Blaues Feuer

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***

Von seiner Herbstreise brachte Hans Lederer Säcke voller Getreidemehl mit, so viele der Esel tragen konnte. Was die Familie auf den eigenen Feldern geerntet hatte, reichte nicht, um durch den Winter zu kommen. Für Norbert brachte der Vater zwei Fußleder mit. Sie waren an den Seiten gelocht, damit man sie unter die Fußlappen schnüren konnte.

„Wirst schließlich erwachsen,“ knurrte Hans Lederer.

„Ich kann auch für unsere eigene Familie jagen gehen, damit wir besser durch den Winter kommen“ erklärte Norbert.

„Red keinen Unsinn,“ fuhr der Vater ihn an. „Du arbeitest für Björn Feldnersohn um der Maja willen. Lass dir ja nicht einfallen, nachlässig zu werden. Bei uns arbeitet Roderig mit. Wir kommen zurecht.“

Der Winter nahm die Siedlung in seinen eisigen Griff. Im

Heulen des Sturms und im Krachen der Bäume in der Kälte glaubten die Wildenbrucher die Dämonen heranschleichen zu hören. Björn Feldnersohns alter Vater erkrankte am Schüttelfieber. Die Feldnersohns hüllten ihn in Decken, rückten seinen Lehnstuhl nahe ans Herdfeuer und Majas Mutter flößte ihm Tag und Nacht schluckweise Brühe und heißen Tee ein. Er starb in den ersten Januartagen. Norbert half, das Grab im gefrorenen Boden auszuheben.

Grete war schwanger. Oliver und sie zogen hinüber ins Haus ihres Vaters, wo das große Herdfeuer mehr Wärme spendete und die Familie sich um die Schwangere kümmern konnte.

Anfang März änderte sich das Wetter. Mit heftigen Frühjahrsstürmen setzte die Schneeschmelze ein. Regengüsse verwandelten den Boden in der Auenniederung und den Talwiesen in Morast. Die Gorn stieg über die Ufer. Schmelzwasser und Regenfälle in den Bergen verwandelten den Fluss in eine strudelnde schlammige Flut, die binnen einer Nacht die Siedlung, die Tiergatter und die Felder mit dem im Herbst gesäten Winterweizen überschwemmte, Gatter zerstörte, Ziegen und Schafe mit sich fortriss, die Hütten knietief überflutete und die Herdfeuer löschte. Die Wildenbrucher knüpften, was sie an Vorräten retten konnten, an die Dachbalken und übernachteten in klammer Kälte im Gebälk. Erst Tage später nahm die Flut ab. Viele der Frauen weinten vor Verzweiflung über die Zerstörungen. Die Männer sichteten stumm den Schaden, pferchten die überlebenden Tiere ein, pflügten die verwüsteten Felder um und bereiteten das wenige, was sie an Saatgut gerettet hatten, zur Aussaat vor.

Die Flutschäden waren noch nicht repariert und die Böden der Hütten bedeckte noch immer eine knöcheltiefe Schlammschicht, als Gretes Wehen einsetzten. Die Frauen hatten die Geburt erst in einem halben Monat erwartet. Aber die Strapazen der vergangenen Wochen hatten Grete zugesetzt. Beim Herdfeuer errichteten die Morgners ein Deckenlager. Leika kam, um bei der Geburt zu helfen. Die Männer, auch Oliver, wurden aus dem Haus verwiesen. Es wurde eine lange, schwere Geburt und als die Frauen das Blut von dem schreienden Neugeborenen abwuschen, war seine Haut von einem ungesunden Rot und seine Oberlippe war gespalten. Die Geburtshelferinnen beschlossen, es sei ein Mädchen, obwohl das Neugeborene sowohl ein weibliches als auch ein männliches Geschlechtsorgan zu haben schien.

