HIMMEL, HÖLLE ODER HOUSTON

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Decision Or Collision

Dallas/Fort Worth International Airport, Parkhaus

Freitag, 21:14 Uhr

Ich betätigte die Zündung meines 1969er Plymouth Barracuda. Als der Motor aufheulte, steckte ich mir erst einmal eine Lucky Strike an und nahm meinen Flachmann mit Jim Beam aus dem Handschuhfach. Donnergrollen und knisternde Blitze schienen meinen Zorn scheinbar bändigen zu wollen, doch es gelang ihnen nicht. Ich zitterte vor Rage und rauchte meine Zigarette innerhalb weniger Sekunden auf, bevor ich erkannte, dass ich schon eine zweite angezündet hatte. Mir schwirrte der Kopf vor wirren Emotionen und panischen Gedanken. Mehrere bodenlose, verzweifelte Momente vergingen, bis ich einen Entschluss fasste.

Ich trank langsam aus dem Flachmann. Es war das einzige greifbare Erbstück der Familie McCutcheon. Mein Urgroßvater hatte ihn als Soldat aus dem Ersten Weltkrieg mit nach Hause gebracht. Ich fuhr mit dem Daumen über die tiefe Delle, die der Legende nach auf einen angepissten Franzosen zurückging, der auf meinen Großvater geschossen hatte, weil dieser mit dessen Ehefrau in die Kiste gehüpft war – ein weiterer charmanter Wesenszug, den er von einer verdrehten Generation zur nächsten weitergereicht hatte. Während ich trank, überlegte ich, wie viele besoffene McCutcheons wohl schon an diesem mitgenommenen Stahlgefäß geklebt hatten.

»Danke, ihr Säcke«, sagte ich deshalb laut und zog zwei Fotos hinter der Sonnenblende hervor. Erneut stiegen mir Tränen in die müden Augen. Eines der Fotos war am Abend unserer Verlobung gemacht worden; wir hatten Inez’ Verwandte in deren Haus in Saltillo besucht. Es war eine großartige Zeit gewesen. Ich setzte den Flachmann noch einmal an und betrachtete dabei das zweite Bild; es stammte von Bellias Taufe. Sie und ihre Mutter waren wirklich wunderschön. Die Kleine mit ihrem weichen, dunkelhaarigen Köpfchen … Gott sei Dank schlug sie mit ihrem Aussehen ihrer mamacita nach. Ich kicherte und weinte zur gleichen Zeit.

Das vergangene Jahr war mir nur dunkel und verschwommen im Gedächtnis geblieben, und nach all dem zurückliegenden Elend hatte ich ein Riesenglück, dass Inez mir weiter die Treue hielt. Die Schießerei und der Unfall waren aber natürlich nicht unbemerkt an meiner Familie und mir vorübergegangen. Der jüngste Ausfall mit dem Gouverneur erinnerte mich nur wieder daran, dass es mit meinem Glück bald vorbei sein würde und ich, was Inez betraf, mein Schicksal mehr oder minder besiegelt hatte. Denn dies würde garantiert der Tropfen sein, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Der warme Whiskey rann meinen Rachen hinunter … wie hatte ich nur schon wieder so einen Mist bauen können? Jesus Christus, diese Frage war mir im Laufe der letzten Jahre ganz schön oft gekommen, eine Antwort darauf allerdings nie. Ich sah kommen, dass der verfluchte Flachmann leer sein würde, wenn ich irgendwann aus diesem gottverlassenen Parkhaus fahren würde.

Im Kassettendeck lief »Ain’t Wastin’ Time No More« von den Allman Brothers, und mein verhangener Horizont klarte langsam auf. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass meine Gebete endlich erhört worden waren, an welches höhere Wesen ich sie auch immer gerichtet haben mochte – dies war ein Zeichen. Ich warf den zweiten Zigarettenstummel aus dem Fenster und trank noch einmal aus dem Flachmann, bevor ich ihn zurück ins Handschuhfach steckte, dann stellte ich die Hurst-Automatik auf Dauerbetrieb.

