Blaues Feuer

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5.

II. Teil

Markgrafenstadt Altenweil

5.

Trotz der Ledersohlen waren Norberts Fußlappen auf dem überwucherten, taufeuchten Pfad bald von Nässe durchtränkt. Er hatte Hunger und fror erbärmlich. Norbert schlang den Filzumhang fest um sich. Trotz des Schwächegefühls, das der Hunger ihm verursachte, schritt er zügig aus. Immer wieder blickte er sich um. Wenn Maja sich doch verplappert hatte... Bestimmt hatte sie es nicht geschafft, in der Familie ihre Tränen zurückzuhalten. Die Mutter würde sie gedrängt haben, alles zu erzählen. Wenn ihre Mutter es nicht ohnehin erriet. Am Ende war der Vater ihm bereits auf den Fersen.

Maja. Immerzu musste er daran denken, wie sie geweint hatte, als er gegangen war, ohne sich auch nur von ihr zu verabschieden. Er ärgerte sich darüber und er hasste dieses verdächtige Druckgefühl hinter seinen Augen. Trotzig wischte er sich Tränen von der Wange. Sie hätte mitkommen können. Sie hätten zusammen nach Altenweil gehen können. Es war nicht seine Schuld.

Ich bin nicht traurig! Bloß enttäuscht. Auch von ihr. Gerade von ihr. Ich bin frei. Ich kann gehen, wohin ich will!

Über dem jenseitigen Flussufer glühte ein trübes Morgenrot am verhangenen Himmel. Frierend und hungrig stapfte Norbert den dunklen Fluss entlang.

***

Der Tag brachte Nebel und Nieselregen. Norbert wanderte, wieder und wieder zusammenschreckend, wenn er glaubte, in seinem Rücken das Knacken von Zweigen oder Schritte zu hören. Am frühen Nachmittag konnte er nicht mehr weiter. Hunger und Erschöpfung siegten über seine Angst. Er stieg hinauf auf die Uferböschung, setzte sich zwischen die Wurzeln einer alten Buche, wo der Boden nicht ganz so feucht war, und lehnte sich gegen den Buchenstamm. Müdigkeit überkam ihn. Er wollte sich zwingen, die Augen offen zu halten und wachsam zu bleiben, aber der Schlaf übermannte ihn.

Als er erwachte, dämmerte es. Der Regen hatte aufgehört, aber Norberts Kleider waren klamm und kalt. Er zitterte vor Kälte und Hunger. Norbert hatte keine Ahnung, ob es Abend war oder bereits der Anbruch des folgenden Tages. Mühsam raffte er sich auf. Unter seinem Hemd holte er die Bogensehnen hervor. Er schickte ein Dankgebet zu seinem Stern, als er feststellte, dass sie trocken geblieben waren. Sofort ärgerte er sich darüber.

Ich will an keine Ammenmärchen glauben.

Mit klammen Fingern spannte er den Bogen auf und machte sich auf die Suche nach Wildfährten oder Losungen. Das Glück war auf seiner Seite und er musste nicht lange suchen. Oder war es sein Stern, der ihm hold war?

Dummer Aberglaube!

Aber er dankte seinem Stern doch noch einmal für die frische Fährte. Sicherheitshalber.

Zwei Stunden später hatte er am Rand einer Waldlichtung eine junge Rehkuh erlegt und bahnte sich mit seiner Beute einen Weg durch den nächtlichen Wald zurück ans Flussufer. Blasses Mondlicht schien durch die Wolken und half ihm, sich zu orientieren. Hundert Schritt ab von der Uferböschung klaubte er mit von Kälte steifen Fingern zusammen, was er an halbwegs trockenem Laub, Zweigen und Bruchholz finden konnte. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm, ein Feuer zu entfachen. Das Reh aufzubrechen ging beinahe über seine Kräfte. Er hängte Fleischstreifen übers Feuer und verschlang sie halb roh.

Es war lange nach Mitternacht und der Mond stand hell im Westen, als er seine Jagdbeute an einen Baumast hängte und sich zum Schlafen in den Filzumhang wickelte. Ein warmes Gefühl breitete sich vom Magen her in seine Glieder aus. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er sich satt gegessen.

