Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990

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Die schweizerische Variante des McCarthyismus

Der Aufschwung des Antikommunismus nach 1956 und die Gründung einer ganzen Anzahl von antikommunistischen Organisationen in jenem Herbst wie AFS, Action civique, ANV und Pro Libertate zeigte, dass die Geistige Landesverteidigung offenbar noch nicht genügend verankert war. 1959 gründete Peter Sager das SOI, das Aufklärung über den Kommunismus und die kommunistische Unterwanderung betreiben sowie Politik, Wirtschaft, Sicherheitspolitik und die Situation der Menschenrechte in den Oststaaten analysieren wollte. Unterstützt wurde das SOI auch mit Bundesgeldern. Doch seine Tätigkeit stiess beim EPD auf Skepsis. Minister Robert Kohli vom EPD schrieb seinem Chef Ende 1958, das Departement müsse gegenüber Sager «Vorsicht walten lassen, da wir nicht durch seine politischen Aktionen uns gegenüber dem Osten kompromittieren lassen dürfen».79

Die Promotoren einer mentalen Abwehrfront, zuvorderst der SAD, wollten die Anstrengungen verstärken und gründeten 1959 die Arbeitsgemeinschaft für geistige Landesverteidigung (AGGLV), deren Präsident der Historiker Walther Hofer, späterer SVP-Nationalrat, sein sollte. Hofer forderte den Bundesrat auf, ein geeignetes Institut zu fördern mit dem Ziel, «die Arbeit der verschiedenen Organisationen und Institutionen im Bereich der geistigen Landesverteidigung zu koordinieren und zu fördern, Tagungen und Kurse durchzuführen und als Studienzentrum zu dienen». Der Bundesrat antwortete auf diese Forderung ausweichend, womit das Projekt bereits gescheitert war.80 Gegen dieses Vorhaben hatten auch kulturelle und intellektuelle Kreise opponiert, auch Jean Rudolf von Salis, der die Geistige Landesverteidigung als überholt ablehnte und eine Bevormundung und Gesinnungsschnüffelei befürchtet hatte. Bereits 1962 löste sich deshalb die AGGLV wieder auf. Gleichzeitig stellten die Pro Helvetia, deren Präsident von Salis war, und die NHG ihre Zusammenarbeit mit der Sektion Heer und Haus ein. Dass der Bund zu diesem Zeitpunkt die Geistige Landesverteidigung nicht mehr fördern wollte, lag wohl auch darin, dass er sich juristisch auf Glatteis befand, hatte er doch – wie eine spätere Untersuchung zeigte – «keine ausdrückliche oder stillschweigende generelle Kompetenz zur geistigen Landesverteidigung».81

Während sich Organisationen der Zivilgesellschaft zurückhielten, sprang das EMD in diese Nische. Mit einer Weisung von 1960 stärkte es die Funktion von Heer und Haus und gab folgende Zweckbestimmung: «Die geistige Landesverteidigung bezweckt die Stärkung des geistig-moralischen Widerstandswillens des Soldaten und Bürgers. Sie bedeutet die Besinnung auf die Eigenart und den Wert unseres demokratischen Staates und soll die Überzeugung festigen, dass wir diese Werte gegen jede Beeinflussung und jede äussere Bedrohung verteidigen müssen.»82 Von rechts bis links wurde das begrüsst.

Chef dieses «Orientierungsdienstes» von Heer und Haus wurde Major Peter Dürrenmatt, Historiker, Nationalrat und Chefredaktor der Basler Nachrichten, der 1935 auf der Liste der «Nationalen Erneuerung» für den Nationalrat kandidiert hatte. Diese hatte ein Wahlbündnis mit der «Nationalen Front» geschlossen, deren Zeitung Der Eiserne Besen offen nationalsozialistisches und antisemitisches Gedankengut propagierte.83 Dürrenmatt kann als der prominenteste Geistige Landesverteidiger gesehen werden, der mit seinem antikommunistischen Eifer seine braunen Sympathien vergessen machen wollte. Ein anderer ist Ludwig von Moos, der spätere christlich-konservative Bundesrat.

