Fehlschuss

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Der Schuss

Um 11:10 Uhr traf das Quartett beim Sekretariat der Klubschule im zweiten Stock der Liegenschaft ein. «Der Kurs findet im Zimmer 211 statt», stand an der Infotafel zu lesen. Diese Schule an der Marktgasse war in ihrer Art ein Unikum, mit einem grossen Innenhof, den bei schönem Wetter nicht bloss Raucherinnen und Raucher für eine Pause benutzten. Auf der gleichen Etage war auch eine Turnhalle untergebracht, wo verschiedene Sportkurse unterrichtet wurden. Man muss sich das einmal vorstellen: Ein Innenhof und eine Turnhalle mitten in der Innenstadt, bei diesen Bodenpreisen. Kein Wunder also, plante die Klubschule nach eigenen Angaben, ihre verschiedenen Standorte in Bern an einem einzigen Ort beim Hauptbahnhof zusammenzulegen.

Die vier Mannen liefen in Richtung Treppenhaus im zweiten Stock an zwei Eisenplastiken von Oscar Wiggli und Bernhard Luginbühl vorbei. Im Zimmer 211 wurden sie bereits von drei anderen Kursteilnehmern erwartet – und von Kursleiterin Barbara Schmid, hauptberuflich in der Nachrichtenredaktion bei Radio SRF an der Schwarztorstrasse in Bern beschäftigt, begrüsst. Seit einigen Jahren erteilte sie auch Medientraining.

«Hoppla, J.R., eine Frau, die zu allem auch noch attraktiv aussieht …», flüsterte Mario Egli vor dem Absitzen.

«Meine Herren, wenn wir diesen Kurs beendet haben, können Sie auf Augenhöhe selbst mit sehr kritischen Journalisten kommunizieren.»

Und in der Tat: Bereits in der ersten Stunde, die nach Programm bis 12:05 Uhr dauerte, ging es zur Sache.

Um 12:07 Uhr – ein Rollenspiel zwischen Barbara Schmid und Beat Lüthi dauerte etwas länger als vorgesehen – waren die vier Polizeibeamten bereits ein ganzes Stück schlauer, hatten sie doch eine Art Crashkurs mit der Mnemotechnik hinter sich, die sie aber bis zur nächsten Doppelstunde am kommenden Montag sowohl im Büro, als auch zu Hause weiter perfektionieren mussten. Die Begeisterung bei allen Teilnehmenden darüber war gross, denn mit einfachen Merkmalen der Mnemotechnik konnte man einen halbstündigen Vortrag scheinbar mühelos halten, in der freien Rede, ohne Spickzettel. Berühmte Zeitgenossen bedienen sich heute dieser Vortragstechnik mit Erfolg vor einer staunenden Zuhörerschaft, die sich jeweils wunderte, dass der Referent keine Notizen benötigt.

Mario Egli anerbot sich, den drei Kollegen und sich selber unten im Take-away Sandwichs zu posten, ein Vorschlag, den die drei Übrigen gerne annahmen. Derweil hielten sich Beat Lüthi, Thomas Jenni und Joseph Ritter in Erwartung der «Eingeklemmten» im vom Wind geschützten Innenhof auf, etwas abseits der ebenfalls anwesenden Raucher. Beat und Thomas waren mit ihren Smartphones beschäftigt, J. R. seinerseits beobachtete durch die grosse Scheibenfront das emsige Treiben in der Nähe des Sekretariats. Um diese Zeit waren jeweils besonders viele Leute auf der Fläche: Kursteilnehmende, die gestresst in Richtung Ausgang auf ein schnelles Mittagessen aus waren, andere, die die Mittagszeit für ihre Weiterbildung nutzten und zu den Kursräumen strömten, allerdings weit weniger gehetzt.

Joseph Ritter fielen einige Farbige auf, vielleicht auf dem Weg zu einem Deutsch- oder gar Berndeutsch-Kurs, kombinierte er. Sodann waren neun oder zehn Leute mit Musikinstrumenten unterm Arm in Richtung Ausgang zu sehen. Das war nicht schwer zu erraten, denn einige Koffer hatten die Form einer Gitarre, einer Geige oder eines Saxophons. Die Musikkurse wurden eigentlich als Individualstunden angeboten, weil das musikalische Niveau der Schüler jeweils sehr unterschiedlich war. Natürlich gab es Ausnahmen, wenn zum Beispiel mehrere Mitglieder einer Band gleichzeitig bestimmte Akkorde professionell aufeinander abstimmen wollten. Das schien heute der Fall zu sein. Ritter beobachtete auch eine kleine Gruppe von jungen Erwachsenen, die auf Klappstühlen die halbschalige Eisenplastik von Bernhard Luginbühl auf Papier skizzierten.

