Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990

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Selbstverständlich wird auch das Telefon von Storz abgehört, und Inspektor Paul Hartmann von der Bundesanwaltschaft erfährt 1949, dass Storz sich nach Basel zu einer Funktionärsversammlung begeben werde, bei der es um den Aufbau von Betriebsgruppen gehe. Das fiel offenbar nicht ganz leicht, wie eine Aktennotiz des Polizeikommandos Aargau vom 5. Mai 1951 zeigt: «Storz, Paul, von dem angenommen werden musste, dass er mit seiner kommunistischen Propaganda auch die Fa. Brown, Boveri & Co., in Baden durchsetzen sollte, ist hier nicht in Erscheinung getreten. Die Fa. BBC hat unter der Leitung von Personalchef Buser mittelst Vertrauensleuten einen Überwachungsdienst organisiert. Es hat sich gezeigt, dass es den Kommunisten sehr schwer fällt bei BBC Fuss zu fassen.»

Der Staatsschutz kontrolliert natürlich auch die Post von Storz wegen vermuteter Zuwiderhandlung gegen Art. 275 des Strafgesetzbuches (Gefährdung der verfassungsmässigen Ordnung, staatsgefährliche Propaganda). Einladungen zu Veranstaltungen, an denen Storz referierte, fing der Staatsschutz ebenso ab wie Briefe der sowjetischen Botschaft, der PdA oder persönliche Korrespondenz. Registriert wurden selbstverständlich auch Treffen mit anderen Genossen wie Jean Vincent, Léon Nicole oder Jules Humbert-Droz. Die Genfer Polizei wusste zu berichten, dass er nicht wegen eines politischen Konflikts in die Tschechoslowakei gereist sei, sondern zur medizinischen Behandlung. Er sei nämlich fast taub. Alle seine Ausreisen ins Ausland vermerkt der Staatsschutz. 1953 meldet die Bundesanwaltschaft der Schweizer Gesandtschaft in Wien, dass Storz dorthin gereist sei, und bittet, «weitere Ihnen zur Kenntnis gelangende Feststellungen über Aufenthalte des Storz in Wien» zu machen.

Ein Grossteil der Meldungen des Staatsschutzes betraf Banalitäten, Alltägliches oder auch Misserfolge der Überwacher wie 1957: «Die uns heute von Hrn. Kom. Meier telefonisch gemeldeten Storz Paul und Magnin Armand, beide Genf, trafen sich nach ihrer Ankunft in Bern um 13.13 mit den PdA-Prominenten Vincent, Bodenmann, Muret und Woog im Buffet SBB. Nach kurzem Aufenthalt begaben sich alle, auf getrenntem Wege, nach dem Rest. Kornhauskeller zu einer Besprechung. Da eine Annäherung an sie nicht möglich war, wurde die Überwachung abgebrochen.» Meist stand in den Einträgen, dass sich Storz und andere Genossen getroffen hatten, doch über den Inhalt der Gespräche konnten die Überwacher nichts eruieren. Weil er so aktiv war, galt er als einer der gefährlichsten Kommunisten. Fazit: Paul Storz mag ein knallharter Stalinist gewesen sein, der agitierte, um Mitglieder für die PdA zu gewinnen. Doch alles, was er tat, erwies sich trotz jahrzehntelanger Sammeltätigkeit des Staatsschutzes als strafrechtlich irrelevant.

Im Gegensatz zu anderen Ländern hatte die Schweiz mit den Auswüchsen des Kommunismus keine unmittelbare Erfahrung gemacht, sondern nahm eine ideologisch motivierte Abwehrhaltung ein. In Deutschland gab es ebenfalls einen heftigen Antikommunismus, der im Verbot der Kommunistischen Partei durch das Bundesverfassungsgericht am 17. August 1956 mündete, nachdem die Regierung Adenauer bereits 1951 einen Verbotsantrag gestellt hatte. Hier hatte die Aversion gegen den Kommunismus und die Kommunisten allerdings konkrete Bezugspunkte, sei es die Vergewaltigungen und Verwüstungen durch Angehörige der Roten Armee gegen Ende des Kriegs, die Vertreibungen von Millionen von Deutschen aus den sowjetisch besetzten Ländern nach dem Krieg, die «Zwangsvereinigung» von SPD und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) 1946 zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) oder die Berlinblockade 1948/49. Ähnlich wie in der Schweiz bot ehemaligen Nazis in Deutschland der Antikommunismus die Gelegenheit, ihre braune Vergangenheit hinter sich zu lassen und nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Vor diesem Hintergrund wundert man sich, wieso die Massnahmen des Schweizer Staatsschutzes gegen Kommunisten ohne diesen Erfahrungshorizont mindestens so rabiat waren.