Der Regen trommelte auf meinen mitternachtsblauen Plymouth, während ich den Weg zum Ausgang des Flughafenparkhauses zurücklegte und schließlich auf den Freeway in Richtung Südosten einbog.

Ich hatte meine Entscheidung gefällt! Sturm und Regen folgten mir nach Houston.

Just Got Paid

Route 45 South

Die Nässe spritzte unter den Reifen des Cadillac hervor, und ein Schild mit der Aufschrift »Willkommen in Texas« flog in der kühlen Nacht vorüber. Niemand im Wagen bemerkte es allerdings oder interessierte sich überhaupt dafür. Grauer Dunst strömte aus den getönten Scheiben und vermischte sich mit dem Dampf, der von Highway 45 aufstieg. Vereinzelte Straßenlaternen leuchteten im Vorbeifahren auf, doch Isandro sah sich in keiner Weise dazu bemüßigt, Notiz davon zu nehmen.

»Hey, esé, keiner hat mehr cerveza oder Tequila. Wir müssen unbedingt einen Laden finden, und zwar pronto, yo«, ordnete er an. Seit sie ihr »Partyhäschen« abgestoßen hatten, war es unangenehm still im Wagen gewesen, also war er der Meinung, dass seine Chaostruppe mal wieder einen Tritt bräuchte, und keinen Alkohol mehr an Bord zu haben, lief dem Ganzen zuwider. Er stürzte gerade den letzten Rest Tequila hinunter, und auch das Gras war schon fast vollständig aufgebraucht. So wird das alles nichts, dachte er.

Er betrachtete ununterbrochen das Foto seiner Zwillinge und kämpfte dabei mit aller Macht dagegen an, in Tränen auszubrechen. Denn er durfte vor seiner Crew auch nicht nur einen Hauch von Schwäche zeigen – das durfte er einfach nicht. Denn genau aus diesem Grund war sein Arsch zuletzt überhaupt wieder im Knast gelandet. Doch seit er dem Wärter die Kehle durchgeschnitten hatte und in den Mülllaster geklettert war, stand sein Schwur fest: Er würde sich niemals mehr angreifbar zeigen – selbst, wenn er dabei draufging. Der Tod war immer noch besser, als ein rückgratloser pequeño puto zu sein.

»Wenn mich nicht alles täuscht, steht auf dem Schild dort drüben was von Spirituosen«, rief Hector und blinkte rechts, um die nächste Ausfahrt nehmen zu können, die sie zu der Leuchtreklame führen würde, einer Oase in der klammen texanischen Nacht.

Eine einzelne kleine Laterne hing über dem aufgerissenen Pflaster vor dem alten Schnapsladen wie eine welkende Blüte an einer Ranke. Feiner Regen ergoss sich senfgelb auf den porösen Asphalt, als der Cadillac mit quietschenden Reifen am Gebäude vorfuhr. Die alten Scheibenwischer taten sich extrem schwer mit der schleimigen Nässe auf dem Glas, und von Norden her wehte ein kalter Wind. Isandro erschauderte, als er hinten ausstieg und geduckt los eilte. Die anderen Crewmitglieder folgten ihm, nur Hector nicht, der hinter dem Steuer des laufenden Wagens sitzen blieb.

Während der Boss seinen Blick durch den Regen schweifen ließ, entdeckte er einen rostroten Chevy Pick-up und einen blauen Ford Torino Kombi auf dem Grundstück. In Letzterem saß eine aufgeregte Frau, die gerade zwei kleine Kinder ausschimpfte. Dies alles nahm er zur Kenntnis, als er das Geschäft betrat. Ein Glöckchen kündigte die Kundschaft an, als die Gruppe in den gut sortierten Laden kam. Für Isandro war das Meer aus Flaschen Seelenheil in abgefüllter Form, er suchte die vollen Regale an den Wänden deshalb langsam und sorgfältig ab.