Augenblicke später klingelte das Handy von Joseph Ritter, laut Digitalanzeige war der Anrufer Mario Egli. Komisch und typisch zugleich, dachte sich Ritter, hatte Mario bereits vergessen, wer welches Sandwich wollte?

«Hier unten liegt ein Toter!»

In den nächsten 60 Sekunden ging alles blitzschnell, weil die drei Herren praktisch gleichzeitig mit zwei uniformierten Beamten auf Patrouille am Tatort eintrafen. Dort jagte Mario Egli mit lauter Stimme bereits anwesende Gaffer zur Seite. Sanitätspolizei und Notarzt trafen wenig später ein.

Sofort wurde die nähere Umgebung des Opfers mit rot-weissen Absperrbändern abgesteckt, derweil sich die Leute der unmittelbar danach eingetroffenen Sanitätspolizei mit dem Defibrillator über den Mann beugten.

«Bitte treten Sie zurück, machen Sie der Polizei und den Rettungskräften Platz!», rief Ritter routinemässig in die Menge.

Derweil regelten drei weitere herbeigeeilte Uniformierte vorläufig den Verkehr, denn das Opfer lag nur gerade einen Meter von den Tramschienen entfernt, direkt vor einer Filiale der Credit Suisse. Minuten später wurde die Einsatzzentrale von Bernmobil – der Betreiberin von Trams und Bussen in der Stadt Bern – darüber informiert, dass die Marktgasse in beiden Richtungen sofort für jeden Durchgangsverkehr zu sperren sei, die ordentlichen Bus- und Tramkurse umzuleiten, respektive ab / von Zytglogge wieder aufzunehmen. Dieser Unterbruch sollte schliesslich über vier Stunden dauern.

Das Tohuwabohu rund um den Tatort war total, nicht zuletzt, weil die Redaktionsräume einer Boulevardzeitung an der Zeughausgasse ganz in der Nähe lagen und ein Fotoredaktor, vermutlich von einem Passanten benachrichtigt, blitzartig vor Ort auftauchte. Dies zusammen mit unzähligen Möchtegern-Reportern, die mit ihren Handys Fotos schiessen wollten, wohl in der Annahme, bei Pendler- oder Onlinezeitungen das grosse Geld mit einem Leserfoto zu machen.

«Hat jemand etwas gesehen, etwas bemerkt?», rief Ritter in die Runde, ohne äusserlich auch nur ein minimes Anzeichen von Nervosität zu zeigen. «Dann melden Sie sich bitte bei meinen Kollegen oder mir.»

Es mochten knapp fünf Minuten vergangen sein, seit die Polizei und der Arzt vor Ort waren. Inzwischen sickerte jedoch durch, dass der Mann erschossen worden war, denn die Sanitäter hatten mit ihren Wiederbelebungsversuchen nach einem Gespräch mit dem Arzt aufgehört und den Mann mit einem weissen Tuch bedeckt. Die Szene erinnerte Ritter auf einmal an ein Ereignis in San Francisco. Er wurde blass.

«Hat jemand etwas beobachtet, kann jemand eine Zeugenaussage machen? Bitte melden Sie sich bei mir oder einem meiner Kollegen, wir sind für jede Beobachtung dankbar», wiederholte er, sich ans Publikum richtend.

Ritter schaute sich um, sah plötzlich einen ungefähr 50-jährigen Mann vor den Lauben5 auf dem Trottoir stehen, der abwesend vor sich hinstarrte. Er ging auf ihn zu, fragte nach seinem Namen, erhielt aber keine Antwort, weshalb er die Frage wiederholte.

«Man, man, man hat den Falschen getroffen. Mich. Will. Man. Umbringen. Ich werde erpresst. Das, das da, das war ein Fehlschuss, man hat den Falschen getroffen …», stammelte der Mann, brach zusammen und musste vor Ort ärztlich betreut werden.

Nach einigen Minuten kam er zwar wieder zu Bewusstsein, war aber nicht mehr ansprechbar, zeigte auch keine Reaktionen, weshalb er von den Leuten der Sanitätspolizei ins Inselspital gebracht wurde, zu weiteren Untersuchungen.

