Altneuland

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ZWEITES BUCH

Haifa 1923
1. Kapitel.

Die Jacht Kingscourts fuhr wieder durch das Rote Meer, aber in umgekehrter Richtung. Kingscourts Bart und Haare waren schneeweiß geworden. Auch Friedrich konnte, vor dem Spiegel seiner Kajüte stehend, an seinen Schläfen die ersten Silberfäden entdecken.

Der Alte rief ihn aufs Verdeck: »Holla, Fritz! Kommen Sie ’n bißchen rauf!«

»Was wollen Sie, Kingscourt?« sagte er, indem er hinaustrat.

»Hol mich der Deibel, wenn ich das verstehe. Seit wir da im Roten Meere fahren, hab’ ich noch sehr wenige Personendampfer gesehen. Frachtschiffe, ja, viele. Erinnern Sie sich denn nicht, wie das vor zwanzig Jahren war, anno neunzehnhundertundzwei? Da war doch Verkehr hier. Ostindienfahrer, Chinaschiffe! Die lumpigen Dampfer, die wir jetzt treffen, gehen nur nach den afrikanischen Häfen und Madagaskar. Ich habe mich bei dem Vieh von einem Lotsen nach jedem passierenden Schiffe erkundigt. Es gibt keine Ostindier, Japaner und Chinesen mehr in diesen Gewässern; wie gesagt, nur Frachten. Am Ende hat England seit wir weg waren, seinen indischen Besitz verloren? Kreuzmillionen-schockschwerenot — an wen?«

»Fragen Sie doch den Lotsen, wenn es Sie interessiert!«

»Nischt wird jefragt! Das heb’ ich mir alles auf, bis wir in Europa sind. Ich bin nicht neugierig — sind Sie’s vielleicht, Fritzkchen?«

»Nein, Kingscourt. Mir ist alles gleichgültig. In den zwanzig Jahren hat’ ich jedes Interesse an den Vorgängen außerhalb unserer lieben Insel verloren. Mir lebt kein Freund mehr, kein Blutsverwandter. Wonach sollte ich mich erkundigen?«

Kingscourt hatte sich es auf einem ruhebettartigen Lehnstuhl bequem gemacht und schmauchte eine große Havanna: »Na, übel ist Ihnen unsere Insel nicht bekommen, Fritz! Wenn ich denke, was Sie für’n grüner Judenjunge mit eingesunkenem Brustkasten waren, als ich Sie mitnahm. Heute sind Sie ’n Baum von einem Menschen. Mir scheint, Sie könnten jetzt den Weibern gefährlich werden.«

»Sie sind komplett verrückt, Kingscourt!« lachte Friedrich. »Zu Ihrer Ehre will ich annehmen, daß Sie mich nicht nach Europa schleifen, um mich zu verheiraten.«

Kingscourt wälzte sich vor Lachen: »So’n Rabenvieh!l Verheiraten! Für’n solchen Hornochsen halten Sie mich doch nicht? Was fing’ ich dann mit Ihnen an?«

»Na, vielleicht ist es eine feine Art, mich loszuwerden. Sie haben meine Gesellschaft wohl satt gekriegt?«

»Nu fischt das Rabenvieh noch nach Komplimenten!« schrie der Alte, dessen Gemütlichkeit sich gern in Schimpfworten austobte. »Sie wissen doch sehr gut, Fritzchen, daß ich ohne Sie nicht mehr leben könnte. Die ganze Reise hab’ ich doch nur Ihretwegen unternommen. Damit Sie dann wieder ein paar Jahre mit mir Geduld haben.«

»Hören Sie, Kingscourt, Sie wissen, ich kann nicht grob sein - wenigstens nicht so grob, wie Sie. Aber das ist, gelinde gesagt, eine …«

»Eselei?«

»Etwas dergleichen! … Wann habe ich eine Ungeduld gezeigt? Ich war glücklich auf unserer Insel, vollkommen glücklich. Diese zwanzig Jahre sind mir vergangen, wie ein Traum. War es gestern, daß Sie hier Ihre Abschiedsrede an die Zeit hielten? Ich wäre auch nie mehr weg von unserer seligen Insel, ich nicht! Und nun wollen Sie mir weismachen, daß Sie meinetwegen nach Europa fahren. Schämen Sie sich, alter Mann, daß Sie solche faule Ausreden gebrauchen. Sie sind neugierig, wie’s drüben aussieht. Sie wollen hin — nicht ich! Der beste Beweis, daß ich mir nichts mehr aus der bewohnten Welt mache, ist der, daß ich alle die Jahre hindurch keine Zeitung in die Hand genommen habe.« »Kunststück, wir hatten keine auf unserer Insel. Das war meine oberste Gesundheitsmaßregel: Keine Zeitung!«