Die erneuerte Geistige Landesverteidigung weckte in Teilen der Jugend grossen Enthusiasmus. 1961 erwarb die Vereinigung für geistige Landesverteidigung auf dem Mont Vully einen aus der Aktivdienstzeit stammenden Bunker, der von «jugendlichen Idealisten» als Gedenkstätte ausgestattet werden sollte. Die Aktion wurde erstaunlicherweise von konservativer Seite nicht gut aufgenommen. Die Ostschweiz glossierte das Bestreben der Jugendlichen und meinte, sie würden mehr für die Geistige Landesverteidigung tun, «[…] wenn sie sich von seichten Unterhaltungsplätzen und geistlosem Halbstarkentum distanzieren, wenn sie wieder einmal Volkslieder, anstatt Peter-Kraus-Gerülpse lernen, kurz, wenn sie aus dem reichen kulturellen Gut unserer Väter und aus der schlichten Pracht der Natur schöpfen […]».84 Der deutsche Rock-’n’-Roll-Sänger Peter Kraus war sowieso eine Gefährdung für die Jugend. An Konzerten, etwa in Winterthur 1960, kam es zu Radau und Ausschreitungen. Obwohl es Lehrer gab, die den Besuch dieses Konzerts verboten hatten, fand sich unter den Besuchern «eine grösser Zahl von höherer Bildung teilhaftigen jungen Leuten».85

Nicht nur Ungarn hatte den Antikommunismus in der Schweiz weiter befeuert. Der McCarthyismus, benannt nach dem republikanischen Senator Joseph McCarthy, einem ordinären Alkoholiker, der nichtsdestotrotz während Jahren einen verheerenden Einfluss mit seinem House Un-American Activities Committee (Komitee für unamerikanische Umtriebe) des Repräsentantenhauses ausübte. Hunderte eingeschriebener, aber vor allem bloss verdächtigter Kommunisten zerrte McCarthy vor dieses Komitee, das Karrieren und Existenzen zerstörte, Beschuldigte in den Tod trieb. Blosse Vermutungen reichten aus, um jemanden zu vernichten. Die Gesinnungsschnüffelei verseuchte menschliche Beziehungen, wurde Teil der politischen Unkultur. Als besonders gefährlich betrachtete das Komitee Sympathisanten unter Kulturschaffenden und Intellektuellen. Diese wurden unter Generalverdacht gestellt. Zu den prominenten Künstlern, die sich vor dem Komitee rechtfertigen mussten, gehörten Thomas Mann, Charles Chaplin, Bertolt Brecht, Arthur Miller, aber auch der Atomphysiker Robert Oppenheimer, der Wesentliches zur Entwicklung der Atombombe geleistet hatte.

Der McCarthyismus prägte auch in der Schweiz das politische Klima nachhaltig. Rhetorisch nahe am McCarthyismus war Hans A. Huber. Er meinte: «Wir müssen aber auch die Gefahr erkennen, die von den Kryptokommunisten ausgeht, den Mitläufern, Rückversicherern, intellektuellen Opportunisten und weltfremden Schwärmern, jenen zahlreichen meist gutgläubigen, naiven Leuten, die keiner Partei angehören, die aber auf irgendeines der Schlagworte der kommunistischen Propaganda hereingefallen sind und die Gefährlichkeit des Systems nicht erkannt haben. Ich meine vor allem jene Hochschulprofessoren, Theologen, Lehrer, Juristen, Ärzte usw., welche dank ihrer Intelligenz und Überzeugungskraft die Mittel besitzen, eine grosse Gefolgschaft, vor allem junger Leute zu verführen.» Indirekt rief Huber zur Schnüffelei auf, indem beim Kampf «gegen diese Leute» die «einsichtigen Bürger» bereit sein müssen, «aktiv mitzuhelfen, wo immer diese Personen auftreten und wirken». Er zitierte Bundesrat Feldmann, der die Sympathisanten in die Nähe von Landesverrätern rückte: «Wenn um Ideologien Krieg geführt wird, wenn mit subversiven Mitteln Krieg geführt wird, so ist derjenige mindestens ein potentieller Verräter, welcher der Ideologie unseres Gegners huldigt oder mit ihm sympathisiert.»86