Der Säugling schrie pausenlos mit einer heiseren, röchelnden Stimme, die anders klang als die anderer Neugeborener. Die verzweifelte Grete ließ ihn nicht von ihrer Brust und Leika zeigte ihr, wie sie ihn an die Brustwarze anlegen musste. Oliver und die Männer wurden auf Abstand von der Mutter und dem Neugeborenen gehalten, aber es merkten doch alle, dass etwas nicht stimmte. Schnell sprach sich in der Siedlung herum, die Grete habe ein krankes, verkrüppeltes Kind zur Welt gebracht.

Als der Säugling nach drei Tagen wider Erwarten nicht gestorben war und trotz dem unverminderten heiseren Röcheln ein wenig kräftiger wurde, bekam er den Mädchennamen Wanda. Oliver nahm das schreiende Bündel in die Arme.

„Sei vorsichtig!“ schrie Grete, die ihr Kind noch immer kaum zum Wickeln und Waschen aus den Händen geben wollte.

Oliver brachte das Neugeborene, von dem nur das rötliche, vom Schreien verzerrte Gesicht mit der Hasenscharte zu sehen war, nah an sein Gesicht.

„Wanda, du bist meine Tochter,“ sagte er mit brüchiger Stimme. „Ich will für dich und deine Mutter sorgen und ich werde dich großziehen.“

Die Gesichter der Hofmitglieder und Freunde um das Paar entspannten sich. Mehrere atmeten auf. Nur einige schüttelten stumm die Köpfe.

***

In diesen Tagen erinnerten sich die Wildenbrucher abends an den Herdfeuern an die Sage vom Geisterdorf. Norbert hörte die Sage zum ersten Mal bei den Feldnersohns, wo Majas Großmutter sie nach dem Abendessen erzählte. Schon im Winter hatte Norbert hin und wieder bei den Feldnersohns in der Wohnküche übernachtet, wenn der Sturm ihm nach der Tagesarbeit daran hinderte, zum Hof des Vaters zurückzukehren. Dann gab ihm Majas Mutter eine Decke und er und Maja schliefen nebeneinander auf ihrem Lager. Außer Norberts Schwester Lene fand niemand etwas dabei.

„Das kann man in den Wochen vor der Hochzeit machen, aber doch nicht jetzt schon,“ hatte sie geschimpft, als Norbert am Morgen nach seiner ersten Übernachtung bei den Feldnersohns nach Hause kam.

„Aber hinten beim Heuschober rumknutschen und mitten während der Tagesarbeit heimlich für ein paar Stunden ins Heu schleichen, das kann man?“ erwiderte Norbert seiner Schwester.

Lene zischte verächtlich und lief durch den Schnee davon. Aber Norbert hatte doch gesehen, wie sie knallrot wurde.

Die Feldnersohns saßen um die knisternde Glut der in den Boden eingelassenen Herdstelle. Rings umher lag die Wohnküche im Dunkeln. Die Luft war dumpf und feucht. Gebälk und Fußboden waren noch nicht getrocknet seit der Überflutung. Maja rückte dicht an Norbert heran und nahm seine Hand in ihre. Er liebte es, so nah bei ihr zu sitzen, dass er den Schweißgeruch ihres Kleids riechen konnte. Norbert träumte von diesem Geruch, wenn er allein auf seinem Lager am väterlichen Hof übernachtete.

„Vor langer Zeit, viele Tagereisen von hier im Osten, wo der Gornwald sich weit hinauf in die wilden Berge erstreckt,“ begann die Großmutter ihre Erzählung, „gründeten Siedler am Oberlauf der Gorn eines der ersten Siedlungsdörfer im Gornwald. Damals waren die Wälder noch von Elben bewohnt und die Siedler der ständigen Gefahr eines Überfalls ausgesetzt. Erst Jahrhunderte später ließ der Kaiser den Gornwald durch Strafexpeditionen seiner Ritter von den Wilden säubern.“

Norbert verzog das Gesicht. Er dachte an den Geist der Elbin mit dem erschlagenen Säugling im Arm. Maja drückte fest seine Hand.