»So? Vor einigen Jahren kam eine Sendung von Rarotonga. Da waren alle Gegenstände der Kiste in englische und französische Tagesblätter eingewickelt. Einen Augenblick war ich in Versuchung, sie zu lesen. Wenn sie auch Monate oder Jahre all waren, für mich enthielten sie jedenfalls neues. Wir schrieben damals 1917, und ich hatte seit fünfzehn Jahren nichts mehr von der Welt gehört. Aber ich raffte die Blätter alle zusammen und verbrannte sie ungelesen. Und jetzt sagen Sie noch, daß ich mich zurücksehne.«

Der Alte schmunzelte behaglich: »Na, wenn Sie mir auf meine Lügen kommen, dann will ich’s gestehen. Ja, ich möchte wissen, was aus der niederträchtigen Welt geworden ist. Ob die Menschen noch immer so schlecht und dumm sind wie dazumal.«

»Mein guter Kingscourt, ich wette, wir werden froh sein, wenn wir nach unserer stillen Insel zurückkehren können.«

»Bei der Wette finden Sie keine Konterpartie. Ich wette dasselbe.«

Die Jacht durchlief die Wasserstraße von Suez. In Port Said stiegen sie wieder ans Land. Im Hafen war ein lebhafter Güterverkehr, aber zwischen den verfallenden Bazaren der Stadt war der bunte, vielsprachige Spaziergang nicht mehr zu gehen, der einst die Originalität des Ortes war. Hier kreuzten sich ehemals die Wege der Menschen, die vom Westen nach dem Osten und von Osten nach Westen zogen. Man war hier ehemals den elegantesten Globetrottern begegnet, und jetzt lungerten vor den schmutzigen Kaffeehäusern außer den Eingeborenen nur einige halb betrunkene Matrosen.

Kingscourt und Friedrich waren in einen Laden eingetreten, um Zigarren zu kaufen. Sie verlangten bessere Sorten. Da sagte der griechische Händler klagend:

»Führen wir nicht. Kommen ja keine Käufer mehr. Kommt niemand mehr, der feine Zigarren will. Nur Matrosen um Kautabak, schlechte Zigaretten.«

»Wie ist das möglich?« fragte Kingscourt. »Wo sind denn die Reisenden, die nach Indien, Australien, China gehen?«

»Oh, die sind schon lange fort. Die fahren jetzt auf dem anderen Weg.«

»Auf einem anderen Weg?« rief Friedrich. »Was gibt es denn für einen anderen? Doch nicht um das Kap der guten Hoffnung?«

Der Händler sagte ärgerlich:

»Der Herr will über mich lachen. Das weiß doch jedes Kind, daß man nach Asien nicht mehr durch den Suezkanal fährt.«

Die Rückkehrenden sahen einander betroffen an. Dann brummte Kingscourt:

»Natürlich weiß das jedes Kind. Sie werden uns doch nicht für so unwissend halten, daß wir nichts von dem verdammten neuen Kanal gehört haben.«

Da schlug der Grieche wütend auf den Ladentisch:

»Machen Sie, daß Sie hinauskommen! Zuerst foppen Sie mich mit teuren Zigarren, dann machen Sie solche dummen Witze. Hinaus!«

Kingscourt wollte über den Tisch langen und dem Griechen eins über den Schädel geben, aber Friedrich zog den alten Hitzkopf fort:

»Es scheint, in unserer Abwesenheit ist etwas Großes vorangegangen, was wir nicht wissen, Kingscourt.« »Hol’ mich der Deibel, das glaub’ ich auch. Das müssen wir also zuerst rauskriegen.«

Im Hafen erfuhren sie es vom Kapitän eines deutschen Kauffahrers. Der Verkehr zwischen Europa und Asien hatte einen neuen Weg genommen: über Palästina.

»Da, gibt es denn dort Häfen, Eisenbahnen?« fragte Friedrich.