Gefahr durch ausländische Redner

Zur Geistigen Landesverteidigung vor dem Krieg gehörte auch der Schutz der Bevölkerung vor zersetzender Propaganda. Der Bundesrat erliess am 27. Mai 1938 «Massnahmen gegen staatsgefährdendes Propagandamaterial». Dieser Artikel wurde am 27. Februar 1945 neu gefasst und hiess nun «Massnahmen zum Schutze der verfassungsmässigen Ordnung und die Aufhebung der Parteiverbote». Die generelle Beschlagnahmung von aus dem Ausland eingeführtem, kommunistischem Propagandamaterial wurde aufgehoben – allerdings mit Ausnahmen. Diese liberalere Praxis liess nun den Import linker Literatur stark anwachsen, was die Behörden mit Besorgnis erfüllte, wie aus einem Bericht der Bundesanwaltschaft vom Juni 1948 hervorgeht.37 «In neuester Zeit muss festgestellt werden, dass die Einfuhr von ausländischem kommunistischem Propagandamaterial in starkem Zunehmen begriffen ist. Allein im März 1948 hat die Oberzolldirektion der Bundesanwaltschaft von 274 Sendungen aus dem Ausland, mit total 4886 politischen Schriften, Kenntnis gegeben.» Wegen der grossen Fülle könne die Bundesanwaltschaft die einzelnen Inhalte nicht mehr prüfen. 85 Prozent des Materials käme aus Moskau. Die Bundesanwaltschaft warnte: «Es darf jedoch nicht ausser acht gelassen werden, dass die Masseneinfuhr von kommunistischem Propagandamaterial eine Infiltration und Zersetzung der ideologischen und staatsrechtlichen Grundlagen unseres Landes bewirkt und damit geeignet ist, die innere Sicherheit der Eidgenossenschaft zu gefährden. Insofern wirkt die Masseneinfuhr von kommunistischem Propagandamaterial als solche gefährdend, ganz unabhängig von der Beurteilung des Inhaltes der einzelnen Schrift.»

Das meiste Material wurde über den Literaturvertrieb der PdA importiert, den Edgar Woog führte. Damit betreibe eine «schweizerisch aufgezogene Partei […] die Propaganda des Auslandes». Der Bericht enthält eine Liste von 150 beschlagnahmten Sendungen, darunter etwa die Neue Zeit, Jeunesse du Monde, Cahiers du Communisme und etliche andere. Die Bundesanwaltschaft stellte dem Bundesrat den Antrag, diese und verschiedene andere Publikationen beschlagnahmen zu dürfen. Das EPD stellte sich aber quer, weil aus rechtlichen Gründen der Inhalt jeder Schrift geprüft werden müsste, und fragte, ob diese Schriften wirklich die innere und äussere Sicherheit gefährden würden. «In innenpolitischer Beziehung ist zunächst festzustellen, dass das Schweizervolk der kommunistischen Propaganda des Auslandes bisher wenig Gehör geschenkt hat. Den Beweis dafür haben die jüngsten Wahlen erbracht, die für die Partei der Arbeit eindeutige Niederlagen waren. Man muss sich unter diesen Umständen fragen, ob es der PdA nicht geradezu willkommen wäre, wenn die Behörden gegen ihre ausländische Parteiliteratur einschreiten würden.» Komplikationen hätten sich immer aus der Beschlagnahmung ergeben. «Es ist für uns international gesehen stets von Vorteil gewesen, dass wir uns allseitig auf unsere liberale Haltung berufen […]», führt das EPD aus, das auch in den kältesten Zeiten des Kalten Kriegs einen rationalen, unaufgeregten Kurs fuhr und sich von der oft hysterischen Volksmeinung wenig beeinflussen liess. Das EPD warnte vor Retorsionsmassnahmen und meinte, dass mit einem Verbot auch die Einfuhr von Schweizer Zeitungen in die Sowjetunion verboten werden könnte, wo doch für die dortigen Machthaber die Einfuhr der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) wesentlich gefährlicher erscheinen müsse als der Import kommunistischer Literatur in die Schweiz.