»Immer cool bleiben«, wisperte er seinen Schergen zu, als sie sich im Raum aufteilten. Jeder kannte seine Aufgabe ganz genau und wusste, was geschehen würde, wenn er patzte. Die um einen Kopf kürzer gemachte Blondine bei Mickey Dee’s diente als eindrückliches Beispiel dafür, was geschah, wenn jemand Big Papi ärgerte. Auf all das konnten sie im Moment getrost verzichten, denn es war viel zu laut.

***

Paul Reynolds war hundemüde. Die Spätschicht im Betrieb brachte ihn immer fast um, und er brauchte dringend einen Wodka. Etwas – irgendetwas – das ihn abstumpfte gegen den Scherbenhaufen, der von seinem Leben übrig geblieben war, seit er dieses Luder Traci geschwängert hatte. Gott musste offenbar einen tiefen Hass auf Pauls arme Seele geschoben haben, dass er ihm nicht nur einen, sondern gleich zwei besserwisserische Halbstarke aufgebürdet hatte. Sein Traum war es einmal gewesen, der nächste Quarterback der Dallas Cowboys zu werden, doch jetzt, schuftete er sich in der Ölraffinerie zu Tode beziehungsweise wartete darauf, dass seine Leber endlich versagte, um aus dieser Hölle auf Erden verschwinden zu können.

»Kann gar nicht schnell genug gehen«, klagte er, schnappte sich eine Flasche Mad Dog 20/20 aus dem vollen Regal und steckte sie in seine abgetragene Jacke. Hoffentlich schaute der alte Mann an der Theke nicht gerade zu ihm hinüber, denn das war das Letzte, was Paul im Moment gebrauchen konnte. Er wollte sich einfach nur heillos besaufen und dabei sein Leben vergessen, sich vielleicht das Spiel der Rangers in ihrem schrottreifen Fernseher ansehen und das ganze Wochenende durchschlafen. Vielleicht würde er sich sogar noch zu den Solid Gold Dancers sein Handgelenk trainieren und dann mit der Bitte in ein postorgasmisches Koma fallen, dass der Tod ihn vor Montagmorgen heimsuchen würde.

Er konnte nicht ahnen, dass sein Flehen schon so bald erhört werden sollte.

***

Die letzten Dinge, die Paul durch den Kopf gingen, waren die klingelnden Glöckchen an der Tür des Schnapsladens und eine 9mm-Patrone, die sein Blut und Teile seines Gehirns auf das Rum-Sortiment von Capt. Morgan spritzen ließ. Cahill hielt die rauchende Kanone hoch und lachte dabei wie eine kranke Hyäne.

Isandro packte ihn am Kopf und schleuderte seinen dünnen Körper wütend gegen einen Schrank mit Gin-Flaschen. Das Glas zerbrach, sodass sich die klare Flüssigkeit über sie beide ergoss. Dadurch, dass er mit der Pistole über Cahills Schläfe fuhr, fügte er ihm einen tiefen Schnitt zu, bevor der freche Knabe im Regal, das voller Scherben war und vor Alkohol tropfte, zu Boden sackte.

»Du blöder pendejo. Was zum Henker hast du dir denn nur dabei gedacht, esé?« Der Boss verlieh seinem Missfallen Nachdruck, indem er dem Jungen mit einem Stiefel mit Stahlkappe in den Bauch trat. Als er eine Bewegung an der Kasse sah, stürzte er sofort hinüber.

 

»Immer mit der Ruhe, Pops.« Er hielt dem betagten Inhaber den Lauf der Pistole genau in das Gesicht und drängte ihn zurück gegen die Spirituosen hinter der Theke. »Dann müssen wir dich auch nicht ausschalten, wie den maricón dort drüben.« Isandro zeigte dem alten Mann, der eine Bifokalbrille trug, mit seiner Waffe den zuckenden Mann auf dem verdreckten braunen Teppichboden.

»Äh, o… okay. Ich … ich bleibe ganz ruhig.« Der Alte zitterte und fuhr erschrocken zusammen, als der Mexikaner die Mündung der Beretta gegen seine schweißnasse Stirn drückte. Isandro grinste angesichts der Träne, die nun über die faltige Wange seines Gegenübers rann.