5 Arkaden in der Berner Altstadt.

Bern, die USA und Korea

Joseph Ritter war ein echter Berner Bub – oder, wie man in Bern sagt, «e Bärner Giu» –, wurde 1960 im Lindenhofspital geboren, im Länggassquartier. Und in der «Länggyge» in der Paulus-Kirche getauft, unmittelbar neben Chocolat Tobler gelegen, «dr Toblere» (die erst 1985 nach Brünnen gezügelt wurde, dem neuen Stadtteil im Westen Berns), so dass es in der Kirche ab und zu eher nach Toblerone als nach Weihrauch roch. Die Ritters wohnten an der Gesellschaftsstrasse, Vater Emanuel war bei der Schoggifabrik angestellt, als Buchhalter, wie sich der Berufsstand früher nannte. Er wusste als einer der letzten Tobler-Veteranen Bescheid, weshalb die dreieckige Schoggi so hiess, weshalb sie die noch heute prägenden Farben auf dem Wickel hatte und – vor allem! – woher die dreieckige Form stammte, nämlich ausgesprochen nicht vom Matterhorn. Aber das war sowieso eine ganz andere Geschichte und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Mutter Therese arbeitete Teilzeit bei Coop an der Muesmattstrasse, keine 50 Meter von der Schokoladenfabrik entfernt. Die Schulen waren für Einzelkind Seppli in wenigen Minuten zu Fuss erreichbar, so auch die Sekundarschule Hochfeld. Nach der Konfirmation 1976, wiederum in der Paulus-Kirche (wo es damals noch eine kleine schwarze Puppe gab, die nach Einwurf eines Geldstücks artig nickte und sich so wortlos beim edlen Spender bedankte), trat er eine Stelle als kaufmännischer Lehrling in einem Berner Sportgeschäft an der Schwanengasse in Bern an, ging zweimal in der Woche in die Berufsschule an der Effingerstrasse, Luftlinie nur knapp zwei Kilometer von der elterlichen Wohnung entfernt.

«Joe», wie er von den Gleichaltrigen jetzt gerufen wurde, gefiel seine dreijährige Lehrzeit im Sportgeschäft so sehr, dass er sozusagen freiwillige Überstunden leistete, vor allem in der eigentlichen Sportabteilung, im Untergeschoss des Geschäftes. Ihn interessierte einfach alles, was mit Sport zu tun hatte, sieht man von der Konfektion ab, aber die lag im Erdgeschoss ohnehin fest in Frauenhand. Die Fitnessgeräte hatten es ihm besonders angetan; vom Bali-Gerät alias Expander über Rudergeräte bis hin zum Hometrainer, wobei diese Trainingsmaschinen von der Konstruktion und Qualität her nicht mit jenen von heute zu vergleichen waren. Er selber trainierte vor und nach der Arbeit mit Vorführmodellen, so dass er im Laufe der Zeit eine Topfigur entwickelte. Vor allem am Samstagabend in der Berner «Tanzdiele» im Mattequartier wusste er im engen T-Shirt und ebensolchen Jeans seine Proportionen ins rechte Licht zu rücken.

 

Nach Beendigung seiner Ausbildung 1979 blieb Ritter bis zum Beginn der Rekrutenschule noch knapp ein Jahr im Berner Sportgeschäft, jetzt einzig als Verkaufsberater, vor allem im Bereich der Fitnessgeräte. Mit dem Kaufmännischen hatte er nichts mehr am Hut. Im Februar 1980 rückte er in die Grenadier-Rekrutenschule nach Losone im Tessin ein, eine der damals härteren militärischen Ausbildungen, die er mit Bravour bestand, ohne aber, dass er zum Unteroffizier «weitermachen» musste, was wiederum ganz in seinem Sinne war.

Joe Ritter, 195 cm gross und damals 95 Kilo schwer (selbst heute wog er noch unter 100 Kilo), bewarb sich noch während der RS beim damals führenden Berner Fitnessclub als Instruktor und bekam die Stelle. Während den nächsten zwei Jahren lernte er eine Menge dazu, nicht bloss in Bezug auf Bodybuilding – der Club war dafür in der ganzen Schweiz bekannt –, sondern auch in Zusammenhang mit Aufbaupräparaten, die er bislang nur vom Hörensagen kannte. Auch wenn diese Pillen und Spritzen – bekannt als anabole Steroide wie Chlenbuterol oder Stanozolol, einst bei der bildhübschen DDR-Sprinterin Kathrin Krabbe und dem Kanadier Ben Johnson nachgewiesen – im Club nicht verkauft wurden: Erhältlich waren sie in einschlägigen Kreisen ausserhalb des Clubs allemal. Ritter seinerseits vertraute eher auf Eier, Fisch und Steaks als Muskelaufbaumittel, womit er aber bei Bodybuilder-Contests keine grosse Chance gehabt hätte. Aber das war sowieso nicht sein Ziel.