Eine wesentlich repressivere Haltung nahm das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) ein, was sich zum Beispiel in Redeverboten für ausländische Politiker ausdrückte. Dabei zeigte sich ein Gegensatz zwischen der meist restriktiven Deutschschweiz und der liberalen Romandie, der sich im Kalten Krieg bei vielen Gelegenheiten manifestierte. Eine unterschiedliche Praxis zwischen EJPD und dem Kanton Genf zeigte sich im Fall des früheren französischen Ministers Pierre Cot, der in den 1930er-Jahren ein führender Kriegsgegner war, klandestine Unterstützung für die spanischen Republikaner organisierte, während des Kriegs an der amerikanischen Eliteuniversität Yale unterrichtete und 1945 Abgeordneter der Republikaner im französischen Parlament war. Er wollte 1949 zum Thema «Défense de la Paix» in Genf sprechen. Die Genfer Behörden hatten eine Bewilligung erteilt, das EJPD war dagegen. Dieses argumentierte: «Es besteht kein Zweifel, dass die vorgesehene Versammlung zu einer kommunistischen Propagandaveranstaltung wird, an der der ebenfalls linksextremistisch eingestellte Franzose Cot sprechen soll. Weiter ist nicht zu übersehen, dass trotz des harmlos aussehenden Themas ‹Défense de la Paix› in einseitig parteipolitischem Sinne Propaganda gemacht werden soll.» Und weiter: «In der heutigen Lage zwischen ‹Frieden und Krieg› haben sich extremistisch eingestellte Ausländer jeder politischen Tätigkeit in der Schweiz zu enthalten.»38

Auf Einladung der PdA der Kantone Genf, Waadt und Neuenburg hätte der französische General Ernest Petit im Herbst 1949 referieren sollen. Petit war 1940/41 Chef des Generalstabs von Charles de Gaulle gewesen, 1941 bis 1945 französischer Militärattaché. Er war nicht Mitglied der KPF, doch für die Bundesanwaltschaft war er ein «membre clandestin du parti», weil er Mitglied der Militärkommission der KPF war, die eine «der gefährlichsten Organisationen der Kommunistischen Partei Frankreichs» sei. Im Gegensatz zu den Waadtländer Behörden verbot das EJPD den Vortrag mit folgender Begründung: «Nach den Erfahrungen, die mit fremden Kommunisten gemacht wurden, muss erwartet werden, dass nicht ein objektiv gehaltener Vortrag über die Sowjetunion oder Moskau geplant ist, sondern eine politische Demonstration, an der an öffentlichen Versammlungen für den Kommunismus Propaganda gemacht werden soll. Eine derartige Tätigkeit kann jedoch dem Ausländer auf Schweizerboden in der heutigen Zeit nicht gestattet werden. Die gefährlichen internationalen Spannungen, der Zustand zwischen Frieden und Krieg, verlangen eine verschärfte Handhabung des Staatsschutzes.»39

 

Die Bewilligungspflicht für Reden von nicht niedergelassenen Ausländern, die jahrzehntelang in Kraft blieb, wurde am 24. Februar 1948 vom Bundesrat erlassen. Bewilligungsbehörden waren die kantonalen Instanzen, letztlich das EJPD, was eine einheitliche Praxis schwierig machte. Wie ernst das Thema genommen wurde, zeigte sich in der 30-seitigen Antwort von Bundesrat von Steiger auf eine Interpellation zu Redeverboten. Eine Bewilligung werde erteilt, so schrieb er, «wenn ein Ausländer, welcher ein Land kennt, über ein dieses Land betreffendes Thema als qualifizierter Redner objektiv und nicht im Sinne einer einseitigen politischen Demonstration spreche […]».40 Diese Definition Steigers bedeutete in der Praxis, dass ein Kommunist grundsätzlich nicht objektiv sein konnte. Zu seiner restriktiven Haltung gelangte der Bundesrat offenbar, weil sich Gesuche häuften. «Zu Beginn des Jahres 1950 gelangte eine ganze Reihe ausländischer Redner der linksextremistischen kommunistischen Richtung mit Gesuchen an die kantonalen Regierungen. Hier ging es offensichtlich um eine wohlvorbereitete Offensive.» Deshalb beschloss der Bundesrat im Februar 1950, «ausländischen extremistischen Rednern bis auf weiteres» keine Bewilligung mehr zu erteilen. Weil daraufhin weniger Gesuche eingereicht wurden, lockerte der Bundesrat die Bestimmungen etwas, zum Missfallen der bürgerlichen und der sozialdemokratischen Fraktionen im Parlament. In einer gemeinsamen Erklärung forderten sie den Bundesrat auf, «die bestehenden Staatsschutzbestimmungen gegen staatsfeindliche Umtriebe auf keinen Fall zu lockern, sondern wachsam und entschieden anzuwenden».