»Gut, Großpapa, sehr gut.« Er nahm die Waffe wieder herunter und drehte sich zum Rest der Crew um. Alle standen einfach nur da und starrten auf Cahills reglosen Leib.

»Yo, pequeño putos. Zeit zum Einkaufen; Papi ist durstig.« Er lachte und trat nun zu dem Mann hinter die Theke, zwang ihn auf seine zitternden Knie und behielt dabei sein Lächeln die ganze Zeit bei.

»Beeilt euch, vatos, denn weil dieser pequeño puto so schießwütig war, müssen wir jetzt schnell von hier verschwinden.« Mit diesen Worten ging er neben dem weinenden Besitzer zu Boden und tätschelte dessen schütteren grauhaarigen Kopf, während die Bande Plastiktüten mit seinen bevorzugten Alkoholsorten füllte. Sein Blick fiel jetzt auf Cahill, der immer noch mit Sprit besudelt und blutend zusammengekauert am Boden lag. Erneut musste er lachen. Isandro prügelte das Weißbrot gern immer wieder windelweich. Er musste schließlich klare Botschaften vermitteln, und wenn er eines nicht brauchte, dann dass dieser pequeño puto aus der Reihe tanzte. Das Töten oblag immer nur ihm selbst; er hatte eine Zahl im Kopf, und die war noch lange nicht erreicht. Fast taten ihm die putas leid, die seinen Weg kreuzen würden, doch diese Reue verflog recht bald wieder.

Isandro rieb beruhigend die Schultern des Alten, während seine Leute Nachschub beschafften, und sprach dabei tröstende Worte auf Spanisch. Der Mann lehnte sich sogar bei ihm an und hörte auf zu weinen.

»Yo mataria tu«, gurrte der Boss und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Offensichtlich verstand der Inhaber Isandros Muttersprache, denn er schluchzte nun laut und kroch panisch von ihm weg.

»Neiiiiin!«, flüsterte er stöhnend.

»Zum Auto, sofort!« Isandro achtete jetzt nicht mehr auf die Crew, sondern richtete die Pistole auf den Alten, der versuchte, sich ihm auf dem blutgetränkten Teppich zu entziehen.

Plötzlich fielen draußen auf dem dunklen Parkplatz Schüsse. Der Anführer packte Cahill an seiner mit Gin und Blut befleckten Jacke, schleifte ihn hinaus und legte ihn direkt vor dem Cadillac ab. Dann schaute er sich aufmerksam um. Etwas in dem Kombi fiel seinen ausdruckslosen Augen sofort auf. Er wandte sich Bobby und Manny zu und zeigte ihnen den blauen Ford. Nachdem sie die Tüten mit dem Alkohol ins Auto gelegt hatten, zückten sie ihre Pistolen und rannten hinüber.

Der kalte Regen peitschte so heftig auf den Platz, dass er das gelbe Licht beinahe ausblendete. Isandro näherte sich dem Torino nun mit erhobener Waffe. Mit einem Nicken befahl er den anderen beiden, sich jeweils von der Seite anzupirschen. Er wartete, bis seine Erfüllungsgehilfen in Position waren, und zog dann die Fahrertür auf. Sie quietschte laut, sodass irgendwo im Dunkeln ein Hund meinte, deswegen bellen zu müssen.

Der Regen nahm noch weiter zu, und machte damit das Innenlicht des Autos praktisch nutzlos. Manny musste wohl eine weitere Bewegung bemerkt haben, denn ein Mündungsfeuer aus seiner Pistole erhellte die Karre nun. Ein dunkelroter Fleischbrei klatschte gegen die Windschutzscheibe, während gleichzeitig ein irres Geschrei auf der Rückbank losbrach, weshalb sich nun ein zweiter Hund in den nächtlichen Chor einreihte.

Isandro riss die hintere Tür auf und streckte seine Beretta in das Auto hinein. Jetzt kam ihm der gelbe Schein der Deckenlampe ganz gelegen. Er nickte kurz und lächelte den verbliebenen Insassen des Ford zu.

