’n am Stroh … Ich hab noch in andere Kaffeehäuser gehen wollen. Aber wenn Sie wünschen, geh’ ich zu Haus.«



Sie gingen über die Augartenbrücke der Brigittenauer Lände zu. David, der jetzt neben seinem Vater einher schlich, fragte mit leiser Stimme: »Tate, darf ich ein Stückl Brot essen?«



»Eß nur,« entgegnete der Alte. »Ich werd’ auch ein Stückl essen. Für die Mutter bleibt noch.«



Und nun kauten Vater und Sohn hörbar an dem harten Gebäck, das sie aus ihren Taschen hervorgeholt hatten.



Vor einem hohen, neugebauten Hause an der Lände blieben sie stehen. Das Haus atmete noch den feuchten frischen Baugeruch aus. Der Hausierer zog die Klingel. Alles blieb still. Nach einer Weile zog er wieder den Messingknopf und sagte: »Der Hausmeister weiß schon, wer da is. Da lasst er sich Zeit. Oft steh’ ich da a Stund! Er ist ein grober Mensch. Manchesmal trau’ ich mich gar nit her, wenn ich ihm keine fünf Kreuzer Sperrgeld geben kann.«



»Was tun Sie dann?« fragte Friedrich.



»Dann geh’ ich herum bis in der Früh, bis das Haustor offen is.«



Friedrich ergriff nun selbst den Knopf und riss ein paar Mal heftig die Klingel. Jetzt wurde Geräusch hinter dem Tore vernehmbar. Schlurfende Schritte, Klirren von Schlüsseln, und durch die Ritzen drang ein Lichtschein. Das Tor ging auf. Der Hausmeister hielt ihnen die Laterne entgegen und schrie: »Wer reißt denn so an der Glocke? Was? Die Judenbagasch?«



Der Hausierer entschuldigte sich furchtsam: »Nit ich war es — der Herr da!«



Der Hausmeister schimpfte: »So a Frechheit!«



»Augenblicklich schweigen Sie, Kerl!« herrschte ihn Friedrich an und warf ihm eine Silbermünze vor die Füße.



Als der Hausmeister den Silberklang auf den Fliesen hörte, wurde er kleinlaut und unterwürfig: »Euer Gnaden hab’ i net g’meint. Dö Juden da!«



»Schweigen Sie!« wiederholte Friedrich, »und leuchten Sie mir über die Stiege.«



Der Hausmeister hatte sich gebückt und das Geld aufgehoben. Eine ganze Krone. Das mußte ein vornehmer Herr sein.



»Es is im fünften Stock, gnädiger Herr,« sagte der Hausierer. »Vielleicht borgt uns der Herr Hausbesorger e Stückl Kerzen.« »Dem Littwak burg’ i nix,« rief dieser; »aber wenn Euer Gnaden a Kirzen wolln …«



Er nahm auch gleich das Stümpfchen aus der Laterne und gab es Friedrich. Dann verschwand er brummend. Friedrich stieg mit Littwak und David die fünf Treppen hinan.

 



Es war gut, dass sie die Kerze mithatten, denn es umgab sie tiefe Nacht. Auch in dem einfenstrigen Stübchen Littwaks brannte kein Licht, obwohl die Frau, die auf einer Streu ihr Lager hatte, wach und aufrecht dasaß. Friedrich sah im Halbdunkel des Kerzenstümpfchens, daß der schmale Raum keinerlei Möbel enthielt. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Schrank. Auf dem Fensterbrett befanden sich einige Fläschchen und zerbrochene Töpfe. Ein Anblick des tiefsten Elends. Die’ Frau hatte ein kleines, wimmerndes Kind an der schlaffen Brust. Sie starrte ihnen hohläugig und angstvoll entgegen.



»Wer ist das, Chajim?« stöhnte sie erschreckt.



»E guter Herr,« beruhigte sie ihr Mann.



David ging zu ihr hin. »Mutter, da is Brot,« und gab es ihr.



Sie brach es mit Mühe und schob sich langsam einen Bissen in den Mund. Sie war recht schwach und abgemagert, aber das verhärmte Gesicht wies doch noch Spuren einer vergangenen Schönheit auf.



»Da wohnen wir,« sagte Chajim Littwak mit bitterem Lachen. »Aber ich weiß. nicht emal, ob wir übermorgen noch das haben werd’n. Sie hab’n uns scho’ gekündigt.«



Die Frau seufzte laut auf. David hatte sich neben sie hin auf das Stroh gekauert und schmiegte sich an sie.