Hielten sich linke Organisationen an die Vorschriften und stellten Redegesuche, so kümmerte sich die Swiss American Society for Cultural Relations wenig um die Auflagen. Sie lud – ohne ein Gesuch zu stellen – den amerikanischen General William J. Donovon, der während des Kriegs oberster Chef des Nachrichtendienstes der Armee (OSS) gewesen war, zu einem Vortrag ein. Dem Bundesrat missfiel dies, ohne dass es Konsequenzen gehabt hätte: «Der Bundesrat hätte es vorgezogen, wenn man von einem solchen Vortrag Umgang genommen hätte. […] Es ist zur Genüge bekannt, wie intensiv und geschickt während des zweiten Weltkriegs der Nachrichtendienst der Vereinigten Staaten auf dem Gebiete der Schweiz gearbeitet hat. Richtete er sich auch nicht gegen die Unabhängigkeit der Schweiz, so war es zum mindesten wirtschaftlicher Nachrichtendienst zu Gunsten eines fremden Staates. Beides ist durch unsere Gesetzgebung verboten.»41

Zwischen 1938 und 1948 wurden vier sogenannte Demokratieschutzverordnungen erlassen, die sich nach dem Krieg fast ausschliesslich gegen Kommunisten und Linksextremisten richteten. Während die Strafdrohung beim Kommunistenverbot bis zu drei Jahre Gefängnis und 5000 Franken Busse betrug, reichten die Sanktionen bei rechtsextremen Parteien nur bis drei Monate Gefängnis und 2000 Franken Busse, was eine blosse Übertretung war.42 Bei der 1950 erfolgten Revision der Demokratieschutzverordnung stimmten nur die Vertreter der PdA sowie zwei Nationalräte des Landesrings der Unabhängigen (LdU) dagegen. LdU-Vertreter Erwin Jäckle argumentierte, dass jede Staatsschutzgesetzgebung nichts anderes sei als eine nationalsozialistische Gesetzgebung mit umgekehrten Vorzeichen.43

Streit um die Landesverteidigung

Anders als nach dem Ersten Weltkrieg hörte man nach dem Zweiten die Parole «Nie wieder Krieg!» nicht, und man rüstete auch nicht ab. Im Gegenteil: Der Kalte Krieg mobilisierte massive Investitionen in die Rüstung. Doch wie sollte sich ein neutraler Staat verhalten, dessen Armee sich nicht bewähren musste? Die Schweizer Armee war in einer Orientierungskrise, die sich schon während des Kriegs abgezeichnet hatte und die in einen Konzeptionsstreit mündete, der erst 1966 beendet wurde. Zwar konnten sich die Militärs nicht über zu wenige Mittel beklagen, fuhr doch die Schweiz ihre Rüstungsausgaben stark hoch. Von 1949 bis 1952 erhöhten sich die Militärausgaben von 478 auf 880 Millionen Franken, was 40 Prozent der Staatsausgaben ausmachte.44 Doch wie auf das neue Feindbild, die Sowjetunion, reagieren? Eine Operationsstudie aus dem Jahr 1946 schildert die ungemütliche Lage in Europa so: «Eröffnen die Russen Operationen auf dem europäischen Kriegsschauplatz, so ist zunächst festzuhalten, dass die Mächte des Westblocks in der nächsten Zukunft nicht imstande wären, einem russischen Vormarsch irgendwie nennenswerte Erdstreitkräfte entgegenzustellen. Die Russen dürften von vornherein in der Lage sein, allein durch Deutschland mit über 100 Divisionen und wohl etwa 40 Panzerbrigaden zu operieren, ohne hiefür wesentlich frisch mobilisierte Kräfte einzusetzen.» Die Schweiz hätte laut dieser Studie Zeit, «rechtzeitig zu mobilisieren und unsere ersten Massnahmen zu treffen, da die Russen immerhin mehrere hundert Kilometer von unserer Grenze entfernt stehen». Und falls alle Stricke reissen würden: «Im letzten und schlimmsten Falle, nämlich wenn es den Russen gelingen sollte, nicht nur ganz Frankreich, sondern auch noch ganz Oberitalien zu besetzen, würde immer noch der Rückzug ins Reduit als letzte Möglichkeit bleiben.»45 Gerade hoffnungsvoll war diese Strategie nicht.