Selbst völlig unverdächtige Personen gerieten in die Schusslinie der Kalten Krieger. Als Jean Rudolf von Salis, seit 1952 Präsident der Pro Helvetia und 1960 im Organisationskomitee der Rencontres internationales de Genève, einverstanden war, dass der sowjetische Schriftsteller Ilya Ehrenburg zu den Debatten eingeladen werde, wurde er von Mitgliedern des SAD heftig kritisiert. In einem bissigen Brief an SAD-Präsident Hans A. Huber wies von Salis die Vorwürfe als «totalitär» zurück. Die Rencontres seien dank der Unterstützung von Stadt und Kanton Genf die einzige kulturelle Institution in der Schweiz, wo man frei und mit unterschiedlichem Hintergrund diskutieren könne.87

Es gab in diesem Klima der Verdächtigungen, Denunziationen, Verunglimpfungen und Beschuldigungen nur wenige, dafür gewichtige Stimmen der Vernunft und Mässigung. Eine davon war Jean Rudolf von Salis. An einer Tagung im Stapferhaus Lenzburg meinte er, der McCarthyismus habe nachhaltig auf die Schweiz übergegriffen, und er sah das Land in ihrer demokratischen Substanz gefährdet. Den militanten Antikommunismus betrachtete er als Ausläufer der Frontenbewegung. Im Gegensatz zum konservativen Mainstream, der überall eine kommunistische Machtübernahme witterte, stellte er nüchtern fest: «Sodann hat kaum in einem Land Europas der Kommunismus so wenig Aussicht, Fuss zu fassen, wie in der Schweiz. Sagen wir die Dinge, wie sie sind: Während zur Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus unser Bürgertum und unsere Jugend anfällig waren für diese Ideologien, […] hat sich die schweizerische Bevölkerung, auch und gerade die Arbeiterschaft, als faktisch immun gegen den Kommunismus erwiesen. Es ist aber eine ganz andere Frage, ob nicht gewisse Kreise die ‹kommunistische Gefahr› dazu benutzen, um besser gegen die nichtkommunistische Linke vom Leder ziehen und sie bekämpfen zu können. […] Zweifellos. Es gibt Leute, die in einer harmlosen Konsumgenossenschaft ein bolschewistisches Verschwörernest wittern. Denn es gibt eine antikommunistische Angstpsychose, Menschen mit Verfolgungswahn, die einen Kommunisten an jeder Strassenecke und abends unter ihrem Bett oder im Kleiderschrank vermuten, richtige Biedermänner, die ständig von Brandstiftern reden – und dann, wie der Biedermann in Max Frischs Komödie, wahrhaftig gewärtigen müssen, aus lauter Angst die Brandstifter in ihr Haus zu locken.»88 Man habe innenpolitisch nicht den «real herrschenden Kommunismus» bekämpft, stellt Helmut Hubacher fest, «sondern den ‹real herrschenden Sozialismus›, um die Sozialdemokraten in dessen Nähe zu rücken. Und deshalb musste sich die SP permanent abgrenzen.»89 1957 nahm der Parteitag ein Manifest an, in dem er den Kampf gegen den Kommunismus über denjenigen gegen den Kapitalismus stellte.

 