„Die Siedler nannten ihr Dorf Schwarzenrode. Die ersten Jahre gedieh die Siedlung gut und die Siedler lebten im Überfluss von Feldfrüchten und von der Jagd. Aber dann kam eine Reihe strenger Winter und das Leben in Schwarzenrode wurde hart. Als nach der ersten guten Herbsternte seit Jahren Elben das Dorf überfielen, mehrere Männer töteten, die Ernte, Vieh und auch einige Mädchen wegführten, verließ die Überlebenden der Mut. Sie hatten den Siedlerschwur getan, ihr Siedlungsland der Wildnis auf immer zu entreißen und die Siedlung unter Einsatz ihrer aller Leben zu behaupten. Doch in der Dorfversammlung setzten sich die Stimmen einiger Männer durch, die behaupteten, in der Zivilisation würden sie alle besser leben können. Obwohl der Kaiser ihnen per Dekret Schwarzenrode unabänderlich als Siedlungsort zugeschrieben hatte.“

Ein drohender Tonfall schien in den heiseren Worten der Großmutter mitzuschwingen.

„Die Dorfleute beschlossen, ihr Hab und Gut auf Karren zu laden und Schwarzenrode und den Gornwald vor Wintereinbruch zu verlassen. Am Abend vor dem Aufbruch kamen alle zusammen, um ein letztes Fest miteinander in der Siedlung zu feiern. Es wurde ein trauriges Fest. Stumm und mit schlechtem Gewissen saßen sie beim Mahl. Als nach dem Essen zum Tanz aufgespielt wurde, tanzten die jungen Leute ohne Freude miteinander. Immer wilder drehten die Paare sich, einander verzweifelt umklammernd, im hektischen Tanz Vergessen suchend vor dem Eidbruch, den der nächste Morgen bringen sollte. Und draußen vor dem Haus heulten die Dämonen im Nachtwind.“

Die Greisin machte eine Pause und blickte mit brennenden Augen in die Runde. Es war absolut still, nur die Holzkohlen knackten in der erlöschenden Glut.

„Um Mitternacht hielten die Tanzenden plötzlich inne. Atemlos lauschten sie in die Dunkelheit, aber es war kein Laut mehr zu hören, kein Windheulen, keine Musik, nicht einmal mehr ein Knacken im Gebälk oder jemandes Atem. Der Fluch legte sich über sie mit blinder Schwärze und die Menschen in der Siedlung erstarrten zu Stein um ihres Eidbruchs willen. Die Siedlung verschwand wie vom Erdboden verschluckt. Wo sie einst stand, befindet sich heute ein undurchdringliches Dornengestrüpp, aus dem ein Pesthauch denjenigen anhaucht, der dort hinein vordringen will. Nur einmal alle hundert Jahre erwacht das Dorf für einem Tag zum Leben und die Schwarzenroder müssen den letzten Tag vor ihrem geplanten Aufbruch noch einmal durchleben, wissend, dass um Mitternacht der Todeshauch sie ergreifen wird, dass sie in alle Ewigkeit verdammt sind, als Untote auszuharren an dem Ort, der ihnen als Siedlung zugeschrieben wurde.“

„So geht es denen, die den Schwur brechen und ihre Siedlung aufgeben wollen,“ endete die Alte ihre Erzählung.

***

Nach der Überschwemmung blieb der Regen aus und die Ernte des Frühgemüses fiel spärlich aus. Die vor der Flut geretteten Vorräte gingen schnell zur Neige. Die Wildenbrucher stellten oben im Wald Kaninchenfallen auf und wer Bogen und Pfeile besaß, ging auf die Jagd. Aber auch so reichte es kaum noch zum Leben. Die Kinder durchstreiften den Wald in der Nähe der Siedlung auf der Suche nach Käferlarven und aßen sie vor Hunger gleich vor Ort. Die Kleinsten bekamen aufgeblähte Hungerbäuche vom ständigen Wasser trinken, um wenigstens etwas im Magen zu haben. Mit hohlen Augen und blassen Gesichtern gingen die Wildenbrucher ihrer Hof- und Feldarbeit nach.