Der Kapitän lachte herzlich:

»Ob es in Palästina Häfen und Bahnen gibt? Herr, von wo kommen Sie denn? Haben Sie denn nie eine Zeitung oder einen Fahrplan gesehen?«

»Nie, will ich nicht sagen. Aber einige Jahre ist es doch schon her… Palästina kennen wir übrigens als ein wüstes Land.«

»Ein wüstes Land!,.. Gut, wenn Sie das ein wüstes Land nennen wollen, ich bin es zufrieden. Nur sind Sie dann sehr verwöhnt.«

»Hören Sie, Kapitän,« rief Kingscourt, »wir wollen Ihnen reinen Wein einschenken. Wir sind ein paar verdammt unwissende Bengels. Wir haben uns zwanzig Jahre um nichts als um unser Vergnügen gekümmert. Also was ist das mit dem ollen Palästina?«

»Wenn ich Ihnen das erzählen wollte, brauchte ich mehr Zeit als Sie, um von hier hinzufahren. Kommt es Ihnen auf ein paar Tage nicht an, so machen Sie doch den kleinen Umweg. Sie finden übrigens in Haifa und Jaffa die schnellsten Schiffe nach allen europäischen und amerikanischen Häfen, falls Sie Ihre Jacht verlassen wollen.«

»Nee, unsere Jacht verlassen wir nicht. Aber den Umweg können wir ja machen, Fritze? Was meinen Sie? Woll’n wir nochmals das Land Ihrer Vorfahren besichtigen?«

»Mich zieht es dahin ebensowenig, wie nach Europa. Ganz egal!«

Und sie steuerten nach Haifa.

Es war eines Frühlingsmorgens nach einer der in diesen Meeren so weichen Nächte, als die Küste Palästinas in Sicht kam. Die beiden standen auf der Kommandobrücke und lugten seit zehn Minuten unverwandt durch ihre Ferngläser nach derselben Himmelsgegend aus.

»Man möchte schwören, daß dort die Bucht von Akko ist,« sagte Friedrich.

»Man könnte auch das Gegenteil schwören,« meinte Kingscourt. »Ich habe noch das Bild dieser Bucht in der Erinnerung. Vor zwanzig Jahren war sie leer und öde. Aber da rechts, das ist doch der Karmel, und da drüben links ist Akko.«

»Wie verändert!« rief Friedrich. »Da ist ein Wunder geschehen.«

Sie kamen naher. Nun konnten Sie schon durch ihre guten Gläser die Einzelheiten etwas besser sehen. Auf der Rheede zwischen Akko und dem Fuße des Karmel ankerten riesige Schiffe, wie man deren schon am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu bauen pflegte. Hinter dieser Flotte sah man die anmutige Linie der Bucht. An der Nordspitze Akko in alter orientalischer Bauschönheit, graue Festungsmauern, dicke Kuppeln und schlanke Minarets, die sich vom Morgenhimmel reizend abhoben. An diesen Umrissen war nicht viel anders geworden. Aber südwärts unterhalb der ruhmreich schwergeprüften Stadt, am Bogen des Uferbandes, war eine Pracht entstanden. Tausende weißer Villen tauchten, leuchteten aus dem Grün üppiger Gärten heraus. Von Akko bis an den Karmel schien da ein großer Garten angelegt zu sein, und der Berg selbst war auch gekrönt mit schimmernden Bauten.

 

Da sie vom Süden kamen, verdeckte ihnen der Bergvorsprung zuerst den Anblick des Hafens und der Stadt Haifa. Nun aber lag auch diese vor ihnen, und da waren die Deibel Kingscourts überhaupt nicht mehr zu zählen.

Eine herrliche Stadt war an das tiefblaue Meer gelagert. Großartige Steindämme ruhten im Wasser und ließen den weiten Hafen dem Blicke der Fremden sogleich als das erscheinen, was er wirklich war: der bequemste und sicherste Hafen des mittelländischen Meeres. Schiffe aller Größen, aller Arten, aller Nationen hielten sich in dieser Geborgenheit auf.

Kingscourt und Friedrich waren wie betäubt Auf ihrer zwanzig Jahre alten Seekarte fand sich nichts von dieser Hafenstadt, und nun war sie wie hergezaubert. Die Welt war also während ihrer Abwesenheit nicht stillgestanden.

Die Jacht ging vor Anker. Dann fuhren sie im Landungsboote durch das verblüffende Gewühl der Schiffe hindurch nach dem Kai. Sie tauschten in kurzen abgerissenen Sätzen ihre Eindrücke aus.

An den steinernen Stufen des Uferdammes legte ihr Boot an. Sie stiegen aus. Einige Schritte von ihnen entfernt wollte eben ein Herr die Stufen hinab gehen, zu der elektrischen Barke, die offenbar seiner harrte. Als dieser die beiden erblickte, blieb er betroffen stehen. Er starrte Friedrich mit weit aufgerissenen Augen an.