»Wieviel brauchen Sie, um hierbleiben zu können?« fragte Friedrich. »Drei Gulden!« erklärte Littwak. »E Gulden zwanzig auf Zins und das Übrige bin ich der Hausfrau schuldig. Wo soll ich bis übermorgen drei Gulden hernehmen? Dann lieg’n wir mit die Kinder auf der Gass’n.«



»Drei Guld’n!« jammerte die Frau leise und hoffnungslos. Friedrich griff in die Tasche. Er hatte acht Gulden bei sich. Die gab er dem Hausierer.



»Gerechter Gott! Is es möglich?« rief Chajim, und es liefen ihm Tränen über die Wangen. »Acht Gulden! Rebekka! David! Gott hat uns geholfen. Gelobt sei sein Namen!«



Frau Rebekka war auch fassungslos. Sie hatte sich auf die Knie erhoben und schleppte sich zu dem Retter hin. Im rechten Arm hielt sie ihr schlummerndes Wickelkind, mit der Linken haschte sie nach Friedrichs Hand, um sie zu küssen.



Er entzog sich ihrem Danke rasch: »Macht doch keine solchen Geschichten! Für mich sind die paar Gulden gar nichts - ob ich sie habe oder nicht … David kann mir hinunterleuchten.«



Die Frau war auf ihr Lager zurückgesunken und schluchzte bitterlich vor Freude. Chajim Littwak begann ein hebräisches Gebet zu murmeln. Friedrich ging, von David begleitet, hinaus und die Treppe hinunter. Als sie im zweiten Stock waren, hielt David, der die Kerze hoch trug, an, und sagte: »Gott wird aus mir e starken Mann machen. Dann werd’ ich Ihnen zahlen.«



Friedrich war von dem Ton und den Worten des Kleinen überrascht. Es war etwas eigentümlich Festes, Reifes in seiner Art.



»Wie alt bist du?« fragte er ihn.



»Mir scheint zehn Jahr’,« antwortete David.



»Was willst du werden?«



»Lernen will ich. Viel lernen!«



Friedrich seufzte unwillkürlich: »Und glaubst du, daß das genügt?«



»Ja!« sagte David. »Ich hab’ gehört, wenn man gelernt hat, is man stark und frei. Gott wird mir helfen, daß ich lernen kann. Dann werd’ ich mit meine Eltern und Mirjam nach Erez Israel gehn.« »Nach Palästina?« fragte Friedrich erstaunt. »Was willst du dort?«



»Das is unser Land. Dort können wir glücklich werden!« Der arme Judenjunge sah gar nicht lächerlich aus, als er sein Zukunftsprogramm energisch in zwei Worten angab. Friedrich mußte an die läppischen Humoristen Grün und Blau denken, die über den Zionismus ihre schalen Witze rissen. David fügte noch hinzu: »Und wenn ich etwas hab’, werd’ ich Ihnen zahlen.«



»Ich hab ja das Geld nicht dir gegeben, sondern deinem Vater,« meinte Friedrich lächelnd.



»Was man mei’ Taten gibt, hat man mir gegeben. Ich werd’ es zahlen — Gutes und Schlechtes.« David sagte es energisch und ballte seine kleine Faust gegen die Hausmeisterwohnung, vor der sie jetzt angelangt waren.



Friedrich legte seine Hand auf das Haupt des Jungen: »Möge dir der Gott unserer Väter beistehen!«



Und er wunderte sich selbst über seine Worte, nachdem er sie gesprochen. Seit den Tagen der Kindheit, da er mit seinem Vater zum Tempel gegangen war, hatte Friedrich vom »Gott unserer Väter« nichts mehr gewußt. Diese merkwürdige Begegnung aber weckte das Alte, Vergessene in ihm auf, und sekundenlang überflog ihn ein Heimweh nach dem starken Glauben der Jugendzeit, in der er mit dem Gott der Väter noch in Gebeten verkehrte.



Der Hausmeister schlurrte heran. Friedrich sagte ihm: »Von jetzt ab werden Sie diese armen Leute in Ruhe lassen — sonst haben Sie es mit mir zu tun! Verstanden?«



Da diese Worte von einem neuerlichem Trinkgelde begleitet waren, begnügte sich der Grobe, ein »Küß’ d’ Hand, Euer Gnaden!« zu murmeln. Friedrich gab dem kleinen David die Hand und trat auf die einsame Lände hinaus.





4. Kapitel.



In dem Briefe, den Friedrich von dem N.0. Body der Zeitungsannonce erhalten hatte, war ein vornehmes Hotel auf der Ringstraße als Ort der Zusammenkunft angegeben. Um die bezeichnete Stunde fand er sich ein und fragte nach Mister Kingscourt. Man wies ihn nach einem Salon des ersten Stockes. Als er eintrat, kam ihm ein hoher, breitschultriger Mann entgegen:



»Sind Sie Doktor Löwenberg?«



»Der bin ich.«



»Nehmen Sie einen Stuhl, Doktorl«



Sie setzten sich. Friedrich betrachtete den Fremden aufmerksam und wartete auf dessen Erklärungen. Mr. Kingscourt war ein Mann in den Fünfzigern, mit ergrauendem Vollbart und dichtem braunen Haupthaar, das von Silberfäden durchzogen war und an den Schläfen schon weiß schimmerte. Er rauchte in langsamen Zügen eine große Zigarre.