»Buenos, hola, buenas tardes, señoritas.« Er verbeugte sich und zwinkerte den zwei hübschen Teenagerinnen zu, die im schwachen Licht der Innenlampe hysterisch schrien und zitterten. Er gestikulierte mit der Pistole, woraufhin seine beiden Begleiter die gegenüberliegende Tür öffneten und die Mädchen, die um sich traten und kreischten, hinaus in den Regen auf den Parkplatz zerrten.

Auf dem Weg zu ihnen wurde Isandro ganz warm im Schritt, da er sie ungefähr im High-School-Alter schätzte. »Genau richtig«, urteilte er, nachdem er sich hingekniet und einer der Blonden den Kopf grob in den Nacken gerissen hatte. Regen fiel in ihr ängstliches Gesicht und wusch die Tränen ab. In seinem Schritt wurde es daraufhin noch heißer.

»Ésta perras jóvenes bien en el coche«, verlangte er und gab der panischen jungen Frau einen innigen Zungenkuss, der ihre Schreie augenblicklich erstickte.

Danach lächelte er wieder und ließ ihr langes Haar los. »Wollt ihr eine kleine Spritztour machen, Ladys?« Beim Aufstehen versuchte er erst gar nicht, seine beträchtliche Erektion vor ihnen zu verbergen. Das Geschreie der beiden brachte noch ein halbes Dutzend weiterer Hunde in der Umgebung dazu, in die unwirtliche Nacht hinein zu bellen.

»Ach, ich glaube nicht, dass eure Eltern etwas dagegen haben werden.« Isandro drehte sich auf seinem gestiefelten Absatz um und schlenderte dann gemächlich zu dem Cadillac. Dabei machte er sich lauthals über seine jungen, wimmernden Gefangenen lustig.

Und das war gerade erst der Anfang. Zwischen diesem Ort und Mexiko lagen noch viele Meilen, und er wollte doch schwer hoffen, dass er genügend Munition hatte. Bestimmt wartete zu Hause schon literweise Sprit auf ihn.

Waitin’ For The Bus

Im Greyhound 67 von Rochester, New York nach Dallas, Texas

19:15 Uhr

Stacy Jo Casillas war eine Flüchtige – das war sie schon immer gewesen. Sie hatte Arcadia Falls längst den Rücken gekehrt, ihrer Heimatstadt am Arsch der Welt; sie war vor ihrem gewalttätigen Vater, einem Säufer, und eine Zukunft davongelaufen, in der ihr nichts weiter blühte als ein Ehemann, der sie ebenfalls misshandelte und ihr einen Braten nach dem anderen in die Röhre schieben würde, als sei sie nur eine Industrieküche. Sie aber wollte etwas anderes mit ihrem Leben anfangen und wäre ganz bestimmt nicht zu Hause geblieben, um zu einer Art Ersatzehefrau für ihren Vater zu werden, nachdem ihre Mutter mit dem Postboten durchgebrannt war. Sie hatte eigentlich vor, Spuren in der Welt zu hinterlassen, doch das konnte man als verbitterte Sechzehnjährige nicht. Sie hatte während der Wintermonate Teilzeit im Somerville Drugstore gejobbt, fast das ganze Geld gespart und dafür eine Fahrkarte gekauft. Diese sah sie als Lottoschein an, weil sie damit ein ganz neues Leben und Freiheit gewann – etwas, das ihr bislang vollkommen unbekannt gewesen war.

Sie hatte sich beim Trampen bis nach Rochester mitnehmen lassen und dann einen Bus in Richtung Süden genommen. Die Fahrt dauerte ewig und war unfassbar langweilig und sie brauchte unbedingt etwas zum Rauchen. Eine bessere Gelegenheit als jetzt konnte sie sich nicht vorstellen. Zu den Insassen zählten nur ein paar unheimliche alte Säcke, die sie die ganze Zeit kritisch beäugten. Diese widerwärtigen Päderasten machten ihr zwar keine Angst, doch ihre Skepsis Fremden gegenüber kam immer wieder vollständig zum Tragen. Sie hatte damals das Klappmesser ihres Vaters mitgehen lassen und wusste auch, es einzusetzen … das glaubte sie zumindest.