Parallel zu seiner unregelmässigen Arbeitszeit im Fitnessclub liess er sich bei einer bekannten Security-Firma seriös als Bodyguard ausbilden, mit allem, was dazu gehörte: Von der Selbstverteidigung bis hin zum Gebrauch einer Schusswaffe, letzteres unter Ägide der Polizei. Nach weit über einem Jahr der Ausbildung bewarb er sich – aufgrund einer Zeitungsannonce – bei der US-Botschaft in Bern im Bereich der Security. Nachdem man ihn auf der Embassy durch und durch auf Herz und Nieren gecheckt hatte, samt Auszug aus dem Zentralen Strafregister (wo kein Eintrag über ihn vorhanden war), bekam Joseph Ritter den Job. Von jetzt an war er offiziell Joe. Das war 1983.

Joe Ritter wohnte damals am Schöneggweg 34 in Bern, von der US-Botschaft an der Jubiläumsstrasse und dem Tierpark Dählhölzli nicht weit entfernt, in einer 21/2-Zimmer-Dachwohnung, die er nur mit seinem Tigerkater Baloo teilte. Zwar hatte er durchaus weibliche Bekannte, bei deren erstem Anblick Baloo jeweils zu fauchen beliebte, aber keine feste Freundin. Im November 1984, nach der Wiederwahl von Ronald Reagan als US-Präsident, erhielt Joe Ritter noch auf der Wahlparty an der Jubiläumsstrasse vom Verteidigungsattaché aufgrund seiner beruflichen Qualifikationen eine Stelle angeboten, die er nie und nimmer ausschlagen konnte: Nichts Geringeres als das Pentagon sollte fortan die Adresse seiner Arbeitgeberin sein.

Im Sommer 1985 hatte Joe Ritter seine Habseligkeiten gepackt, sein Englisch in Intensivkursen auf Vordermann gebracht, die Wohnung gekündigt und den Flug mit TWA via New York nach Washington D.C. gebucht. One way. Ohne Baloo, der ins Asyl zu seinen Eltern in der Berner Länggasse ging.

Über seine Zeit in Washington war von Joe Ritter nicht sehr viel zu erfahren, weil er zu absolutem Schweigen über seine Tätigkeit im Pentagon verpflichtet wurde, nicht zuletzt weil kein US-Staatsbürger. Immerhin wusste man von ihm, dass er die ersten paar Wochen im Erstklasshotel Mayflower wohnen durfte, in unmittelbarer Nähe zum White House, wenn auch natürlich nicht gerade in der Presidential Suite. Später fand er ein Appartement im Vorort Crystal City, am Potomac River. Mit dem Auto fuhr er auf dem Jefferson-Davis-Highway in 15 bis 20 Minuten ins Pentagon, sofern nicht Staus angesagt waren, wie fast jeden Tag zu den bekannten Rushhours.

Im Pentagon lernte er unter anderem Cheryl Simpson kennen, eine 29-jährige Anwältin aus New York, die praktisch am gleichen Tag wie Ritter ihre Stelle im Verteidigungsministerium antrat. Ihr Vater, ein bekannter Banker mit eigener Vermögensverwaltung und über 500 Mitarbeitenden in Manhattan, wollte ihr «noch Praxis ausserhalb der Bankenwelt und ausserhalb der Wall Street» verschaffen, wie sie jeweils mit einem Lachen verriet. «Aber ich vermute viel eher, dass Dad bewusst eine Distanz zu Gary DiMaggio und mir schaffen wollte, mein Freund passte ihm irgendwie nicht ins Konzept.» Cheryl verstand das nicht, zumal Gary ein entfernter Verwandter von Joe DiMaggio war, einer Baseball-Ikone der New York Yankees, der einmal kurz mit Marylin Monroe verheiratet gewesen war und sogar im Song «Mrs. Robinson» von Simon & Garfunkel vorkam.

Tatsache war, dass Cheryl nach einem Jahr weniger über Baseball und die Börse sprach als vielmehr von «Börn» und «Toblerone», wobei sie zu Beginn die drei letzten Buchstaben als «one» aussprach, weil doch die berühmteste Schoggi auf der Welt. Das musste Joe Ritter unbedingt seinem Vater erzählen. Und noch viel mehr über eine gewisse Cheryl Simpson.