Schon während des Kriegs stritten sich die Schweizer Militärstrategen heftig, wie die Armee einzusetzen sei. Während die einen die Doktrin des Bewegungskriegs nach deutschem Vorbild vertraten, suchte die andere Seite die spezifischen Vorteile der Topografie mit einer defensiv ausgerichteten Infanteriearmee auszunützen. In diesem «Konzeptionsstreit», der insbesondere in den 1950er-Jahren heftig tobte, standen sich die «Statiker» um Alfred Ernst und die Zürcher Offiziersgruppe um Georg Züblin gegenüber. Diese vertrat das Nato-Konzept der «Mobile Defense», einer mobilen Verteidigung mit starken Panzerkräften, mechanisierten Divisionen mit hoher Feuerkraft und einer Luftwaffe mit 800 Flugzeugen, was der 1955 als Bundesrat gewählte EMD-Chef Paul Chaudet unterstützte. Auch die 1958 gegründete Landesverteidigungskommission schwenkte auf diesen Kurs ein; im EMD blieb das Konzept aber bis in die 1960er-Jahre hinein umstritten. Dieses Konzept hätte die Finanzkraft der Schweiz bei Weitem überschritten.

Die Zürcher Gruppe, die in der Tradition eines Generals Ulrich Wille stand, war überzeugt, dass ein Gegner nur mit ebenbürtigen Mitteln wirksam bekämpft werden könnte, weshalb die Schweiz gezwungen sei, den internationalen technischen Fortschritt nachzuvollziehen. Mit der Truppenordnung 61 (TO 61) setzte sich diese Gruppe durch. Die TO 61 sah eine hoch mechanisierte und technologisch auf den neuesten Stand gesetzte Armee vor, die mit jedem Gegner des Aggressors ein Bündnis eingehen konnte, also anschlussfähig an die Nato war.46 Zwar wehrte sich der bürgerliche Teil des Parlaments gegen den Vorwurf, man wollte eine «kleine Nato-Armee» schaffen, dennoch wurde im Ostblock die Truppenreform als Annäherung an die Nato und als Missachtung der Neutralität verstanden.47 Für die PdA kam die TO 61 einer «Totalliquidation der Neutralität» gleich.48 Die beschränkten Budgets verhinderten allerdings einen Ausbau nach Nato-Vorbild.49 Die Visionen der Zürcher Gruppe sollten in einem Debakel enden.

Die Statiker waren realistischer, insbesondere bezüglich der finanziellen Möglichkeiten. Ihr Konzept, basierend auf dem Milizsystem, sah einen defensiv, vorwiegend mit Infanterie geführten Abwehrkampf vor, der die Vorteile des Geländes ausnützte. Die Anhänger der «Mobile Defense» sprachen vom Reduit als einer «Mausefalle», während die vermeintlich rettende Funktion dieser Strategie im Volk breite Resonanz fand. Vorläufig setzten sich die Anhänger der «Mobile Defense» durch, was sich in einem Ausbau der Panzerkräfte in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre zeigte. Doch noch bis zum Ende des Jahrzehnts war die Schweizer Armee eine ausgesprochene Infanteriearmee. Zur Aufmunterung der Fusstruppen stellte Das Soldatenbuch von 1958 fest: «Alle Ärzte und Erzieher sagen, dass der Marsch die natürlichste und gesündeste Sportart sei.»50

Der Beitrag der Armee zur Verteidigung des Landes während des Kriegs war in der öffentlichen Wahrnehmung unbestritten, derjenige der Rüstungsgeschäfte, der Finanztransaktionen und Raubgoldgeschäfte zugunsten von Nazi-Deutschland unbekannt, weshalb das Prestige der Armee in den Jahren nach dem Krieg so gross war wie wohl nie mehr. Das Gemeinschaftserlebnis des Aktivdienstes zur Verteidigung von Neutralität und Unabhängigkeit war zudem für die beteiligten Wehrmänner in höchstem Mass identitätsstiftend. Es kam dazu, dass die – auch staatlich geförderte – Erinnerungskultur den vermeintlich alleinigen Beitrag der Armee zur Bewahrung der Unabhängigkeit während Jahrzehnten überhöhte. Der breiten Bevölkerung blieben die Mängel in der Armee weitgehend verborgen.