»Rauchen Sie, Doktor?«



»Jetzt nicht,« gab Friedrich zur Antwort.



Mr. Kingscourt hauchte mit Sorgfalt einen Rauchring in die Luft, folgte der Auflösung der wolkigen Linien mit Spannung, und erst nachdem sie ganz verschwebt waren, sagte er, ohne seinen Gast anzusehen: »Warum sind Sie lebensüberdrüssig?«



»Darüber gebe ich keine Auskunft,« erwiderte Friedrich ruhig. Mr. Kingscourt sah ihn jetzt voll an, nickte zustimmend, streifte die Asche seiner Zigarre ab und sprach: »Hol’s der Deibel, Sie haben Recht. Das geht mich ja auch nichts an … Wenn wir handelseins werden, wird schon die Zeit kommen, wo Sie es mir erzählen. Einstweilen will ich Ihnen sagen, wer ich bin. Mein eigentlicher Name ist Königshoff. Ich bin ein deutscher Edelmann. Ich war in meiner Jugend Offizier, aber der Waffenrock wurde mir zu eng. Ich kann’s nicht leiden, daß ein fremder Wille über mir ist, und wär’s der beste. Das Gehorchen war gut für ein paar Jahre. Aber dann mußt’ ich fort. Ich wär’ sonst explodiert und hätte Schaden angerichtet … Ich ging nach Amerika, nannte mich Kingscourt, erwarb mir in zwanzig Jahren blutschwitzender Arbeit ein Vermögen — und als ich so weit war, nahm ich ein Weib … Was sagen Sie, Doktor?«



»Nichts, Mr. Kingscourt!«



»Gut. Sie sind unverheiratet?«



»Jawohl, Mr. Kingscourt … aber ich dachte. Sie würden mir sagen, worin das letzte Experiment besteht, das Sie mir vorzuschlagen haben.«



»Ich bin schon dabei, Doktor … Wenn wir beisammen bleiben sollten, werde ich Ihnen ausführlich erzählen, wie ich es anfing mich hinaufzuarbeiten, bis ich meine Millionen hatte. Denn ich habe Millionen … Was sagen Sie?«



»Nichts, Mr. Kingscourt.«



»Energie ist alles, Doktor! Darauf kommt’s an. Was man recht stark will, das erreicht man unbedingt totsicher. Ich sah erst drüben in Amerika ein, was wir Europäer für ein faules, willenloses Gesindel sind. Hol’ mich der Deibel! … Kurz, ich hatte Erfolg. Aber als ich soweit war, da begann ich meine Einsamkeit zu fühlen. Der Zufall wollte es, daß ein Königshoff Dummheiten gemacht hatte, der bei der Garde stand, ein Sohn meines Bruders. Ich nahm den Burschen zu mir, gerade um die Zeit, da ich auf Freiersfüßen ging. Ja, ich wollte mir einen Hausstand gründen, einen Herd, eine Frau suchen, die ich mit Juwelen behängen konnte wie jeder andere Parvenü. Ich sehnte mich nach Kindern, damit ich doch wisse, warum ich stets so furchtbar geschuftet hatte. Ich meinte es verdammt schlau anzufangen, indem ich ein armes Mädchen zur Frau nahm. Sie war die Tochter eines meiner Angestellten. Hatte ihr und ihrem Vater viel Gutes erwiesen. Natürlich sagte sie ja. Das hielt ich für Liebe, aber sie war nur dankbar oder vielleicht feige. Sie wagte nicht, mich abzuweisen. So richteten wir ein Haus ein, und mein Neffe wohnte bei uns. Sie werden sagen, daß es eine Dummheit war — ein alter Mann zwischen zwei jungen Leuten, die sich finden mußten. Ich habe mich auch in der ersten Zeit nach der Entdeckung einen Esel gescholten. Aber wenn nicht er, wäre es ein anderer gewesen. Kurz, die beiden haben mich betrogen — ich glaube, vom ersten Augenblick an. Als ich es herausfand, war mein erster Griff nach dem Revolver. Dann sagte ich mir, daß eigentlich nur ich der Schuldige war. Da ließ ich sie laufen. Gemeinheit ist menschlich, und jede Gelegenheit ist eine Kupplerin. Man muß den Menschen ausweichen, wenn man an ihnen nicht zugrunde gehen will. Sehen Sie, das war mein Zusammenbruch. Da schlich der Gedanke heran, mit einer Kugel der schäbigen Komödie des Lebens ein Ende zu machen. Aber es fiel mir ein, daß man zum Erschießen ja noch immer Zeit hat. Freilich, das Anhäufen von Geld war jetzt für mich sinnlos geworden. Zum Erwerben hatte ich keine Lust mehr, vom Traum der Familie hatte ich genug. Blieb noch die Einsamkeit als letztes Experiment. Aber eine große, unerhörte Einsamkeit mußte es sein. Nichts mehr wissen von den Menschen, ihren elenden Kämpfen, Unsauberkeiten, Treulosigkeiten. Die wirkliche, echte, tiefe Einsamkeit ohne Wunsch und Ringen. Die volle wahre Rückkehr zur Natur! Diese Einsamkeit ist das Paradies, das die Menschen durch ihre Schuld verloren haben. Und diese Einsamkeit habe ich gefunden.«