Nach fünf Jahren Washington verliessen Cheryl und Joe Ritter-Simpson 1990 das Zentrum der politischen und militärischen Macht. Cheryls Vater hatte dieses Mal nichts gegen den Freund seiner Tochter einzuwenden, weshalb die beiden im Vorjahr geheiratet hatten. Mehr noch: Ed Simpson hatte seinem Schwiegersohn die Führung des Departements «Security» in seiner Firma an der Board Street angeboten, in unmittelbarer Nähe der NYSE, der Börse an der Wall Street, und – was für eine Ironie des Zufalls! – auch nahe des Lincoln-Highways nordwärts, der nach einigen Meilen in den Joe-DiMaggio-Highway mündete. Ritter erzählte immer davon, wie sehr er die Zeit vor allem in New York mochte, das Haus mit Cheryl in Syosset auf Long Island, das Beach House in Bayville. Auch die jeweilige Feier des Nationalfeiertages durch den Schweizer Klub in New York auf Mount Kisco – als «Berg» aber lediglich 100 Meter über Meer gelegen …– war jedes Jahr ein Erlebnis. Nicht zuletzt, um von den Ereignissen aus der Schweiz zu erfahren, da zu jener Zeit die Smartphones noch ihrer Erfindung harrten.

Die Fahrt zur Arbeit mit dem Auto dauerte je nach Verkehr auf dem Jericho Turnpike zwischen einer und eineinhalb Stunden, was Joe nie langweilig vorkam, da auch Cheryl bei ihrem Vater arbeitete und ihm somit als Beifahrerin Gesellschaft leistete. Das alles war für Joe ein Glücksfall, mit einem Traumberuf, da Ed Simpson ihm all die Jahre sämtliche Freiheiten gewährte.

An einigen Wochenenden gabs bei den Ritters Gartenfeste an der Preston Lane 34 in Syosset, B-B-Q, einige wenige Male, so erinnerte sich Ritter, auch mit sechs Schweizern, die ebenfalls bei der Vermögensberatung von Ed Simpson arbeiteten. Mit Julius Abgottspon, einem Walliser aus Naters, einem früheren Mitglied der Schweizer Garde im Vatikan, mit Jean-Pierre Froidevaux, einem Sensetaler, wie er im Buche stand, vereinzelt mit dem Berner Turi Imobersteg, mit Gian Reutteler und seinem gleichnamigen Cousin, dessen Vorname allerdings auf Carlo lautete. Und mit der Walliserin Murielle Devanthéry. Alle sechs hatten früher bei verschiedenen Schweizer Banken in New York gearbeitet, waren im Laufe der Zeit, einer nach dem anderen, weil man sich ja kannte, zu Ed Simpson gewechselt. Vor allem Froidevaux war ein Ass, hatte eine glänzende Karriere vor sich. Ihn kümmerte es wenig, dass ihn seine Kollegen ständig mit dem Ausdruck «Foie de veau» frotzelten, mit Kalbsleber.

Im Herbst 1999 – Cheryl und Joe waren kinderlos geblieben – flogen die beiden aus Anlass ihres zehnjährigen Hochzeittages nach Hawaii in die Ferien, um zum Schluss Freunde in San Francisco zu besuchen. Aus den anfänglichen Traumferien auf Maui und Kawai wurde schliesslich ein Albtraum, am vorletzten Tag in San Francisco, als die beiden in der Nähe der Lombard Street unvermittelt in eine Schiesserei zwischen rivalisierenden Banden gerieten. Cheryl wurde dabei ohne Vorwarnung plötzlich von zwei Vermummten aus dem stehenden Auto gerissen und als Geisel genommen, ohne dass Joe das auch nur ansatzweise hätte verhindern können. Sekunden danach sank sie zu Boden, von einem Querschläger getroffen, nur Augenblicke später waren Sirenen zu hören.

Die folgenden Tage nach dem Tod seiner Frau müssen für Joseph Ritter der blanke Horror gewesen sein. Er geriet derart aus dem Tritt, dass er nur vier Wochen später die USA verliess, um bei der Schweizer Delegation bei der Waffenstillstands-Überwachungskommission NNSC im Niemandsland von Panmunjom am 38. Breitengrad zwischen Nord- und Südkorea einen Cousin zu besuchen und sein Trauma zu verarbeiten.