Abrüstungsinitiativen: Ein Bürgerlicher irritiert

Weil der Bundesrat nach dem Krieg Defizite in der Ausrüstung erkannt hatte, legte er ein massives Rüstungsprogramm für die Jahre 1951–1956 auf, das auch die Sozialdemokraten mittrugen. Umso irritierender, für viele landesverräterisch, musste es scheinen, dass nun ein bürgerlicher Journalist und Satiriker, ein ehemaliger Stadtschreiber von Lausanne, Mitglied der Freisinnigen Partei, auftrat und 1954 eine Initiative zur Beschränkung der Rüstung lancierte. Der Jurist Samuel Chevallier und sein Kollege L. Plomb verlangten im später als «Chevallier-Initiative» bezeichneten Volksbegehren (Volksinitiative für eine Rüstungspause) eine Reduktion der Armeeausgaben um 50 Prozent auf 500 Millionen Franken. Die eingesparten Mittel sollten zur Hälfte für soziale Aufgaben im Inland und für den Wiederaufbau der kriegszerstörten Nachbarländer eingesetzt werden. 84 500 Stimmberechtigte unterschrieben die als «oeuf de colombe» bezeichnete Initiative, wobei gut 70 Prozent der Unterschriften aus der Westschweiz stammten. Unterstützt wurde die Initiative von der PdA, Teilen der Gewerkschaften, einzelnen SP-Sektionen, nicht aber vom Parteivorstand der SPS.

Die Initiative erschreckte die bürgerlichen Politiker, machte sie doch deutlich, dass es selbst in ihrem Lager Armeekritiker gab. Sie wurde als Angriff auf die Armee und als Ausgeburt von Defätisten interpretiert. So zitierte die NZZ unter dem Titel «Anschläge auf die Wehrkraft» den Schweizerischen Unteroffiziersverband (SUOV). Dieser «erwartete von den verantwortlichen Behörden und den ihrer Verantwortung bewussten Volksvertretern in den eidgenössischen Räten, dass sie allen defaitistischen Versuchen zur Schwächung unserer Wehrkraft entgegentreten und der Ansicht zum Durchbruch verhelfen, dass die Verteidigung unserer schönen und freien Heimat auch entschieden selbst die grössten Opfer wert ist».51 Für das bürgerliche St. Galler Tagblatt ist «kaum je eine Initiative lanciert worden, die in einem solchen Ausmasse utopisch ist und ihr Ziel verfehlen würde, wenn sie eine Mehrheit finden sollte».52 Die NZZ holte, wie später noch oft, die Antikommunismus-Keule hervor. «Sie grenzt in der Tat vielmehr verdächtig nahe an Defaitismus gefährlichster Art, und es ist deshalb kein Zufall, dass sie von den Kommunisten, diesen erklärten Feinden unserer Demokratie und Freiheit, freudig begrüsst wird.»53 In mehreren Artikeln schoss die NZZ ein Sperrfeuer gegen die Initiative ab. Doch auch die Linke unterschied sich rhetorisch kaum von den bürgerlichen Gegnern. Das sozialdemokratische Volksrecht bezeichnete sie als «unsinnige Initiative», die für die Reputation der Schweiz ein Unglück wäre. Diese Zeitung ging sogar weiter als bürgerliche und spielte auch auf den Mann. Die Initiative sei «eine Aktion der äussersten Rechten; Chevallier war ein Bewunderer Mussolinis und bekennt sich heute noch in seinem Witzblatt Le Bon Jour als Verächter der Demokratie».54

Der Bundesrat beschäftigte sich an mehreren Sitzungen mit der Initiative, beschloss, dass sie trotz Formfehlern gültig sei, erklärte sie aber dennoch für ungültig, weil sie praktisch undurchführbar sei.