Von Salis warnte, dass die Geistige Landesverteidigung einen unerwünschten Konformismus hervorbringen würde, ein warmes Nest der Bequemlichkeit.90 Auch stellte er fest, dass die Westschweiz wesentlich weniger hysterisch auf die kommunistische Bedrohung reagiere als die Deutschschweiz. Diese feinen Unterschiede arbeitete Roberto Bernhard in einer klugen Analyse in der NZZ heraus. Er setzte beim Zweiten Weltkrieg an und meinte, dass die französische Schweiz die «Fährnisse» mit einer geringeren «inneren Mobilmachung» zu bestehen hatte. «Dabei hat die deutsche Schweiz ihre Antwort auf den deutschen Totalitarismus eigentlich unverändert, ja noch verschärft auf den sowjetischen übertragen.» Das erschwere das gegenseitige Verständnis der jeweiligen heutigen Reaktionen auf totalitäre Einflüsse. Die «totale und fraglose Ablehnung des Kommunismus» sei zu einer selbstverständlichen Haltung der meisten Deutschschweizer geworden. Erklären lasse sich diese Ablehnung aus einem «Gefühl totaler Widerwärtigkeit, eines tiefen Widerwillens und Ekels», das allein schon genüge, um jeden Gedanken an eine Diskussion zurückzuweisen. «Diese Haltung sollte etwas revidiert werden.» Vonnöten sei «mehr taktische Geschmeidigkeit» in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus auf Deutschschweizer Seite. Demgegenüber sei die welsche Haltung geschmeidiger und verhindere ein «Maginotdenken». Bernhard implizierte, dass in der Deutschschweiz je nach politischer Haltung auch der Mensch abgestempelt werde. «In der Romandie wird die politische Haltung eines Menschen weniger beachtet, man fühlt sich eher als Privatperson und weniger als Glied einer politischen Gemeinschaft.» Hinzu komme eine intellektuelle Ehrlichkeit, die einen dazu zwinge, zuerst alle Aspekte zu prüfen und nichts von vornherein zu verwerfen. Ein «Vorurteil» bestehe insofern, als dass alles, was fortschrittlich sei, von links komme. Deshalb fänden auch «bessere Kreise» den Kommunismus «wenigstens als denkbares System philanthropischen Fortschritts anerkennenswert».91

Der Antikommunismus nährte sich auch aus Ressentiments. Zum Nährboden des Antikommunismus meint der Historiker und Philosoph Christoph Dejung: «Wie alle Vorurteile bezog er seine Kraft aus Unzufriedenheiten, aus Versagungen, aus Enttäuschungen und aus Ängsten, die schwerer zu bekämpfen oder zu heilen sind als die Wahnvorstellungen an der Oberfläche.»92 Dem ist beizufügen, dass ein weiterer Nährboden des Antikommunismus die Autoritätsgläubigkeit und der Konformitätsdruck waren. Die rechtsbürgerlichen antikommunistischen Eliten in Wirtschaft, Politik, Staat, Schule und Kirche hatten das Land in den 1950er- und 1960er-Jahren so schlecht nicht verwaltet, mindestens wirtschaftlich ging es bergauf. Man hörte auf sie, ihre Stimme zählte, sie wussten es besser, die Mehrheit liess sich gängeln.93

Wer im Kalten Krieg auch nur um Haaresbreite vom schmal definierten Pfad der bürgerlichen Mitte abwich, wurde als Kommunist oder mindestens Kryptokommunist in Diensten Moskaus verdächtigt – nicht nur in der Schweiz. Jede Kritik am demokratischen System und deren Trägern galt als zersetzend. Der bedeutende englische marxistische Historiker Eric Hobsbawn hat das so formuliert: «What made the rhetoric of Cold War liberals so intolerable was their conviction that all communists were simply agents of the Soviet enemy and their denial that any communist could therefore possibly be a member in good standing of the intellectual community.»94

Expo 64: Der Igel zeigt seine Stacheln

Politiker aller staatstragenden Parteien machten sich Anfang der 1960er-Jahre Gedanken, ob auch ja genügend für die Geistige Landesverteidigung getan werde. Nationalrat Walter Raissig verlangte 1961 in einer Motion die «Schaffung einer umfassenden Konzeption der geistigen Landesverteidigung». Er begründete das damit, dass die Schweiz seit Jahrzehnten Zeugin und Opfer des Kalten Kriegs sei. Das sei ein «Kampf mit geistigen Waffen, der um den Geist und die Seele des Gegners ringt». Diese Taktik der psychologischen Kriegsführung ziele auf das Unbewusste. «Durch ständigen Wechsel in den Argumenten wird eine nachhaltige Tiefenwirkung angestrebt. Einmal wird Hoffnung geweckt und darauf wird wieder Angst und Furcht verbreitet.» In diesem totalen Krieg setze der Sowjetstaat alles ein: «die kommunistischen Parteien im Ausland, ihre Neben- und Tarnorganisationen, das Personal der Gesandtschaften, die Sowjetbürger, die in irgendeiner Eigenschaft ins Ausland kommen, wie das grosse Heer der ideologischen Mitläufer, die leider gerade im Kreise weltfremder Idealisten und Intellektueller» nicht selten zu finden seien. Es sei deshalb die «grosse Aufgabe» der Geistigen Landesverteidigung, «die unvergänglichen Werte unseres Landes in immer neuen Formen, geschöpft aus dem Reichtum des Lebens, von allen Gesichtspunkten her zu beleuchten und ins Bewusstsein des Volkes zu bringen».95