»So? Sie haben sie gefunden?« sagte Friedrich, der noch nicht erriet, wo der Amerikaner hinauswollte.



»Ja, Doktor, ich habe meine Geschäfte aufgelöst und bin meinen Bekannten wieder einmal entronnen. Niemand weiß, wo ich hingekommen bin. Habe mir eine gute Jacht gebaut und bin auf ihr, wie man sagt, verschollen. Viele Monate bin ich auf den Meeren umhergetrieben. Das ist ein herrliches Leben, müssen Sie wissen. Möchten Sie das nicht kennen lernen? — oder kennen Sie es schon?«



»Ich kenne es nicht,« entgegnete Friedrich; »aber ich möchte wohl!« »Gut, Doktor! … Das Leben auf der Jacht ist schon die Freiheit, aber noch nicht die Einsamkeit. Man muß doch Schiffsleute um sich haben, man muß ab und zu in einen Hafen, um Kohlen einzunehmen. Man kommt wieder mit Menschen in Berührung, und das ist schmutzig. Aber ich kenne eine Insel in der Südsee, wo man ganz allein ist. Da will ich leben. Es ist ein kleines Felsennestchen im Cooks-Archipel. Die habe ich mir gekauft und mir dort von Leuten aus Rarotonga ein komfortables Haus erbauen lassen. Das Gebäude liegt so versteckt hinter den Felsen, daß man es von keiner Seite bemerkt, wenn man auf dem Meere vorbeifährt. Es sind übrigens auch die Schiffe dort selten. Meine Insel sieht nach wie vor unbewohnt aus… Ich lebe dort mit zwei Dienern, einem stummen Neger, den ich schon in Amerika hatte, und einem Tahitier, den ich im Hafen von Avarua aus dem Wasser zog, als er sich aus Liebesgram ersäufen wollte. Jetzt bin ich auf meiner letzten Reise in Europa, um mir noch einzukaufen, was ich für mein ferneres Leben dort brauche. Namentlich Bücher, physikalische Instrumente und Waffen. Die Lebensmittel versorgt mein Tahitier von der nächsten bewohnten Insel. Er fährt jeden Morgen mit einem Neger im elektrischen Boot hinüber. Braucht man sonst noch etwas, auf Rarotonga ist für Geld alles zu haben, so wie in der übrigen Welt … Verstehen Sie?«



»Ja, Mr. Kingscourt. Nur weiß ich nicht, warum Sie es mir erzählen.«



»Warum, Doktor? Weil ich mir einen Gesellschafter mitnehmen will, um das Sprechen nicht zu verlernen, und um jemand zu haben, der mir die Augen zudrückt, wenn ich sterbe. Wollen Sie der sein?«



Friedrich schwieg und überlegte eine halbe Minute lang. Dann sagte er in festem Tone: »Ja!«



Kingscourt nickte zufrieden und fügte hinzu: »Ich muß Sie aber aufmerksam machen, daß Sie eine lebenslängliche Verpflichtung eingehen. Wenigstens so lange ich lebe, muß es gelten. Wenn Sie mit mir gehen, dürfen Sie nicht mehr zurück. Sie müssen alle Fäden abschneiden.«



Friedrich entgegnete: »Mich bindet nichts. Ich stehe ganz allein in der Welt und habe das Leben vollkommen satt.«

 



»Einen solchen Mann brauche ich, Doktor. Tatsächlich verlassen Sie das Leben, wenn Sie mit mir gehen. Sie werden nichts mehr vom Guten und Bösen dieser Welt erfahren. Sie sind tot für die Welt und die Welt ist untergegangen für Sie. Paßt Ihnen das?«



»Es paßt mir.«



»Dann werden wir gut zusammenleben. Ihre Art gefällt mir.«



»Eines muß ich Ihnen noch sagen, Mr. Kingscourt: ich bin Jude. Stört Sie das nicht?«



Kingscourt lach