 

„Die schwarze Dame will ein Opfer haben,“ murmelte Norberts Mutter am Abendbrottisch.

Ein Teller Radieschen, gerade zwei oder drei für jeden, und eine Schüssel Brühe mit ein paar Stückchen Kaninchenfleisch waren alles, was auf dem Tisch stand.

„Sie ist wütend. Wir haben sie erzürnt,“ hauchte die Mutter in ihrem weinerlich-klagenden Tonfall.

„Wie sollen wir sie denn erzürnt haben?“ fuhr Norbert trotzig auf.

Aber der Vater rief ihn sofort zur Ordnung. „Halt den Mund. Du bringst nur noch mehr Unglück über uns.“

Norbert schleuderte dem Vater einen wütenden Blick zu.

Du weißt es doch selber besser!

Hans Lederers Miene blieb hart. „Kein Wort mehr, Norbert!“

Grete kam zu Leika, um sich von ihr Rat zu holen wegen Wanda. Der Säugling wollte nicht wachsen. Wanda schrie nahezu ununterbrochen mit hochrotem Gesicht. Aber auch Leika wusste Grete und ihrem Kind nicht zu helfen.

Es war Gerlinde Hüttner, die als erste raunte, Gretes Säugling sei ein Götterkind. Bald wurde es in der gesamten Siedlung hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Oliver ging herum wie gelähmt. Grete klammerte ihr Töchterchen schluchzend an sich. Sie kam nicht mehr aus der Hütte, versteckte sich und ihr Kind vor allen außer Oliver.

Den einen Nachmittag, als er von den Feldnersohns kam, traf Norbert Leika allein in der Wohnküche an. Er verstaute Bogen und Köcher bei seinen Sachen unter der Schlafstätte und setzte sich mit knurrendem Magen zu ihr an die Herdstelle.

„Leika, was ist ein Götterkind?“

Sie blickte kurz auf, dann machte sie eine zornige Handbewegung und widmete sich wieder dem Putzen des Gemüses für den Abendimbiss. Es waren nur wenige verschrumpelte Möhren, die in der Schüssel schwammen.

„Aberglaube!“

„Alle reden darüber, Leika. Was soll das sein, ein Götterkind?“

„Hör nicht hin. Sie hören auch wieder auf, davon zu reden.“

Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.

Maja klärte ihn auf. Er hatte sie am Abend von der Feldarbeit abgeholt und die beiden gingen gemeinsam zum Dorf zurück.

„Alle reden davon, Gretes Kind sei ein Götterkind, aber niemand will etwas darüber sagen, was das bedeuten soll.“

Maja blieb stehen und sah Norbert scheu an aus ihren braunen Augen, die er so liebte.

„Weißt du‘s denn nicht?“ flüsterte sie.

„Woher soll ich es denn wissen, wenn es mir keiner erklärt?“

Sie rieb sich Erde von den Händen.

Stockend meinte sie: „Die... die Götterkinder sind nicht wie die anderen Kinder, die geboren werden. Mutter hat es mir erklärt. Sie werden geboren, weil...“

Maja blickte zu Boden, während sie hauchte: „Weil sie zu den Göttern zurückwollen, von denen sie gesandt sind. Sie wollen nicht bei uns auf der Erde leben, wie andere Kinder. Deshalb sind sie so anders und wachsen nicht richtig.“

Norbert begriff nicht. „Wie – wollen nicht bei uns auf der Erde leben?“

Er wunderte sich, warum Maja Tränen in den Augen hatte.

„Bert... Weißt du denn nicht, was mit ihnen geschieht?“

Es traf ihn wie ein Schlag. „Was?“

„Sie müssen geopfert werden – den Göttern.“ Sie hauchte es kaum hörbar.