Ein gutes Jahr nach Raissig doppelte Nationalrat Joseph Leu nach, der zu einem Rundumschlag wider die moralische und sittliche Zersetzung ausholte. Es sei «eine unverkennbare Tatsache, dass Auswüchse der Hochkonjunktur und einseitiges Wohlstandsdenken die Grundlage der militärischen Landesverteidigung, die innere Widerstandskraft unseres Volkes bedrohen». Es gebe auch deutliche Anzeichen dafür, dass «eine bedenkliche Aufweichung von Tradition und Moral immer weitere Kreise erfasst». Leu wollte vom Bundesrat wissen, was er zu tun gedenke, «den Vorrang der geistigen und moralischen Werte wieder herzustellen und dadurch die innere Widerstandskraft in Volk und Armee zu erhalten und zu stärken». Er verwies in seiner Interpellation auf Radiosendungen, die offenbar den Wehrwillen geschwächt hätten. So habe am Tag der zweiten Atominitiative Radio Genf Zitate vorgetragen, «in denen die Armee lächerlich gemacht wird und ihre Führer als überholt oder als dumm hingestellt werden». Wo komme man hin, so Leu, wenn auf die Reklamation eines Offiziers «die Generaldirektion lediglich erkläre, die Ausführenden der Sendung hätten versichert, es sei dies nur ein Missgeschick und es liege keine politische Absicht dahinter»?

Müsse man es zulassen, so fragte Leu weiter, «dass im Studio Zürich und Bern zu wiederholten Malen Hörspiele aufgeführt würden, die eindeutig den Klassenkampf proklamieren, die Autorität der Behörden untergraben, Religion und Kirche lächerlich machen»? Er erwähnte dabei eine Sendung von Radio Zürich, «in der ein Redaktor Wollenberger und ein Schauspieler Roderer sich über die Erziehungsverordnung des Kantons Uri lustig machten». Dieser Kalte Krieg, mahnte Leu, werde mit steigender Intensität auf dem Gebiet der Sittlichkeit geführt. «Kalt rechnende Strategen, Leute, die aus dem Verkauf von Schmutz eine gute Provision beziehen und moralisch defekte Leute sind gemeinsam daran, die freien Völker zu verderben. Es beginnt bei der Verharmlosung des vor- und ausserehelichen Geschlechtsverkehrs und endet bei der Verherrlichung freier Liebe. Schliesslich stellt man Perversion als normal hin.» Ganz besonders gefährdet sei die Jugend. Leu stellte «mit Besorgnis» das Anwachsen und die immer stärkere Verbreitung von «Schund-, Schmutz- und Verbrecherheften sowie der Sensationsillustrierten Bravo, Quick, Revue, Stern, Twen» fest, die das Denken der Leser und ihr gesundes Empfinden langsam, aber sicher vergiften würden. Er verwies weiter auf die Kataloge für pornografische Literatur, die von einem Bieler Postfach aus in verschlossenen Couverts an junge Ehepaare unverlangt versandt würden. «Auf dem Wege des Zerfalls der Familie hat unser Volk ein gefährliches Stück Weg zurückgelegt.» Ins gleiche Kapitel gehöre die starke Zunahme der Homosexualität. Sie habe «einen Umfang angenommen, wo Schweigen kriminalpolitisch gefährlich wäre [sic]». Die subversiven Kräfte arbeiteten nicht nur an der Zerstörung der sittlichen Integrität, sondern würden auch den Wehrwillen untergraben. Mit seiner Interpellation wollte Leu der Regierung den Rücken stärken. «Zu dieser geistigen Landesverteidigung gehört, dass unsere Regierung den Mut hat durchzugreifen, wo der Feind die Freiheit für seine Zwecke missbraucht.»96