Das Wellblechhütten-Camp der Schweden und Schweizer als Vertreter von neutralen Staaten auf der Südseite der Demarkationslinie (Tschechen und Polen waren, als ehemals kommunistische «Bruderstaaten», auf der Nordseite zu finden) war alles andere als eine Wohlfühloase, inmitten einer verlassenen Umgebung, zum Teil mit Minenfeldern bespickt.

Die Schweizer Delegationsmitglieder – und auch ihr Leiter, mit der Bezeichnung eines Generalmajors und einer grossartigen Fantasieuniform, die jedem echten Schweizer General zu Ehren gereicht hätte – konnten deshalb an Wochenenden jeweils ins 55 Kilometer entfernte Seoul flüchten und dort im US-Camp «Yongsan» übernachten.

Ritter blieb danach unerwarteterweise ganze drei Jahre in Südkorea, weil er – als früherer Ehemann einer US-Bürgerin – beim amerikanischen Truppenkommando in Seoul auf einer Luftwaffenbasis der US Air Force USAF eine Kaderstelle als Ausbildner im Bereich der Security angeboten bekommen hatte. Ende 2002 schliesslich kehrte Ritter in die Schweiz zurück, nach Bern. Sozusagen als Quereinsteiger – aber durchaus mit den notwendigen und verlangten Voraussetzungen – trat er Anfang 2003 eine Stelle beim Kriminaltechnischen Dienst KTD der Kantonspolizei Bern an.

Mit seinen Schwiegereltern stand er immer noch in Kontakt, regelmässig.

Ein intelligentes Gewehr

Perron 2 im Bahnhof Münsingen, 05:35 Uhr. Regnerisch und kalt war es einen Tag später, am Dienstag, 6. Mai. Joseph Ritter und die wenigen Mitwartenden würden um diese Zeit keine Sitzplatzprobleme haben. Der Abteilungsleiter hatte ob der vielen Arbeit fast keine andere Wahl, als diesen frühen Zug zu nehmen, «mitten in der Nacht», wie es ihm während eines kräftigen Gähnens durch den Kopf ging.

Er hatte wohl nicht mehr als vier Stunden geschlafen, war gestern erst gegen Mitternacht nach Hause gekommen, den Kopf voller Wirrungen, wie üblich, wenn eine Aufklärung erst an ihrem Anfang stand, mit lauter Fragen ohne Antworten. Die Pendlerzeitung war heute noch nicht in den blauen Kästen beim Bahnhof, per Zufall lag die Berner Zeitung jedoch bereits um 05:30 Uhr in seinem Briefkasten. Im Zug versuchte er, sich mit Lesen abzulenken, um den Kopf frei zu bekommen.

Ritter merkte, dass er die Berichte gar nicht richtig lesen mochte, zu sehr hingen seine Gedanken den Ereignissen vom Vortag nach, so dass er die Zeitung nach nur einer Minute etwas zerstreut und irrtümlicherweise auf die Hutablage legte, worauf sie prompt von einem Mitreisenden aus dem Nachbarabteil mit einem «Darf ich? Danke vielmals, sehr nett» geschnappt wurde, noch bevor er überhaupt antworten konnte. «Sygseso»6, dachte er sich.

«So ein Zufall! Sie im Zug, um diese Zeit, Herr Ritter? Das muss bestimmt mit dem Toten in der Marktgasse und dem ausgebrannten Auto zusammenhängen», tönte es ihm entgegen, worauf der ihm unbekannte ungefähr 40-Jährige ungefragt vis-à-vis von Ritter Platz nahm. «Und? Wissen Sie bereits mehr, als in der Zeitung steht?» Ritter wunderte sich plötzlich über sich selber, denn den entsprechenden Bericht in der BZ hatte er glatt überblättert.

«Und was schreiben sie, in der Zeitung?»

«Dass in der Marktgasse offenbar ein Unschuldiger erschossen wurde. Ist das nicht schrecklich? Wo führt das noch hin, Herr Ritter?»

«Ich weiss es nicht», sagte Ritter zum Fragenden.

«Und was ist mit den beiden Toten im Ferrari? Wenn Sie mich fragen, dann …» «Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich habe Sie nicht gefragt … », entfuhr es Ritter wenig diplomatisch, weil inzwischen einige Leute zu ihm hinüberschauten und das Gespräch mehr oder minder auffällig belauschten. «Und bitte entschuldigen Sie mich, ich muss noch schnell etwas nachschauen.»

Sprachs, stand auf und lief auf die Plattform zu den Eingangstüren, um die App der Berner Zeitung auf seinem Smartphone anzuklicken, denn es war wirklich kein Nachteil, bereits am frühen Morgen zu wissen, was die Tageszeitungen zu berichten wussten.