Es dauerte eine Weile, bis Norbert seine Sprache wiederfand. Er griff Maja an den Schultern.

„Aber du glaubst das nicht, oder? Du würdest so was nie mitmachen, nicht wahr?“

Mit bebenden Lippen wandte sie sich zur Seite.

„Wenn die Götter es doch fordern – Wenn es doch ihr Wille ist...“

Norbert konnte nicht mehr an sich halten.

„Das ist nicht der Wille der Götter!“ schrie er Maja an. „Götter, die so was wollen, gibt es nicht! Nur die Dämonen fressen Menschen! Und die helfen uns nicht, niemals!“

Maja hielt sich mit beiden Händen den Mund. Entsetzt starrte sie ihren Freund an. Ein stummes Schluchzen schüttelte sie.

Atemlos redete Norbert auf sie ein: „Wenn die das machen, gehen wir weg, Maja! In Altenweil gibt es einen Gelehrten, der würde mich in die Lehre nehmen. Wir...“

Mit einem Aufschrei fiel sie ihm ins Wort: „Bert! Rede nicht so! Wir sind Siedler! Wir dürfen nicht gehen. Der Fluch!“

„Ich hab keinen Schwur getan! Und außerdem würd‘ ich ja später wiederkommen. Und dann töte ich die schwarze Dämonendame!“

Sie weinte an ihn geklammert. Wieder und wieder schüttelte sie den Kopf.

Norberts Herz raste, aber er konnte nicht anders, er schleuderte es ihr noch einmal entgegen: „Wenn die das tun, gehe ich!“

Lange hielten die beiden sich umschlungen.

Endlich flüsterte sie ihm ins Ohr: „Bleib heute Abend da, Bert, mein liebster Bert! Wir wollen zusammen auf meinem Lager schlafen. Wenn wir uns nur lieb haben, können wir das alles überstehen!“

Norbert nickte. Aber in seinem Innern schwärte eine Wut, die er lange nicht mehr gespürt, die er längst vergessen geglaubt hatte.

***

Das Gerede über Wanda hörte nicht auf. Als der Zeitpunkt des Frühlingsopfers näher rückte, wurde es nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand gesagt. Die Männer bestätigten es einander offen, wenn die Vorbereitungen des Frühlingsopfers zur Sprache kamen.

„Sie ist ein Götterkind!“

Oliver und Grete verbargen sich in ihrer Hütte. Auch zur Feldarbeit ließ Oliver sich nicht mehr blicken. Aber es fragte auch niemand nach ihm oder Grete.

Bei den Feldnersohns versuchte Norbert ein paar Mal, das Thema anzusprechen, das ihm so ungeheuerlich vorkam. Aber jedes Mal verbot Björn ihm, darüber zu reden. Eine bedrückende Stille herrschte an diesen Abenden in Björn Feldnersohns Wohnküche, in der sonst auch in dieser Notzeit noch so häufig geplaudert und gesungen wurde.

„Es ist ein schlimmes Jahr,“ sagte Majas Großmutter dann mit ihrer brüchigen, drohend klingenden Stimme. „Wir müssen den Fluch lösen, mit dem die Götter uns belegt haben für unsere Sünden.“

Maja nahm Norbert bei diesen Worten fest an der Hand und sah ihn flehend an. Aber er spürte nur die Wut, die hinter seinen Augen brannte.

***

Es war drei Tage vor dem Frühlingsopfer, die Blumenkränze waren geflochten und von den wenigen Feldfrüchten, die die Hofgemeinschaft hatte, waren die besten beiseitegelegt. Norbert war zum Abendimbiss am Hof seines Vaters.