Als der Bus über die texanische Grenze gefahren war, hatte es zu regnen angefangen, und seitdem nicht wieder aufgehört. Grelle Blitze erhellten das dunkle Innere des Busses und machten die hässlichen Reisenden nicht nur unansehnlicher, sondern auch bedrohlicher. Ihr Ziel laut Karte war Houston, doch ein Bauchgefühl sagte ihr, dass sie bei der nächsten Gelegenheit aussteigen sollte. Der fette Kerl mit der Brille, deren Gläser so dick wie Flaschenböden waren, rückte ihr langsam über die Sitzbank hinweg immer dichter auf die Pelle. Sie mochte vielleicht in einem Bauernkaff aufgewachsen sein, doch ihr Vater, ein knallharter Puerto-Ricaner, hatte ihr beigebracht, sich zu behaupten und zu überleben, und genau dies zu tun war sie imstande, obwohl sie seit jeher versuchte, von der ganzen Gewalt wegzukommen. Darum lautete ihr Credo auch: Flucht ist immer besser als Kampf.

Der prasselnde Regen donnerte dröhnend laut in dem Busabteil und übertönte sogar »Purple Rain« von Prince, das sie sich auf ihrem Walkman anhörte. Stacy Jo sah nun, dass der Fettklops nur noch zwei Reihen weiter saß und sie fortwährend wie einen Big Mac begaffte. Ein gleißender Blitz beleuchtete jetzt sein aufgedunsenes Gesicht, wobei seine Augen im bläulichen Licht förmlich zu glühen schienen.

Der Busfahrer näselte jetzt durch die maroden Lautsprecher: »Nächster Halt in zehn Minuten, Damen und Herren.«

Dies war ihre Chance, dem Psycho zu entrinnen und einen durchzuziehen, wie sie ihre Cannabis-Therapie vorzugsweise umschrieb. Sie stand auf und zog sich in die enge Toilettenkabine am Heck des Fahrzeugs zurück. Darin stank es so, als würden alle Reisenden auf den Boden und ins Waschbecken pinkeln anstatt in das kleine Klo. Der Bus ruckelte heftig, als sie die klebrige Tür hinter sich schloss. Die Lampe an der Decke flackerte leicht, und schien einfach nicht gleichmäßig leuchten zu wollen. Von dem willkürlichen An und Aus bekam Stacy fast sofort Migräne, doch das war ihr immer noch lieber, als zur nächsten Wichsvorlage des Perversen da draußen zu avancieren. Das Fahrwerk wackelte, und lauter Donner wie Trommelwirbel flankierte das Rauschen des Regens. Sie öffnete nun ihren Rucksack und sah nach, ob das Klappmesser noch immer da war; ein erleichterter Seufzer folgte, als sie es mit einer ihrer zierlichen Hände ertastete. Sie nahm nun ein Schälchen aus Metall heraus, das ein Schulfreund im Werkunterricht für sie angefertigt hatte. Auf einmal klopfte es so laut an der Tür, dass sie zusammenzuckte. Sie verstaute es gerade hastig wieder in ihrem Rucksack, als ein weiterer Donnerschlag den Bus zum Vibrieren brachte.

»Besetzt.« Stacy Jo musste gegen das wütende Unwetter anschreien. Während sie gegen die Falttür drückte, griff sie mit der anderen Hand nach ihrer Tasche.

»Ich muss aber dringend pinkeln, Mädchen, also mach schon«, beschwerte sich eine schrille Stimme durch die dünnen Paneele. Sie erzitterte erneut, als abermals gegen die Tür gehämmert wurde, weshalb Stacy Jo Herzklopfen bekam.