Das Parlament erklärte die Initiative im Dezember 1955 für ungültig: der Ständerat mit 29 zu 5 Stimmen, der Nationalrat äusserst knapp mit 83 zu 82 Stimmen. Migros-Gründer und LdU-Nationalrat Gottlieb Duttweiler war es nicht wohl bei diesem Entscheid. Er hatte «das Gefühl, dass mit dem Feuer gespielt werde. Wir dürfen im Volke nicht ein gefährliches Klima schaffen, indem wir die Initiative nicht unterbreiten. Lassen wir das Volk entscheiden; es ist nicht so unvernünftig».55

 

Weil sich abzeichnete, dass die Initiative nicht vors Volk käme, wurde schon vor der Parlamentsdebatte mit der Sammlung von Unterschriften für eine zweite Initiative («zur Begrenzung der Militärausgaben») begonnen, die ebenfalls die Militärausgaben auf 500 Millionen Franken beschränken wollte. Was darüber hinausging, war per Abstimmung dem Volk zu unterbreiten. Zudem solle der Bund ein Zehntel der Militärausgaben hälftig für soziale und kulturelle Zwecke im In- und Ausland verwenden. Dieses Volksbegehren kam in kurzer Zeit mit 68 400 Unterschriften zustande. Diesmal stellten die Gegner nicht nur ein prominent besetztes Gegenkomitee mit General Henri Guisan an der Spitze zusammen, sie fuhren grobes rhetorisches Geschütz auf: Sie stellten die Initiative verstärkt in den Kontext einer kommunistischen Unterwanderung. Guisan betonte, «es sei das erstemal, dass er in seinem Leben eine solche Aufgabe übernehme. Er habe sich darum dazu verpflichtet gefühlt, weil die Verteidigung der Heimat auf dem Spiele stünde». Er wolle dem Schweizervolk auch beweisen, «dass lange nicht alle Waadtländer Bürger mit den nach fremden Ideologien ausgerichteten Prinzipien dieser unüberlegten Initiative einverstanden seien».56 Denn erneut tat sich ein Graben auf, was sich am Beispiel der Sozialdemokraten zeigte. Während die SP des Kantons Waadt für Annahme votierte, war der Parteivorstand der SPS im Verhältnis von 32 zu 16 dagegen. Walther Bringolf, der im Ersten Weltkrieg Soldatenräte gegründet hatte und in den 1920er-Jahren als kommunistischer Nationalrat der SPS mangelnden Antimilitarismus vorgeworfen hatte, rügte Humbert-Droz, weil er sich für diese Initiative einsetzte.57

Obwohl die Initianten bewusst auf Distanz zu den Kommunisten gingen und sich auch keiner im Initiativkomitee fand, wurde ihnen unterstellt, dass sie von Moskau gesteuert seien. Die Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiter-Zeitung schrieb: «Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese beiden Volksbegehren ganz in der Linie der moskowitischen Taktik liegen und durch den kommunistischen Propagandaapparat auch die erforderliche Unterstützung erhalten werden.»58 Die Mitinitianten um den Zürcher Pfarrer Willi Kobe und Jules Humbert-Droz und ihr «Pazifistenzirkel» nähmen «die aktive kommunistische Hilfe bei der Unterschriftensammlung in Anspruch».59 Pfarrer Willi Kobe musste sich gegen den Vorwurf wehren, er stelle sich in den Dienst der Kommunisten. Zwar stand in seiner Fiche von 1956, er sei «keineswegs kommunistenfreundlich», doch änderte zwei Jahre später der Staatsschutz seine Meinung und stellte fest, Kobe habe bewiesen, «dass er ein politischer Kumpan der Kommunisten ist».60 Gegen Kobe, wie gegen viele andere auch, gab es nach «Ungarn» Drohungen. So erhielt er im November 1956 von einer «Aktion Heimat» ein Schreiben: «Wir werden Dir in den nächsten Tagen einen Besuch abstatten. Nimm es nicht tragisch, wenn es etwas laut zugeht und dass Scheiben in Scherben gehen. Es soll Dir zeigen, dass das Schweizervolk Verräter verachtet […]»61 Mit der Initiative geriet Chevallier auf den Radar des Staatsschutzes. Er wurde nie als Kommunist verdächtigt, vom Berner Spezialdienst allerdings als «Instrument der kommunistischen Ideologie» bezeichnet. Deshalb wohl drängte Bundesrat Feldmann auf eine intensivere Überwachung von Chevallier.62