Mit nur ganz leicht zitternder Stimme erklärte Norberts Mutter: „Zum Frühlingsopfer geben wir die Wanda den Göttern zurück. Wir bringen sie der schwarzen Dame. Dann wird der Segen wiederkommen.“

Norbert hatte geahnt, dass es kommen würde. Insgeheim hatte er darauf gewartet. Obwohl sein Herz zu rasen begann, stand er auf. Alle starrten ihn an. Hans Lederer richtete sich ebenfalls auf, aber als Norbert ihm mit bleichem Gesicht in die Augen sah, schwieg er, anstatt zu tadeln. Norbert ging geradewegs auf den Vater zu. Seine Fäuste ballten sich von ganz allein.

Er wusste nicht, ob seine Stimme vor Angst oder vor Wut zitterte, als er hervorstieß: „Sag ihnen, dass es nicht geschehen wird!“

Leika versuchte, ihn festzuhalten, aber er wich ihr aus, ging bebend vor Wut und Angst auf den Vater zu.

„Sag ihnen, dass es nie, niemals geschehen wird! Wir geben die Wanda nicht der schwarzen Dame zu fressen!“

Er hörte die Mutter schreien, auch Lene schrie. Hans Lederer stand mühsam auf, als hätte er eine schwere Last zu tragen. Der Vater war über einen Kopf größer als sein fünfzehnjähriger Sohn.

„Norbert, setz dich hin. Iss dein Essen und halt den Mund.“ Es hörte sich müde an.

„Nein!“ schrie Norbert mit geballten Fäusten. „Nein, das lasse ich nicht zu! Sag ihnen, dass es Lüge ist! Die schwarze Dame ist ein...“

Mitten in das Durcheinander am Tisch brüllte der Vater: „Halt dein Maul!“

Es wurde schlagartig still. Nur Norberts heftiger Atem war in der Wohnküche zu hören. Alle waren aufgesprungen.

Mit zornesrotem Gesicht grollte Hans Lederer: „Komm vor die Tür, Norbert!“

Die Mutter weinte schluchzend. Leika versuchte, Norbert etwas zuzuflüstern, aber er hörte nicht hin. Sein Herz hämmerte. Ohne auf Norbert zu warten, stapfte der Vater zur Tür.

Ich bring ihn um! Oder er mich, ist mir egal. Ich mache das nicht mit!

„Bert, bleib hier,“ schrie Lene, als Norbert dem Vater vor die Tür folgte.

Der Vater stand mit dem Rücken zur Tür in der Dunkelheit. Er hatte den Kopf gesenkt. Norbert zog die Tür von außen zu und schritt mit rasendem Puls auf den Vater zu.

Soll er doch versuchen, mich umzubringen! Soll er doch!

Hans Lederer drehte sich zu seinem Sohn um. Norbert hob die Fäuste. Er hatte einen Knüppel, eine Waffe erwartet, aber die Hände des Vaters waren leer.

Statt mit der Faust zuzuschlagen, sagte Hans Lederer: „Norbert, nimm Vernunft an!“

Norbert wollte ihn anschreien, aber der Vater befahl: „Hör mir zu!“

Norbert senkte schwer atmend die Fäuste.

„Du weißt, dass Gretes Kind krank ist. Vielleicht würde es kein Jahr alt werden. Selbst wenn es das siebente Lebensjahr überlebte, es würde ein Krüppel, eine Schwachsinnige. Wir können keine Kranken und Krüppel durchfüttern, Norbert! Du weißt das genauso gut wie alle im Dorf!“

Keuchend starrte Norbert seinen Vater an. „Das ist noch lange kein Grund, sie...“

Der Vater fiel ihm ins Wort. „Sie brauchen etwas, woran sie glauben können, Norbert. Etwas, was ihnen Mut macht, durchzuhalten. In dem Jahr, in dem du geboren wurdest, hatten wir eine Notzeit ähnlich der diesjährigen. Damals gab die Dorfgemeinschaft den lebensunfähigen Säugling der Gerlinde Hüttner an die Götter zurück. Der Segen stellte sich ein. Deine Mutter hätte dich nicht durchgebracht ohne den Erntereichtum dieses Jahres. Die Opfer sind nicht unnütz, Norbert!“

Norbert spürte eine eisige Klaue nach seinem Herzen greifen. Die Wut wich einer Kälte, in der die Worte des Vaters und alle Dinge rings umher glasklar hervortraten. Norbert begriff, was er zu tun hatte.