Der Alte bemerkte es und brummte:

»Was hat denn der Kerl? Sollte er noch nie zwei zivilisierte Menschen gesehen haben?«

Friedrich lächelte:

»Das ist nicht anzunehmen. Die Leute da auf dem Kai schauen zivilisierter aus als wir. Es könnte eher sein, daß wir ihm veraltet vorkommen. Sehen Sie doch da hinauf! Dieses weltstädtische Treiben auf der Straße. Die vielen gut gekleideten Menschen. Ich glaube, unsere Anzüge sind ein bißchen aus der Mode.«

Sie hatten dem Bootsmanne aufgetragen, sie an derselben Stelle zu erwarten und schritten über andere Steintreppen der erhöhten Straße zu, von deren Treiben sie am Wasserrande schon etwas gesehen hatten. Um den Unbekannten, der sie so auffallend anstarrte, kümmerten sie sich nicht weiter. Doch er folgte ihnen. Er bemühte sich, die Sprache zu erlauschen, in der sie redeten. Jetzt war er dicht hinter ihnen, jetzt streifte er vorbei und blieb mit einem Ruck vor ihnen stehen.

»Herr!« brauste Kingscourt auf, »was wollen Sie eigentlich von uns?«

Der Fremde gab ihm keine Antwort, sondern wandte sich an Friedrich, mit einer männlich warmen, aber vor Erregung zitternden Stimme:

»Sind Sie der Doktor Friedrich Löwenberg?«

Aufs tiefste überrascht, an so fremdem Ort plötzlich seinen Namen zu hören, entgegnete dieser:

»So heiße ich.«

Da riß ihn der Unbekannte stürmisch an seine Brust und küßte ihn auf beide Wangen. Dann ließ er ihn los und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Es war ein junger, kräftiger, hochgewachsener Mann von dreißig Jahren mit sonnengebräuntem Gesicht, das ein kurzer, schwarzer Bart umrahmte.

»Und wer sind Sie?« fragte Friedrich, nachdem er sich von der stürmischen Begrüßung erholt hatte.

»Ich! Sie werden sich wohl meiner nicht mehr erinnern. Ich heiße David Littwak.«

»Der kleine Junge vom Cafe Birkenreis?« »Ja, Herr Doktor! … Derselbe, den Sie vom Hungertode gerettet haben, samt seinen Eltern und seiner Schwester.«

»Ach, sprechen wir nicht davon!« wehrte Friedrich ab.

»Im Gegenteil! Wir werden noch viel davon sprechen. Was ich bin und habe, verdanke ich Ihnen. Zunächst sind Sie mein Gast - und wenn dieser Herr Ihr Freund ist, so ist auch er bei mir zu Hause.«

»Das ist mein bester, einziger Freund in der Welt, Mr. Kingscourt.«

2. Kapitel.

Noch ehe sie recht wußten, wie ihnen geschah, hatten Friedrich und Kingscourt sich von David Littwak die Dammtreppe hinaufführen lassen. Erst als sie oben auf dem Straßenniveau angelangt waren, begann ihnen der volle Eindruck dieser wundervollen Stadt und ihres Verkehres aufzugehen.

Vor ihnen weitete sich ein großer Platz, den die hochgeschwungenen Arkaden stattlicher Gebäude umgaben. In der Mitte war ein mit Gittern eingehegter Palmengarten. Palmen, hier ein gewöhnlicher Baum, standen auch überall rechts und links an den Rändern aller Straßen, die auf den Platz mündeten. Man sah gleich, daß diese Palmen doppelten Dienst hatten. Bei Tage spendeten sie Schatten, und nachts Licht, denn die elektrischen Straßenlampen hingen an ihnen wie große gläserne Früchte. Das war die erste Einzelheit, auf die Kingscourt ergötzt hinwies. Dann erkundigte er sich nach dem Charakter der Paläste, welche den großen Platz umgaben. David Littwak antwortete, es seien die Bureauhäuser verschiedener europäischer Seehandelsgesellschaften und Kolonialbanken. Der Platz führte darum den Namen Völkerplatz. Das war er in der Tat, nicht nur wegen der Gebäude, sondern auch wegen der Menschen, die ihn belebten.