Norbert war dabei, in den Schlaf zu sinken, als ein Geräusch in unmittelbarer Nähe ihn aufschrecken ließ. Er fuhr hoch. Seine Hand tastete nach dem Messer. In einem Augenblick hatte er es alles vor Augen: den Vater mit dem Handbeil oder dem Dolch in der Faust, vielleicht weitere Männer mit Äxten und Schlachtmessern... Er nahm eine Bewegung im Augenwinkel wahr und fuhr herum. Es war nicht der Vater. Drei Schritt ab saß die Wölfin auf ihren Hinterläufen und fixierte ihn.

„Oh, du!“

Ein Schauer der Erleichterung durchrieselte Norbert. Er wusste nicht, ob er noch wachte oder bereits träumte.

„Wolfsmädchen! Wie heißt du?“

Die Wölfin blickte ihn mit gelben Augen an. Sie legte den Kopf auf die Vorderläufe, richtete die Ohren auf Norbert und betrachtete ihn ohne zu blinzeln.

***

Erst am hellen Vormittag wachte Norbert auf. Das erste, was er tat, war, auf der Uferböschung nach Spuren von Verfolgern zu suchen. Wenn sein Vater ihm gefolgt war, musste er hier längst vorbeigekommen sein. Der Vater konnte keine Spuren lesen, deshalb würde er nicht bemerkt haben, dass Norbert den Uferpfad verlassen hatte. Kaum jemand im Dorf außer Björn Feldnersohn konnte gut genug Spuren lesen, um das festzustellen. Aber Norbert war überzeugt, dass Björn Feldnersohn ihm nicht auf den Fersen war. Majas Vater war kein Mörder.

Es gab keine Spuren. Norbert stieg zum Ufer hinab, spülte mit eiskaltem Flusswasser sein Gesicht ab und wusch sich verkrustetes Blut von den Händen. Sonnenlicht funkelte auf dem Fluss. Norbert lehnte sich gegen die steile Böschung und ließ sein Gesicht von der Sonne trocknen. Er begriff nicht, warum sie ihn nicht verfolgten. Aber letzten Endes konnte es ihm egal sein. Die Siedlung war ihm egal. Maja war ihm egal, redete er sich ein. Oder zumindest versuchte er, es sich einzureden. Er war frei. Das allein zählte.

Er ging zu seinem Lagerplatz zurück, verscheuchte die Krähen von der Jagdbeute, entfachte ein Feuer und briet Fleisch, um sich für den Tagesmarsch zu stärken. Er hatte nichts, worin er den noch immer beträchtlichen Rest des Wildbrets einwickeln konnte. Das abgehäutete, blutige Fell war hart und unbrauchbar. Einen Steinwurf entfernt standen Birken. Mit dem Messer schälte Norbert breite Streifen Birkenrinde von einem Stamm, rollte die Fleischteile, die er mitnehmen wollte, darin ein, klemmte sie sich unter den Arm und machte sich auf den Weg.

Vor acht Jahren war Norbert den Weg nach Altenweil mit dem Vater gegangen. Er erinnerte sich gut an die Stelle, an der die Gorn in steilen Kaskaden aus dem Gebirge herabstürzte. Die Wegstrecke kam Norbert kürzer vor, als er sie in Erinnerung hatte. Er erstieg die Hügelkette am Flussufer und suchte nach dem Einstieg in das enge Tal, durch welches der Vater und er damals aus den Hügeln nach Westen herabgestiegen waren und den Gornwald verlassen hatten. Schließlich entschied er sich für ein von alten Föhren bestandenes, von einem Bach durchzogenes Tal und folgte ihm talabwärts, bis er den Wald jenseits der Hügel erreichte. Einige Zeit später fand er einen Pfad, der vielleicht derjenige war, der aus dem Wald nach Köhlershofen führte. Er folgte dem Pfad durch hohen Fichtenwald. Am späten Nachmittag traf er auf einen Rehwechsel. Er ging noch eine Viertelstunde weiter, suchte sich einen Rastplatz für die Nacht, machte Feuer und briet das mitgebrachte Fleisch.