»Ich sagte doch: Besetzt, du Arschloch, verflucht noch mal!«, rief sie, während sie sich gegen die nachgebende Tür presste, und sich hektisch nach dem Rucksack ausstreckte. Als der Bus scharf nach links fuhr, ging die Tür mit einem Ruck unter dem Schwergewicht des fetten Typen auf, der zwei Reihen entfernt von ihr gesessen hatte. Er grunzte, als er gegen Stacy fiel, und betatschte sie dabei mit seinen wurstigen Griffeln, während er sie gegen die hintere Wand der schmalen Kabine drückte. Sie versuchte panisch, seine wuchtige Masse wegzudrücken, doch er war einfach zu dick. Sie schlug und trat nach ihm, doch die Treffer zeigten offenbar keinerlei Wirkung auf seinen gewaltigen Leib. Er lachte lediglich, grapschte nach ihren Brüsten und wollte ihr außerdem eine Hand zwischen die Beine schieben.

»Na komm schon, Baby, mir ist schon in Pittsburgh aufgefallen, dass du ganz scharf auf mich bist.« Er ließ seine fette Zunge gegen ihr Ohr schnellen, während sie sich panisch bemühte, ihn wegzudrängen. Dass der Bus schwankte, kam ihm allerdings nur entgegen, weil er sich so mit vollem Gewicht an sie anschmiegen konnte, und gleichzeitig an der Armeejacke ihres Vaters und an ihrer Jeans zerren konnte. Er zerriss dabei ihr T-Shirt, unter dem sie zum Glück einen BH trug. Sie spürte, wie ihr sein heißer Speichel von einer Wange auf die Brust rann.

»Lass mich gefälligst sofort los, Mann!« Sie fiel rückwärts auf den Toilettensitz, womit sie ihrer Tasche Gott sei Dank näher war. Er röchelte und schnaubte jetzt wie ein läufiges Schwein. Sie spürte sein erigiertes Glied an ihren Rippen, bevor sie in seine wabbelige Wampe boxte und in ihren Rucksack langte.

»Du weißt, dass wir füreinander bestimmt sind, Baby, du brauchst dich gar nicht dagegen zu wehren.« Er sabberte in ihr Ohr und drückte dabei ihre kleinen Brüste. Der Bus schlingerte wieder, sodass der Fettsack gegen die dünnen Türlamellen knallte. Stacy reagierte sofort, zog das Klappmesser aus dem Futteral ihrer orange-schwarzen Tasche und hielt es in die Höhe.

 

»Geh auf Abstand, Wichser«, drohte sie, obwohl ihre Stimme bei dem Röhren des Dieselmotors, da der Fahrer ordentlich Gas gab, und dem stürmischen Treiben draußen fast unterging.

»Sei nett, Schätzchen. Ich will doch nur mal probieren.« Der Dicke wischte sich den Speichel von seinen herabhängenden Wangen und stürzte sich wieder auf sie.

Er riss seine Augen weit auf, und sein Mund erschlaffte, als die Klinge, tief in seinen runden Bauch eindrang. Heißes Blut strömte über ihre Hand, und sie hörte, wie er nach seiner Mutter rief, während er niedersank und zusammengekrümmt am Boden der kleinen Kabine liegen blieb.

Die flackernde Lampe erinnerte Stacy an einen alten Schwarz-Weiß-Film, wohingegen das Blut, das von ihrem Messer tropfte, einen kräftigen Rotton hatte. Ihr Angreifer starb nun vor ihren Augen. Es regnete unentwegt weiter, und der Donner schien in nichts nachstehen zu wollen. Der dicke Mann schluchzte noch einmal und blickte dann zu ihr auf, als seinem mit Speichel verschmiertem Mund ein letzter Atemzug entwich. Er zupfte schwach an ihrem Hosenbein und verlangte nach seiner Mama. Dieser letzte Wunsch blieb allerdings unerfüllt. Stacy Jo wischte sein Blut an ihrem schweißfleckigen T-Shirt ab und verließ hastig die Toilette.

Der Fahrer meldete sich nun wieder über die Lautsprecher: »Wir erreichen jetzt Moes Whiskey’s Horseshoe Lounge und Busstation – die besten Grillspezialitäten diesseits des Mississippis, also hoffe ich, dass Sie hungrig sind.«

Stacy raffte ihr Gepäck zusammen, achtete aber darauf, dass niemand das Blut an ihren Händen sah, als sie aus dem dunklen Greyhound stieg.