Die Ankömmlinge staunten und starrten in das Gewühl. Es fand hier offenbar ein Verkehr aller Völker statt, denn man sah die buntesten Trachten des Morgenlandes zwischen den Gewändern des Okzidents. Chinesen, Perser, Araber wandelten durch die geschäftige Menge. Vorherrschend war freilich die Kleidung des Abendlandes, wie diese Stadt ja überhaupt einen durchaus europäischen Eindruck machte. Man hatte glauben können, daß man sich in einem großen Hafen Italiens befinde. Die Bläue des Himmels und des Meeres und das Leuchten der Farben gemahnten an die glückliche Riviera. Nur waren die Gebäude viel moderner und reinlicher, und der Straßenverkehr enthielt bei aller Lebhaftigkeit weniger Lärm. Das kam von der gemessen ernsten Art der vielen Orientalen, aber auch daher, daß keine Zugtiere in diesen Straßen waren. Man hörte weder den Hufschlag von Pferden, noch auch Peitschenknallen oder Rädergerassel. Die Fahrdämme waren so glatt wie die Fußsteige, und die Automobile hasteten auf ihren Gummirädern ziemlich geräuschlos vorüber, nur mit einigem Getute der warnenden Signalhörner. Ein Rollen über ihren Köpfen machten die Fremden aufschauen.

»Alle Deibel, was ist das?« schrie Kingscourt, indem er nach einem über den Palmenwipfeln vorbeisausenden großen Eisenwagen wies, aus dessen Fenstern Fahrgäste herunterblickten. Der Wagen halte die Räder nicht unten, sondern oben, über dem Dach. Er hing und schwebte an einem mächtigen, eisernen Brückengeleise.

David Littwak erklärte:

»Das ist die elektrische Schwebebahn. Die müssen Sie doch auch in Europa gesehen haben.« »Wir waren zwanzig Jahre nicht in Europa.«

»Die Schwebebahn ist ja nichts Neues. Sie war schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zwischen Barmen und Elberfeld im Betriebe. Wir haben sie in unseren Städten gleich von vornherein eingerichtet, weil der Massenverkehr so leichter und gefahrloser bewältigt werden kann. Der Bau war auch billiger als der von Straßen- oder Hochbahnen.« »Erlauben Sie, erlauben Sie!« rief Kingscourt. »Sie sprechen von Städten! Es gibt demnach in Palästina noch mehr solcher Städte?«

»Das wissen Sie nicht, meine Herren?«

»Nein,« sagte Friedrich; »wir wissen weder das noch etwas anderes. Wir wissen gar nichts. Wir waren zwanzig Jahre tot.«

»Für tot hielt ich Sie freilich, lieber Herr Doktor!« sprach David Littwak, indem er Friedrichs Hand nahm und noch einmal drückte.

»Haben Sie sich denn nach mir erkundigt? Ja, woher wissen Sie überhaupt meinen Namen? Ich glaube doch, ihn damals nicht genannt zu haben.«

»Als Sie sich unserem Danke entzogen, waren wir ganz trostlos. Ich dachte mir, Sie seien vielleicht ein Stammgast des Cafe Birkenreis. Dort habe ich viele Nächte vor der Tür auf Sie gewartet. Mein Vater auch.«

»Lebt Ihr Vater noch?«

»Ja, Gott sei Dank, und meine Mutter auch, und Mirjam, die Sie als Wickelkind sahen … Ich kam endlich auf den Einfall, Sie dem Kellner des Kaffeehauses zu beschreiben. Er erkannte Sie nach meiner Schilderung sofort und nannte mir Ihren Namen. Aber wie groß war mein Schmerz, als der Mann hinzufügte, Sie seien bei einer Bergbesteigung verunglückt, und die Blätter hätten Ihren Tod gemeldet … Ich kann Ihnen sagen, Herr Doktor, wir haben um Sie viel geweint. Wir haben auch immer pünktlich die Jahrzeit für Sie angezündet an dem Tage, den ich aus den Zeitungen herausgefunden hatte.«

»Jahrzeit? Was ist das?« fragte Kingscourt.

Friedrich gab Auskunft:

»Ein Brauch der Juden. Am Sterbetage des Hingeschiedenen zünden seine Angehörigen zum Gedächtnis ein Licht an.«

»Oh, ich habe Ihnen viel, viel zu erzählen, lieber Herr Doktor!« sagte David Littwak. »Aber hier werden wir nicht stehen bleiben. Vor allem bringe ich Sie in mein Haus, das Sie von jetzt ab als Ihr eigenes betrachten werden… Kommen Sie, meine Herren!«

»Und unser Boot, unsere Jacht?«

David Littwak wandte sich zu einem livrierten Diener, der ihm in kurzer Entfernung nachgefolgt war, und gab leise einige Befehle, worauf der Diener verschwand. Jetzt sprach David zu seinen Gästen:

»Alles ist besorgt. Das Boot wird nach der Jacht zurückkehren, und in Friedrichsheim wird man Ihre Aufträge abholen.«

»Wo?«

»In Friedrichsheim. So heißt mein Haus. Sie ahnen schon, wem zu Ehren? Gehen wir, meine Herren! Das heißt, wir werden fahren.«

Er hatte bei aller Liebenswürdigkeit etwas Bestimmtes in seinem Ton. Kingscourt murmelte aber nicht unzufrieden:

»Fritze, der übernimmt das Kommando! Wollen mal sehen!«

David Littwak hatte ein Automobil herangewinkt. Er bat die Herren einzusteigen. Doch als er ihnen folgen wollte, wurde er von jemandem angerufen: »Herr Littwak, Herr Littwak.«

Er drehte sich um:

»Ah, Sie sind’s? Was wünschen Sie?«

»In den Morgenblättern steht, daß Sie heute in Akko eine Versammlung abhalten. Ist es nicht wahr?«

»Ich wollte eben hinüberfahren. Aber ich muß die Versammlung absagen. Ich habe heute Wichtigeres vor. Richtig, ich will noch rasch hinübertelephonieren.«

»Darf ich es vielleicht für Sie tun, Herr Littwak?«

»Ja, wenn Sie so freundlich sein wollen.«

»Wahrscheinlich einen besonderen Besuch erhalten, Herr Littwak?« forschte der Eifrige indem er mit dem linken Daumen über die Schulter hinweg nach dem Wagen deutete.

David lächelte, antwortete aber nicht und nickte nur mit dem Kopfe. Dann rief er dem hintenauf sitzenden Heizer zu: »Nach Friedrichsheim!«

»Dieses Gesicht kommt mir bekannt vor,« sagte Friedrich, als der Wagen davonrollte. »Ich muß es in einer anderen Form gesehen haben, ohne grauen Backenbart, ohne den Kneifer auf der Nase.«

»Ja, er ist auch aus Wien, er hat mir oft von Ihnen erzählen müssen. Ich wollte ihn nur jetzt nicht herankommen lassen. Heute gehören Sie mir allein … Er war auch ein Gast des Cafe Birkenreis. Nun raten Sie!« ’ Eine Erinnerung blitzte auf.

»Schiffmann!« sagte Friedrich lachend. »Wie? Der ist auch hier?«

»Der und viele, viele andere Juden aus allen Städten und Ländern.«

Kingscourt, der neugierig nach allen Seiten hinausblickte, warf jetzt die Frage ein:

»Wollen Sie vielleicht sagen, daß die Rückkehr der Juden nach Palästina stattgefunden hat?«

»Freilich will ich das sagen.«

»Donner und Gloria!« schrie der Alte. »Sie sind aus Europa ausgetrieben worden?«

David erklärte freundlich lächelnd:

»Nun, Sie dürfen sich das nicht so wie im Mittelalter vorstellen. Wenigstens in den Kulturländern hatte es nicht diesen Charakter. Die Operation war zumeist unblutig. Den Juden wurde am Ende des neunzehnten und zu Anfang dieses Jahrhunderts das Verbleiben an ihren Wohnorten unleidlich gemacht.«

»Aha! Rausgeekelt?«

»Die Verfolgungen waren sozialer und ökonomischer Art. Boykott im Geschäftsleben, Aushungerung der Arbeiter, Ächtung in den freien Berufen, von den feineren, moralischen Leiden gar nicht zu sprechen, die ein höher organisierter Jude um die Jahrhundertwende zu erdulden hatte. Die Judenfeindschaft war mit den neuesten, wie mit den ältesten Mitteln tätig. Das Blutmärchen wurde aufgefrischt, aber gleichzeitig hieß es auch, daß die Juden die Presse — wie einst im Mittelalter den Brunnen — vergifteten. Die Juden wurden von den Arbeitern gehaßt, als Lohnverderber, wenn sie ihre Genossen waren; als Ausbeuter, wann sie die Unternehmer waren. Sie wurden gehaßt, ob sie arm oder reich oder mittelständig waren. Man nahm ihnen das Erwerben, aber auch das Geldausgeben übel. Sie sollten weder produzieren noch konsumieren. Von den Staatsämtern wurden sie zurückgestoßen, vor den Gerichten hatten sie das Vorurteil gegen sich, überall im bürgerlichen Leben fanden sie Kränkungen. Unter diesen Umständen war es klar, daß sie entweder die Todfeinde einer von Ungerechtigkeit strotzenden Gesellschaft werden oder nach einem Zufluchtsort ausblicken mußten. Das letztere ist geschehen, und hier sind wir. Wir haben uns gerettet.«

 

»Altneuland!« murmelte Friedrich.