Nach den Monaten, die er Hunger gelitten hatte, kam Norbert sich vor wie ein Fürst, sich zweimal am Tag an Wildbret satt essen zu können.

Oder wie ein freier Abenteurer, der an keine Siedlergesetze gebunden ist und keinem Herrn oder König dient!

Hatte Vater nicht auf der Reise vor acht Jahren über diese Abenteurer geflucht? Wider Willen musste Norbert an Wildenbruch denken. Ein weiteres schlimmes Jahr würde die Siedlung nicht verkraften. Wenn die Ernte dieses Jahr wieder karg ausfiel oder eine Krankheit noch die letzten Tiere sterben ließ, würde der Hunger sie alle dahinraffen. Norbert unterdrückte ein Schaudern. Maja hätte mitkommen sollen. Er verstand nicht, warum ihre Familie und die grausamen Sitten des Dorfs ihr wichtiger waren, als frei zu sein, nein sagen zu können, wenn einem etwas nicht passte und zu gehen, wann und wohin man wollte.

Ich werde mich niemals binden, dachte Norbert. Ich will immer so frei sein wie jetzt.

Weit weg in den Hügeln heulte ein Wolf. Norbert war so in Gedanken versunken, dass er es nicht bewusst wahrnahm.

***

Mit Einbruch der Dämmerung legte Norbert sich schlafen. Noch vor der letzten Nachtstunde stand er auf, aß die gegrillten Fleischstreifen, die er sich vom am Abend aufgehoben hatte, spannte im Sternenlicht zwischen den Schatten der Bäume seinen Bogen auf und schlich den Pfad zurück bis zu der Stelle, an der er den Rehwechsel entdeckt hatte. Hier legte er sich auf die Lauer. Das Jagdglück verließ ihn nicht. In der Morgendämmerung schoss er einen Rehbock. Er brach ihn an Ort und Stelle auf, legte sich das ausgeweidete Tier über die Schultern und machte sich den Pfad entlang in westlicher Richtung auf den Weg.

Die Ebene lag in hellem Sonnenlicht, als Norbert am frühen Vormittag aus dem Wald herauskam. Wie vor acht Jahren raubte ihm der Anblick der Weite den Atem. Der Pfad schlängelte sich zwischen von Hecken umgebenen Äckern, Brachland und umzäunten Weiden hindurch. Norbert klopfte das Herz, während er mit seiner Jagdbeute auf den Schultern einen Feldrand entlangging. Er musste blinzeln in der hellen Sonne. Der Gornwald lag hinter ihm. Er war frei.

Bei einer Kate fragte er nach dem Weg nach Köhlershofen. Die Kätnerin scheuchte die Hühner davon, die Norbert um die Beine rannten und erklärte ihm die Richtung, in die er gehen musste. Warum sah die Frau ihn so seltsam an, wunderte sich Norbert. Die Kätnerin trug ihr graues Haar unordentlich zusammengebunden. Ihr Kleid war geflickt und lumpig. Sie war barfuß. Die Augen in dem wettergebräunten Gesicht betrachteten Norbert mit einer Mischung aus Abscheu und verhaltener Bewunderung.

 

Am späten Vormittag erreichte Norbert Köhlershofen. Der Flecken kam ihm kleiner und noch ärmlicher vor, als er ihn in Erinnerung hatte. Die Herberge gab es noch. Tische und Bänke vor dem Anbau für die Einkehrer waren durch andere ersetzt worden. Sie waren leer. Auch der Brunnen stand noch. Zwei Frauen am Brunnen unterbrachen ihr Gespräch, als Norbert an ihnen vorbeikam und starrten ihm nach, als wäre er ein Aussätziger. Er schluckte seinen Ärger hinunter und klopfte an der Tür der Herbergseltern, wie sein Vater es vor acht Jahren getan hatte.