„Du wirst nach mir die Siedlung leiten,“ fuhr der Vater fort. „Es wird Zeit, dass du vernünftig wirst.“

Ohne ein weiteres Wort ließ er Norbert stehen und betrat das Haus.

Norbert folgte dem Vater stumm in die Wohnküche. Er ertrug die Umarmungen seiner weinenden Schwester ohne eine Regung, machte sich von ihr los, aß seine Schale leer, ging zu seiner Schlafstatt und legte sich lang. Er blieb auf dem Lager liegen, während die anderen sich um die Herdstelle setzten. Es wurde nichts gesprochen an diesem Abend an Hans Lederers Hof. Nur Hanna weinte leise auf Margits Schoß.

In dieser Nacht träumte Norbert von dem Mädchen am Brunnen. Reglos, mit nassem Haar stand sie in der Finsternis und blickte mit dunklen Augen zu ihm herüber.

***

Anderntags ging Norbert zur Arbeit an Björn Feldnersohns Hof wie alle Tage. Maja blickte ihn erschreckt an, als sie seine Miene sah, aber Norbert ging sofort an die Arbeit, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. Er mistete den Schweinestall aus, dann ging er hinauf in den Wald, um die Kaninchenfallen zu kontrollieren. Am frühen Nachmittag ging er zum Hof seines Vaters zurück. In der Wohnküche traf er niemanden an. Norbert holte den Bogen, den Köcher mit den Pfeilen, sein Messer und die Fußleder unter dem Lager hervor und wickelte sie in seinen Filzumhang. Dann schlich er zur Herdstelle. Mit angehaltenem Atem starrte er zur Tür und lauschte. Es waren keine Schritte vor der Haustür zu vernehmen. Rasch langte er nach dem Feuereisen und einem Feuerstein und ließ beides zusammen mit einem Büschel Wolle in seiner Hosentasche verschwinden. Er spähte zur Haustür hinaus – es war niemand zu sehen. Norbert schlich sich vom Hof und verbarg sein Bündel in Kurt Morgners Scheune. Den Rest des Tages spaltete er Holz hinter dem Haus der Feldnersohns und schichtete es auf.

Maja kam, ihn zum Abendimbiss abzuholen. Stumm blickte er ihr entgegen. Sie nahm ihn an den Händen.

„Du bist so blass. Was ist passiert?“

„Ich gehe. Ich gehe weg von hier - nach Altenweil.“

Maja wurde bleich. Sie suchte seinen Blick, aber Norbert wandte sich von ihr ab.

„Ich werfe doch der Dämonin in der schwarzen Grotte nicht Gretes Säugling zum Fraß vor. Von dem Zauberer in Altenweil kann ich lernen, die Dämonen zu besiegen. Und dann komme ich wieder und töte sie.“

 

Verzweifelt zog Maja ihn an sich.

„ Bert, du darfst nicht gehen! Dein Vater bringt dich um!“

„Nicht, wenn du es niemandem verrätst.“

Sie klammerte sich an ihn, fuhr ihm mit ihren schmalen Händen über die Brust, Schultern und Wangen.

„Liebster, bitte, bleib! Bleib bei mir. Wir haben uns doch versprochen...“

Wild sah er sie an.

„Komm mit mir, Maja!“

Aber sie schüttelte nur schluchzend den Kopf. Norbert machte sich von ihr los. Er sah sie nicht an, während er vom Haus wegging.

„Bert! Ich liebe dich! Bitte, Bert, bleib hier!“ weinte sie ihm hinterher.

Er blickte sich nicht mehr nach ihr um.