 

Der «Ringhof», wo unter anderem auch die Einsatzzentrale der Kantonspolizei Bern zu finden ist.

05:52 Uhr. In Bern angekommen, war er aufdatiert, samt den Online-Portalen der Boulevard- und Pendlermedien. Zusammengefasst: Es wurde zum Ereignis des Vortages spekuliert und Zeugen befragt, die aber nichts gesehen und schon gar keinen Schuss gehört hatten. Eine Zeitung lehnte sich sogar so weit zum Fenster hinaus, dass sie einen Zusammenhang mit dem Ferrari-Brand vermutete. Immerhin stand zum Schluss der Schlagzeile ein Fragezeichen, um den eigenen Bericht gleich selber wieder in Frage zu stellen. «Fastfood-Journalismus, einfach grandios …», murmelte Ritter vor sich hin.

Ritter nahm vor dem Hauptbahnhof auf Perron G den Bus in Richtung Nordring. Zufall war es nicht, dass auch schon Stephan Moser im Fahrzeug stand. «Gut geschlafen, J.R.?», fragte er seinen Chef mit einem verschmitzten Lächeln, worauf er ein Achselzucken als Antwort erhielt.

«Du?»

«Überhaupt nicht.»

«Ich schlage vor, dass wir uns im Büro einen Kaffee genehmigen und dann den gestrigen Nachmittag nochmals chronologisch durchgehen, einverstanden?»

«Klar doch, vor allem das mit dem Kaffee ist eine sehr gute Idee.»

Zehn Minuten später stand Ritter im Büro vor einer zweiten, noch leeren grossen Plexiglasscheibe, die dazu diente, das Wichtigste eines Falles aufzuschreiben oder anzuheften.

«Ist etwas von den Kollegen des KTD zu lesen, vom IRM?», wollte er von Stephan Moser wissen, als dieser seinen PC gestartet hatte.

«Negativ.»

Just in diesem Moment ging die Türe auf, Regula Wälchli und Elias Brunner kamen gleichzeitig zur Arbeit, im Wissen, dass heute Grosskampftag angesagt war, auch in Bezug auf die Medienanfragen, die aber zum Glück von den Kapo-Kommunikatoren abgefangen wurden, so dass sich das Team auf seine eigentliche Arbeit konzentrieren konnte.

«Übrigens», kam plötzlich von Regula Wälchli, «es ist reiner Zufall, dass Elias und ich gleichzeitig ankommen, ihr braucht gar nichts zu vermuten …»

«Wir haben ja gar nichts gesagt», meinten die beiden anderen Herren beinahe synchron.

«Aber einander angeschaut habt ihr euch …»

Ritter begann mit der Zusammenfassung der Ereignisse vom Vortag. Der Schuss in der Marktgasse fiel um 12:11 oder 12:12 Uhr, Sekundenbruchteile bevor Arthur Aufdermauer – so hiess der Mann – gemäss Aussagen des Notarztes «mausetot» umfiel. Er habe nicht einmal mehr den Aufprall gespürt, derart präzis hätte das Geschoss in den Rücken das Herz getroffen.

«Ein Profi?», fragte Regula Wälchli in Richtung des Chefs.

«Durchaus möglich, muss aber nicht unbedingt sein, denn es gibt heute Technowaffen, die sich leicht handhaben lassen und extrem zielgenau sind.»

Das Geschoss hatte man nach längerem Suchen hinter einer Bauabschrankung gefunden und sofort zu ballistischen Untersuchungen an den KTD weitergeleitet. Wie sich herausstellte, war Aufdermauer selbständiger Finanzberater mit einem Büro am Bahnhofplatz 3, wohnhaft in Muri, an bester Adresse, an der Pourtalèsstrasse. Beides war auf seinen Visitenkarten ersichtlich, die er in seiner Brieftasche trug, welche von der Kugel beim Austritt noch leicht gestreift wurde.

Das Duo Wälchli /Brunner, von Ritter telefonisch aufgeboten, machte sich gestern nach diesen Erkenntnissen sofort zur Liegenschaft am Bahnhofplatz 3 auf. Dort hatten einige Notare und Anwälte ihre Büros, in unmittelbarer Nähe zu Cigarren Flury und vom Läckerli-Huus, deshalb wohl auch der nicht alltägliche Duft im Treppenhaus. Auffallend, unmittelbar links nach der Eingangstüre: Die uralten, aber seither wohl mehrmals renovierten Briefkästen, die locker 100 Jahre alt sein mochten. Wollte Aufdermauer in der Marktgasse zur Bank? Zum Mittagessen? Hatte er ein Rendezvous? Fragen über Fragen. Im Haus am Bahnhofplatz 3 konnte oder wollte niemand Näheres über Arthur Aufdermauer erzählen. Doch ja, man kannte ihn vom Sehen her, wusste, womit er beschäftigt war, schliesslich stand «Finanzberatungen» unter seinem Namen auf dem silbernen Schild zu seinem Büro im zweiten Stock, einstmals eine 21/2-Zimmer-Wohnung.