Er erkannte die Schankmagd wieder. Sie wurde blass, als sie ihn sah und rief etwas in die Hütte hinein. Die Wirtin kam an die Tür. Sie war älter geworden. Ihre Schürze und ihr Kleid waren schäbig und ihre Holzpantinen schlammverkrustet. Sie schleuderte Norbert einen Blick entgegen, als sei er ein Wegelagerer.

Hastig, bevor sie womöglich noch zu zetern anfing, erklärte er: „Ich will dir das Wildbret verkaufen. Für deine Herbergsgäste.“

Mit zornrotem Gesicht zerrte sie ihn ins Haus und schlug die Tür von innen zu. Norbert begriff nicht, was in die Leute gefahren war.

„Am helllichten Tag!“ schimpfte die Wirtin ihn aus. „Bist du lebensmüde und willst am nächsten Baumast hängen, oder glaubst du wir sind‘s?“

Norbert begriff gar nichts. Sprachlos starrte er die Wirtsfrau an.

„Du kannst von Glück reden, dass keine Kriegsknechte aus Altenweil da sind! Erst letzte Woche haben sie einen von euch aufgehängt, drüben in Mühlbach. Aber frag mich nicht, was sie vorher erst noch mit dem armen Teufel gemacht haben!“

Norbert war fassungslos. „Ich bin Siedler, kein Wilddieb! Siedlern ist das Jagen vom Kaiser erlaubt.“

Er sah an ihrem Blick, dass sie ihm kein Wort glaubte. Die Wirtin ging zum Küchentisch, den die Magd hastig freiräumte, und winkte Norbert heran.

„Leg deine Beute da ab. Ich geb‘ dir dreißig Kupferkreuzer für den Bock.“

„Aber ich bin wirklich kein Wilddieb!“

Ihr geringschätziger Blick war beinahe mitleidig, als sie Norbert die Münzen in die Hand zählte.

„Bist nicht von hier, junger Bursche, was? Denkst wohl, die Schergen des Markgrafen würden dir zuhören? Ebenso gut kannst du denen erzählen, du seist der weiße Hirsch auf der Suche nach der heiligen Jungfrau. Die zertrümmern dir sämtliche Knochen im Leib und hängen dich auf, ehe du begreifst, wie dir geschieht. Siedler! Das glaubt dir doch nicht mal deine eigene Großmutter! Willst du was essen? Ich mach Bohneneintopf mit Schweinebauch. Ne‘ Stunde, dann ist‘s fertig.“

Norbert schüttelte den Kopf, obwohl ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er war wütend und die Erwähnung seiner Großmutter hatte ihn beleidigt.

„Ich will heute noch nach Altenweil.“

Sie sah ihm nach, als er zur Tür hinausging, wie einem Schwachsinnigen.

***

Nachdem er zwei Stunden die Landstraße entlanggewandert war, begann Norbert sich zu ärgern, dass er das Angebot der Wirtin, zum Essen zu bleiben, nicht angenommen hatte. Er hatte Hunger und fror. Der Himmel war wolkenlos, aber die Sonne wärmte kaum. Durch die kahlen Hecken längs der Landstraße und pfiff scharfer Wind. Er fuhr Norbert durch die Kleidung. Auf den kleinen Äckern spross junges Grün.

An einem Bach, der sich zwischen Haselsträuchern hindurch wand, knarrte ein Wasserrad. Verdutzt beobachtete Norbert, wie das Wasser sich aus dem Schaufelrad in eine hölzerne Rinne ergoss und über kleine Kanäle auf die umliegenden Felder geleitet wurde. Beinahe wurde ihm schwindlig, als er die Konstruktion begriff. Es sah so einfach aus: Auf ebensolche Weise könnte man die Felder oberhalb Wildenbruchs bewässern. Es gab überhaupt keinen Grund, die Ernte vertrocknen zu lassen!

Wie vor den Kopf geschlagen setzte sich Norbert auf einen Feldstein und betrachtete das karrende Wasserrad. Er musste an Maja denken. Mit einem Mal kamen die Wildenbrucher ihm vor, wie von einer unsichtbaren Krankheit geschlagen. Was machte ihnen diese Angst vor jeder Neuerung, dass sie so verbissen festhielten an ihren überkommenen Gebräuchen?