»Jawohl, das ist es,« sagte David Littwak ernst und bewegt. »Auf unserem alten teuren Boden haben wir uns eine neue Gesellschaft eingerichtet. Sie werden sie kennenlernen, meine Herren.«

»Der Deibel, das ist furchtbar interessant. Da gibt es riesig viel zu sehen. Ich wollte Sie nicht stören in Ihrer geschätzten Anklageschrift gegen das olle Europa, sonst hätte ich Sie nach einigen Bauten gefragt, an denen wir vorbeigefahren sind.«

»Ich werde Ihnen alles zeigen.«

»Hören Sie ’mal, geschätzter Mann und Jude, ich will Ihnen zuerst ein Geständnis ablegen, sonst bereuen Sie nachher Ihre Aufmerksamkeiten. Ich bin nämlich kein Jude. He? Nu werden Sie mich wohl rausschmeißen oder gelinde rausekeln, was?«

»Aber Kingscourt!« wehrte Friedrich ab.

Ruhig sprach David Littwak:

»Daß Sie kein Jude sind, erkannte ich schon an einer Ihrer früheren Fragen. Lassen Sie sich sagen, daß meine Genossen und ich keinen Unterschied zwischen den Menschen machen. Wir fragen nicht, welchen Glaubens und welcher Rasse einer ist. Ein Mensch soll er sein, das genügt uns.«

»Millionen Bomben und Haubitzen! Und alle Bewohner dieser Gegend denken wie Sie?«

»Nein,« bekannte David offen; »das sage ich nicht. Es gibt noch andere Strömungen.«

»Aha! Das dachte ich mir auch gleich, verehrter Menschenfreund!«

»Ich will Sie jetzt nicht mit unseren politischen Kämpfen langweilen. Die sind so wie überall in der Welt. Aber das kann ich Ihnen sagen: die Grundsätze der Menschlichkeit werden bei uns allgemein in Ehren gehalten. Und was die Religionen betrifft. Sie finden bei uns neben unseren Tempeln die Gotteshäuser von Christen, Mohammedanern, Buddhisten und Brahmanen. Die beiden letzteren Glaubensgesellschaften sind allerdings nur in den Seestädten vertreten, zum Beispiel hier in Haifa, in Tyrus, Sidon und in den größeren Orten längs der Bahn, die nach dem Euphrat führt, etwa in Damaskus und Tadmor.«

Friedrich staunte:

»Tadmor! Die Stadt Palmyra lebt wieder?«

David nickte bestätigend:

»Das große Schauspiel des allgemeinen Gottesfriedens werden Sie aber in Jerusalem genießen.«

»Mein Kopf, mein Kopf!« stöhnte Kingscourt. »Wie soll man denn das alles auf einmal behalten?«

Sie waren an einer Straßenkreuzung angelangt, wo der größere Wagenverkehr eine augenblickliche Stauung verursachte. Das Automobil mußte halten. Da erkannten sie, wie

praktisch die Schwebebahn war. Unter den dicken eisernen Doppelgeleisen sausten die großen Kasten hoch in der Straßenmitte dahin, ohne die Fußgänger zu stören oder von ihnen gestört zu werden.

Von diesem Punkte ihres gezwungenen Aufenthaltes blickten sie in mehrere Straßen. Die Mannigfaltigkeit der Baustile erfreuten ihre Augen. Dann ging die Fahrt weiter durch lebhafte Stadtteile. Die Wohnhäuser waren zumeist klein und zierlich, offenbar nur für den Gebrauch der einzelnen Familie berechnet, wie man sie in belgischen Städten sieht. Um so stattlicher ragten die Kaufhäuser und die öffentlichen Gebäude, die als solche leicht erkennbar waren. David Littwak nannte ihnen einige im Vorüberfahren: das Seeamt, das Handelsamt, die Arbeitsvermittlung, die Unterrichtsverwaltung, das Amt für Elektrizität. Ein großer heiterer Palast, dessen Vorderseite eine freskengeschmückte Loggia hatte, fesselte ihre

Aufmerksamkeit.

»Das ist das Bauamt,« sagte David. »Hier haust Steineck, unser erster Architekt. Von ihm ist der Stadtplan entworfen worden.«

»Der Mann hat eine große Aufgabe,« sprach Friedrich.