In der Antwort auf die diversen Motionen und Interpellationen zeigte sich Bundesrat Hans-Peter Tschudi im September 1963 wesentlich weniger erregt als die Fragesteller. Er wählte in seiner Antwort einen gelassenen Ton und führte aus, der Landesverteidigungsrat sei «einmütig der Überzeugung, dass eine koordinierende Anstrengung zur Förderung der geistigen Landesverteidigung notwendig und dringend ist». Diese Aufgabe müsse jedoch auf dem Boden der Freiwilligkeit gelöst werden. Auf keinen Fall dürfe der Schein erweckt werden, als ob der Versuch einer von Bundes wegen gelenkten Meinungsbildung unternommen würde. Er ging auch auf den Jugendschutz ein und meinte, es sei unbestritten, dass «die Gemeinschaft die Verpflichtung hat, die empfindsame und noch nicht im Charakter gefestigte Jugend nach Möglichkeit vor schlechten Einflüssen zu schützen». Der Bund und die kantonalen Justiz- und Polizeidirektionen hätten, aufgrund eines parlamentarischen Vorstosses, eine Dokumentationsstelle zur Bekämpfung jugend- und volksschädigender Druckerzeugnisse geschaffen. Tschudi gab aber zu bedenken: «Staatliche Eingriffe in das geistige und kulturelle Leben, eine weitgehende staatliche Reglementierung der Moralprinzipien gefährden die Freiheit, und sie können in die Nähe des totalitären Staates führen.»97 Die Bevormundung der Jugend endet mit der Revolte 1968.

Den Höhepunkt der zweiten Geistigen Landesverteidigung, die auch immer Teil der totalen Landesverteidigung war, symbolisierte der monumentale «Igel» an der Expo 64, eine Skulptur mit nach allen Seiten hinausragenden Betonstacheln, der die Wehrhaftigkeit der Schweiz darstellen sollte. Trefflicher hätte man das Reduit nicht symbolisieren können. Die Absicht bestand laut dem Goldenen Buch zur Landesausstellung darin, dass man die «Masse der Gleichgültigen und Pessimisten» damit erreichen wollte, aber auch ausländische Besucher: «Es ist wichtig, dass auch der Ausländer sich Rechenschaft ablegt, was alles der Begriff der totalen Landesverteidigung umfasst. Der ausländische Beobachter soll nach dem Besuch der Armeeschau eine Vorstellung haben von der Wucht der materiellen und moralischen Kräfte, die sich jedem Angriff widersetzen würden.»98 Dieser wurde in einem nach Hollywood-Manier aufwendig gemachten Film innerhalb von 20 Minuten zurückgeschlagen, woraufhin über den Alpen wieder die Schweizerfahne flatterte.

Diesem Bild des Igels hielt von Salis entgegen: «Eigentlich ist uns der Ausbruch aus dem uns von aussen aufgezwungenen Reduit der Jahre 1940 bis 1945 nie recht gelungen, und obgleich das Bild von der Igelstellung weder strategisch noch politisch der neuen Wirklichkeit entspricht, halten wir immer noch dafür, wir müssten als ein Igel leben.»99 Diese Repräsentation der wehrhaften Schweiz widersprach auch völlig einem Ausstellungsnarrativ, das mehrheitlich eine moderne, offene, innovative und dynamische Schweiz zeigen wollte. Demgegenüber setzte sich in Teilbereichen das EMD nicht nur mit dem «Igel», sondern auch mit einer Waffenschau in einem eigenen Pavillon auf dem Expo-Gelände durch, was die Verantwortlichen der Expo ursprünglich nicht wollten. Die Expo 64 bündelte die Widersprüche, die sich in den langen 1950er-Jahren manifestiert hatten: Während die einen eine Landesaustellung wie die Landi 39 wollten, heimatverbunden und traditionell, war sie für die Modernisierer und Kritiker eine Bestätigung für eine überholte Reduit-Schweiz.