***

Norbert verbrachte die Nacht in Kurt Morgners Scheune, weil er befürchtete, im Heuschober seines Vaters könnte er von Lene und Roderig überrascht werden. Er wusste, dass Björn Feldnersohns Hofgemeinschaft glauben würde, er übernachte bei seiner Familie. Und dort würden sie meinen, er sei bei den Feldnersohns, bei Maja.

Majas Weinen klang ihm im Ohr. Er hatte den Geruch ihres Kleids in der Nase. In seinem Magen rumorte der Hunger. Norbert wälzte sich auf seinem Lager aus leeren Getreidesäcken hin und her, aber je mehr er versuchte, die Gedanken an Maja zu verscheuchen, um so stärker wurden sie. Er zwang sich, nicht von seinem einmal gefassten Entschluss abzugehen. Die ganze Nacht über hörte er draußen in der Finsternis die Wölfin heulen.

Als er den Morgen nahe glaubte, tastete er im Dunkeln nach seinem Bündel, schnürte sich die Ledersohlen unter die Fußlappen, hüllte sich in den Filzumhang und hängte den Köcher um. Die Bogensehnen steckte er sich unter die Hemdjacke, das Messer klemmte er in den Hosenstrick. Er nahm seinen Bogen und schlich aus der Scheune.

Die Nachtluft war kalt und feucht. Der Mond stand weit im Westen hinter einer dünnen Wolkenschicht. Er war von einem orangeroten Hof umgeben. Der Felsenwald jenseits der Äcker lag in Nachtschwärze verborgen. Vom Fluss her stiegen Frühnebel auf. Sie schimmerten geisterhaft im Dämmerlicht des untergehenden Monds. Unter mehreren Strohdächern quoll der Rauch soeben entfachter Herdfeuer hervor.

Norbert schlich geduckt durch die Siedlung und hastete zum Fluss hinunter. Außer Atem blickte er sich um. Noch war keine Menschenseele zwischen den Hütten zu sehen. Norbert zwang sich, ruhig zu atmen. Er schlug den Weg flussaufwärts durch die feuchte Flussaue ein. Noch einmal blickte er sich zur Siedlung um. Zwischen treibenden Nebelschwaden erhaschte er einen Blick auf die Hütten Wildenbruchs. Er spürte keine Wehmut, aus dem Dorf seiner Kindheit, von Maja, seiner Jugendliebe, wegzugehen. Wenn er überhaupt etwas empfand außer der Angst, im letzten Moment entdeckt zu werden, dann war es bittere Enttäuschung. Er wunderte sich darüber. Er dachte, er würde mit den Tränen zu kämpfen haben. Aber da war nur die dumpfe Wut, die ihn begleitet hatte, so lange er denken konnte. Und ein jagendes, überschäumendes Gefühl, das ihm neu war: das Gefühl, frei zu sein, zu gehen, wohin er wollte.

Er ließ die Auenniederung hinter sich und folgte dem überwucherten Pfad durch das Buschwerk unterhalb der noch im Dunklen liegenden Elbenruinen. Auf dem Pfad standen zwei hochgewachsene Gestalten. Er sah ihre ernsten, blassen Mienen, umgeben vom langen, blonden Elbenhaar. Sie hatten keine Waffen in den Händen. Schweigend traten sie zur Seite. Norbert ging keine drei Schritt entfernt an ihnen vorbei. Hinter ihnen glühte der ferne, blaue Horizont jener anderen Welt.

Sie wissen, dass ich gehe, um sie zu rächen. Sie und die Smeta – und die kleine Wanda! Und das Mädchen am Brunnen.

Norbert erreichte das Steilufer des Flusses. Nach einem Dutzend Schritten flussaufwärts blieb er stehen und wandte sich zur Elbensiedlung um. Die Geistergestalten waren verschwunden. Zügig folgte er dem kaum auszumachenden Pfad das Flussufer entlang. Über den Baumkronen am gegenüberliegenden Flussufer erwachte eine erste Ahnung des Morgenrots.