»Groß, jawohl, aber auch freudig. Er durfte aus dem Vollen schaffen, wie übrigens wir alle. Nie in der Geschichte sind Städte so rasch und herrlich erbaut worden, wie bei uns, weil man nie vorher solche technische Mittel zur Verfügung hatte. Die Leistungsfähigkeit der Kulturmenschheit war ja in dieser Beziehung schon am Ende des neunzehnten Jahrhunderts kolossal. Wir brauchten nur die bekannten Dinge zu uns herüber zu verpflanzen. Wie das geschehen ist, werde ich Ihnen später noch erzählen.«

Sie waren jetzt in eine Villengegend der Stadt geraten. Der Fahrweg stieg an. Sie befanden sich auf dem Karmel. Hier standen schmucke Schlößchen inmitten duftender Gärten. An einzelnen Häusern maurischer Bauart bemerkten sie Holzgitter von engem Geflechte vor den Fenstern.

David kam der Frage zuvor:

»Hier wohnen einige vornehme Mohammedaner. Da sehen Sie gerade meinen Freund Reschid Bey.«

Vor dem schmiedeeisernen Tore eines Gartens, an dem sie vorbeifuhren, stand ein schöner Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Zur dunklen europäischen Kleidung trug er das rote Fez. Er grüßte nach orientalischer Art, indem er mit der Rechten den Luftschnörkel machte, der das Aufheben und Küssen des Staubes bedeutet. David rief ihm einige Worte in türkischer Sprache zu, worauf Reschid mit leicht norddeutscher Betonung zurückgab:

»Wünsche eine recht anjenehme Unterhaltung!«

Kingscourt riß die Augen auf:

»Was ist denn das für’n Muselmännchen?«

David lachte:

»Er hat in Berlin studiert. Sein Vater war einer derjenigen, die den Vorteil der Judeneinwanderung sofort begriffen. Er machte unseren ökonomischen Aufstieg mit und wurde reich. Reschid ist übrigens auch Mitglied unserer neuen Gesellschaft.«

»Der neuen Gesellschaft?« wiederholte Friedrich. »Was ist das für eine?«

Kingscourt setzte hinzu:

»Hochgeliebter Mann, uns müssen Sie wie neugeborene Kälber in allem Wissenswertem unterweisen! Wir kennen weder die alte noch die neue Gesellschaft.« »Doch!« sagte David. »Die alte kennen oder kannten Sie. Unsere neue werde ich Ihnen vorstellen, bis wir mehr Muße haben. Jetzt ist dazu nicht mehr Zeit. Wir sind gleich dort, wo Sie sich fortab zu Hause fühlen sollen.«

Immer freier öffnete sich der Ausblick auf dem geschlängelten Wege. Nun lagen Stadt und Hafen von Haifa, die weite Bucht mit dem Gartenkranze und am anderen Ende Akko mit seinem Berghintergrunde vor den entzückten Augen der Fahrenden. Und nun waren sie ganz oben auf der Nordspitze des Karmel. Rechts und links, nach Norden und Süden dehnte sich das herrliche Gestade von Palästina, und vor ihnen weitete sich blau und goldig die endlose Fläche des Meeres. Weiße Schaumkämme flatterten wie Möwen darüber hin, dem hellbraunen Strande zu.

David hatte den Wagen halten lassen, damit sie den einzigen Anblick genössen. Er stieg aus, und die beiden folgten ihm. Er wandte sich zu Friedrich:

»Sehen Sie, Herr Doktor, das ist das Land unserer Väter!«

Und Friedrich wußte nicht, warum ihm bei diesen einfachen Worten des jungen Mannes die Augen von Tränen warm wurden. Doch war es eine andere Stimmung, als in jener Nacht von Jerusalem, zwanzig Jahre früher. Damals hatte er den mondbeglänzten Tod vor sich, und jetzt ein sonnenfreudiges Leben. Er blickte David an. Was war aus dem bettelhaften Judenjungen geworden! Ein frei und ernst schauender, gesunder, gebildeter Mann, der fest in seinen eigenen Schuhen zu stehen schien. Noch hatte David kaum eine Andeutung über seine eigenen Verhältnisse gemacht, aber es mochte ihm nicht schlecht ergehen, da er in dieser eleganten Gegend wohnte, wo es nur Villen und Schlösser gab. Er mußte aber auch ein angesehener Bürger sein, denn sie hatten unterwegs bemerkt, wie viele Leute ihn grüßten. Selbst ältere Personen kamen ihm mit dem Gruße zuvor.

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