«Du, ist das normal, dass eine Putzfrau über Mittag hier ist?», wollte Regula Wälchli von ihrem Kollegen wissen.

«Komisch, dass eine Frau das einen Mann fragt. Wie soll ich das wissen, ich sehe unsere gute Fee ja auch kaum mehr, im Büro.»

«Wie du weisst, hat das vor allem damit zu tun, dass sie immer seltener kommt, im Vergleich zu früher. Sparmassnahmen.»

Regula Wälchli ging auf die zierliche Frau mit asiatischen Gesichtszügen und schwarzen kurzen Haaren im Hausgang zu, zeigte ihr den Dienstausweis. «Guten Tag, ich heisse Regula Wälchli. Das dort ist mein Kollege Brunner von der Kantonspolizei Bern. Dürfen wir Sie etwas fragen?»

«Ich nichts wissen, nichts helfen können.»

«Vielleicht schon, Frau ehhh …»

«Bitte wie?»

«Wie heissen Sie, Frau …?»

«Mühlethaler.»

An die verdutzten Gesichter hatte sich Ampong Mühlethaler längst gewöhnt, wenn man sie nach ihrem Familiennamen fragte, sie, die ursprünglich aus Chiang Mai in Thailand kam.


Arthur Aufdermauer hatte sein Büro am Bahnhofplatz 3 in Bern.

«Frau Mühlethaler, putzen Sie auch im Büro von Herrn Aufdermauer?

«Ich nichts wissen, fragen Hauswart.»

«Und wo finden wir den Hauswart?»

«Wohnen ganz oben, kleine Mansarde unter Dach.»

Zur gleichen Zeit des Vortages waren die Spezialisten des KTD hinter aufgestellten Sichtschutzabdeckungen an der Arbeit. Jeder wusste, was er zu tun hatte, der Arzt hatte inzwischen offiziell den Tod des Opfers bestätigt, wenig später wurde der leblose Körper in einen Metallsarg gelegt und zur Obduktion ins IRM weggefahren. Auch zwei Verantwortliche der Medienstelle der Kantonspolizei waren vor Ort, um die Kommunikation mit den Journalisten sicherzustellen. Aus Erfahrung wussten sie, dass es keinen Sinn machte, jedem «Journi» individuell Auskunft zu geben, weshalb die Medienschaffenden für 15:30 Uhr in die ehemalige Polizeikaserne am unterem Waisenhausplatz gebeten wurden.

Nach und nach löste sich die Menschenmenge auf, gegen 17:00 Uhr, als der Verkehr wieder freigegeben worden war, hätte man meinen können, es wäre an diesem Tag vor der Geschäftsstelle der Bank an der Marktgasse gar nichts Aussergewöhnliches passiert.

«Mir ist, ich hätte diesen Aufdermauer schon irgendwo einmal gesehen, aber vermutlich irre ich mich wieder einmal und verwechsle ihn», bemerkte Ritter beim Betrachten der Polizeifotos des Opfers, die jedoch nicht als offizielles Passfoto getaugt hätten.

«Hast du eventuell einige Millionen gebunkert, von denen wir nichts wissen, und die du Aufdermauer zur Verwaltung überlassen hast?», fragte Moser, in der Hoffnung, die Diskussion etwas aufzulockern. Allerdings mit wenig Erfolg. «Fassen wir zusammen, was wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt von ihm?»

Eine Minute, nachdem sie sich gestern von Frau Mühlethaler verabschiedet und die zum Schluss immer enger und steiler werdende Wendeltreppe beinahe wie Alpinisten hinaufgeklettert waren, standen Wälchli und Brunner vor der Mansarde von Hanspeter Schneider. Dieser Name war jedenfalls auf einer kleinen Plakette zu lesen. Sie klingelten, Schneider öffnete die Türe, nachdem Regula Wälchli das Läuten wiederholt hatte. Der Hauswart roch stark nach Alkohol, sah verwahrlost aus, unrasiert.