Die Diskussion um die Chevallier-Initiativen kam zu einem abrupten Ende. Am 24. Oktober 1956 begann der Aufstand in Ungarn gegen die kommunistische Herrschaft. Zehn Tage später marschierten sowjetische Truppen ein und unterdrückten ihn brutal. In diesem aufgeheizten Klima, in dem der Antikommunismus einen Höhepunkt erreichte, stieg der Druck auf die Initianten, ihre beiden Volksbegehren zurückzuziehen. Am 14. November 1956 teilte Samuel Chevallier als einer der Erstunterzeichner mit, er sei für deren Rückzug. Drei Tage später folgte ihm das nicht einstimmige Komitee. Wenige Volksbegehren haben solch ideologisch hochgekochte Debatten provoziert wie die beiden Chevallier-Initiativen. Das eigentliche Anliegen, die soziale und friedensfördernde Komponente, trat in den Hintergrund. Es ging um ein Glaubensbekenntnis für oder wider eine starke, sich selbst verteidigende Schweiz. Wer für die Initiative war, war ein von Moskau gesteuerter Defätist. Die dumpfen ideologischen Zuschreibungen im Umfeld dieser Initiativen waren nur das Vorspiel zu dem, was nach dem Ungarn-Aufstand stattfand.

Die Abwürfe der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki veränderten die internationale Lage radikal und auf Jahrzehnte hinaus. Damit begann das nukleare Wettrüsten, denn Stalin wollte für sein Land vor allem eines: Sicherheit und Gleichstand mit den USA. 1949 hatte auch die Sowjetunion ihre Atombombe entwickelt. Obwohl sich die Atommächte mit der Idee, dass man mit Atombomben Waffen hatte, die man nicht einsetzen durfte, bereits Ende der 1940er-Jahre vertraut machten, verhinderte das nicht die Entwicklung der viel verheerenderen Wasserstoffbombe und ein sich beschleunigendes atomares Wettrüsten. Für die Amerikaner ging es darum, die Nase beim atomaren Wettlauf vorne zu haben. 1952 brachten die USA eine Wasserstoffbombe zur Explosion; die Sowjetunion zog im folgenden Jahr nach. Laut Präsident Harry Truman wurde sie entwickelt, damit man gegenüber den Russen eine Verhandlungsmasse hatte.63 1961 zündeten die Russen die von einem Team um den späteren Dissidenten Andrei Sacharow entwickelte stärkste Wasserstoffbombe überhaupt. Sie hatte eine Explosivkraft, die dem 2500-Fachen der Hiroshima-Bombe und dem 30-Fachen aller während des Zweiten Weltkriegs auf Deutschland abgeworfenen Bomben entsprach.64 Bis in die 1980er-Jahre hinein türmten sich die Atomarsenale der beiden Supermächte auf 60 000 Sprengköpfe. Gleichzeitig war allen bewusst, dass nur ein «Gleichgewicht des Schreckens», bei dem nie Atomwaffen zum Einsatz kamen, die Welt vor dem Untergang bewahren konnte. Die Drohung mit Atomwaffen war fortan das bestimmende Strukturelement im Verhältnis Ost-West, dem sich kein Land entziehen konnte.

Da keine der Atommächte im «imaginären Krieg» diese Waffen einsetzte, wurde die Konfrontation anderswo oder über Stellvertreter ausgetragen. Nach dem Umsturz in der Tschechoslowakei und nachdem sich die kommunistischen Regimes im Ostblock etabliert hatten, testete Stalin mit der Blockade von Berlin 1948/49 den Westen. Dies führte zu einer riesigen Solidarisierung mit der Berliner Bevölkerung; die legendären «Rosinenbomber», die die Versorgung der Bevölkerung sicherstellten, sind bis heute Teil des kollektiven Gedächtnisses. Stalin wollte die westlichen Alliierten aus Berlin heraus haben; die Amerikaner sahen Berlin als Testfall. Würde der Westen hier einknicken, wäre der Weg für eine weitere sowjetische Expansion frei. Nach 321 Tagen, während deren die Bevölkerung mit 278 000 Flügen und 2,3 Millionen Tonnen versorgt worden war, gab Stalin klein bei.65 Für ihn war es ein immenses PR-Desaster. Als er die Blockade aufhob, war die Nato gegründet worden, ebenfalls die Bundesrepublik Deutschland, was Stalin vermeiden wollte.66 Im Gegenzug entstand die Deutsche Demokratische Republik.