Kein anderes westlich-demokratisches Land hatte ein ideologisches Korsett wie die Geistige Landesverteidigung. Ohne die permanente Diffusion dieses Antidots in die Volkspsyche während Jahrzehnten lässt sich der Antikommunismus nicht erklären. Die Geistige Landesverteidigung entfaltete ihre grösste Wirkung in den zwei Jahrzehnten nach Kriegsende. Sie perpetuierte nicht nur den Reduit-Gedanken, sondern überstülpte ihn auch dem intellektuell-kulturellen Bereich und schuf damit einen für ein freiheitlich-demokratisches Land einzigartigen Konformitätsdruck. Dieser verhinderte politische Debatten über kontroverse Themen, führte zu einem Reformstau, liess Intellektuelle und Künstler resignieren oder auswandern. Die Geistige Landesverteidigung war während eines Vierteljahrhunderts ein bleierner Deckel. Während sie zur Nazi-Zeit noch eine kulturelle Offenheit zuliess, verengte sie sich nach dem Krieg zu einer eindimensionalen Konformitätsideologie. Sie war ein Instrument der Disziplinierung, förderte Anpassung, Kriecherei und Denunziantentum. Wer sich dem Konformitätsdruck nicht fügte, war verdächtig und zu überwachen. Dass diese private und staatliche Schnüffelei im Verbund mit einem verschärften Staatsschutz zur Fichierung von fast 900 000 Personen führte, ist nur folgerichtig.

 

Gemäss Roger Sidler lässt sich die Geistige Landesverteidigung in vier Phasen einteilen.100 In der ersten Phase steht die Schweiz unter der NS-Bedrohung und reagiert mit militärischer Widerstands- und gesellschaftlicher Reformbereitschaft. Diese Phase wird durch einen Transformationsprozess von der Klassengesellschaft zur Konkordanzgesellschaft abgeschlossen. Sie ist charakterisiert durch: Widerstandswille, Rückbesinnung auf gemeinsame Werte, Betonung der geistig-kulturellen Eigenständigkeit, Herstellung von nationaler Identität im Rückgriff auf Geschichte und Landschaft, Verteidigung des demokratisch-föderalistischen Staatswesens. Was diesem Muster widerspricht, ist «unschweizerisch». In der zweiten Phase wird der ideologische Gegner ausgewechselt. Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der 1950er-Jahre bestätigt die Richtigkeit des eigenen Modells. Die Folge ist, dass Reformen hinausgeschoben werden, dass man den Status quo verwaltet. Eine Aufwertung erhält der militärische Widerstandswille. Die geistig-kulturelle Eigenständigkeit wird stark betont. Die Identitätsklammer ist ein aggressiver Antikommunismus.

In der dritten Phase reagieren die Exponenten des Antikommunismus mit einer ideologischen Verhärtung auf Kritik und bekämpfen alles, was «links» ist. Im Kontext der politischen und ökonomischen Krise Anfang der 1970er-Jahre wirkt das Schweizer Selbstbild antiquiert. Noch hat dieses «Sonderfall»-Muster mangels Alternativen Bestand, grundsätzliche Veränderungen gibt es nicht. In den späten 1970er- und 1980er-Jahren schliesslich, welche die vierte Phase kennzeichnen, beschleunigen sich gesellschaftliche Vorgänge wie Individualisierung und Globalisierung. Ein «Wertezerfall» kollidiert mit dem Schweizer Selbstverständnis. Neue Handlungsmuster setzen sich in vielen Lebensbereichen durch. Krisen wie die Fichenaffäre und der Zusammenbruch des Ostblocks führen zu einem Zerfall des «Sonderfall»-Denkens. Neue Interpretationen der Handlungsweisen von Akteuren während und nach dem Krieg – etwa durch die Bergier-Kommission – dekonstruieren die Geistige Landesverteidigung.

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