Es sind die Dämonen – der Gornwald hat sie im Bann.

Eben darum ging Norbert zu dem Gelehrten, den sein Vater Dreyfuß genannt hatte. Er würde lernen, die Dämonen zu besiegen. Norbert stand auf und ging weiter. Er schritt zügig aus. Kälte und Hunger störten ihn nicht mehr.

***

Er begegnete kaum jemandem auf der Landstraße. Ein Bauer, der mit der Hacke über der Schulter von der Feldarbeit heimging, trat an den Wegrand und warf Norbert feindselige Blicke zu. Eine Alte mit einer Kiepe auf dem Rücken blickte ihn erschreckt und neugierig an. Sie machte einen ungeschickten Knicks und murmelte einen Gruß. Beinahe hätte Norbert sie gefragt, was an ihm denn so besonderes wäre, dass ihn alle, denen er begegnete, anstarrten. Aber er ließ es doch lieber sein. Die Menschen in der Zivilisation waren seltsam. Das hatte er schon auf seiner ersten Reise vor acht Jahren festgestellt.

Als Norbert die Stadt auf der Anhöhe sichtete, war er enttäuscht. Er hatte Altenweil mit der Felsenburg größer und düsterer in Erinnerung. Die schiefen, rotbraunen und grauen Dächer hinter den Stadtmauern machten im hellen Licht der Nachmittagssonne beinahe einen heiteren Eindruck. Es war kein Vergleich mit der gewaltigen Stadt im Schatten des Burgfelsens vor der roten Abendsonne, die er in Erinnerung hatte.

Im Stadttor warteten knapp ein Dutzend Bauern und Krämer darauf, ihr Torgeld zu bezahlen und durchgelassen zu werden. Die Wachleute hatten ihre Piken an die Mauer neben die Tür zur Wachkammer gelehnt. Es waren große, bärtige Burschen in schäbigen Lederrüstungen. Missgelaunt stöberten sie in Kiepen, Körben und Säcken und ließen sich das Torgeld in die schwieligen Hände zahlen.

Norbert trat mit knurrendem Magen in den Tordurchgang. Er träumte von einer warmen Mahlzeit in einem Gasthof. Die Wartenden wichen vor ihm zur Seite. Entsetzte Blicke richteten sich auf ihn. Eine Bäuerin erstickte einen Aufschrei hinter vorgehaltener Hand. Verständnislos sah Norbert sich um. Der Kriegsknecht, der ihm am nächsten stand, wandte sich gelangweilt zu ihm um. Sein Blick fiel auf Norbert und er erstarrte zur Salzsäule. Norbert schritt auf den großen Mann zu. Scharfer Schweiß- und Biergeruch umgab den Torknecht.

„Ich bin Siedler. Ich brauche kein Torgeld zu bezahlen.“

Eisige Stille im Tordurchgang. Alle starrten Norbert an. Er begriff noch immer nicht. Ungeduldig wartete er darauf, durchgelassen zu werden. Erst, als die Kriegsknechte sich einer nach dem anderen um ihn herum aufbauten, begann er zu ahnen, dass etwas nicht stimmte.

„Ich bin aus Wildenbruch,“ erklärte er, mit einem Mal verunsichert. „Ich will zu dem Gelehrten Dreyfuß.“

Der Torknecht vor ihm holte Luft. „So eine unglaubliche Frechheit! Siedler! Haben sie dir den Schädel eingeschlagen, das Gehirn geklaut und Scheiße reingefüllt? Verpiss dich! Aber Hopp! Glaubst du, wir lassen uns verarschen?“

Norbert war sprachlos. Dann packte ihn die Wut.

„Aber ich bin wirklich Siedler! Mein Vater...“

Weiter kam er nicht. Eiserne Fäuste packten ihn und stießen ihn in die Wachkammer. Die Torknechte drückten ihn auf eine Bank. Norbert wollte protestieren, aber unter den mordlüsternen Blicken der Wachmänner blieb ihm der Empörungsschrei im Hals stecken. Hastig blickte er sich zum Ausgang um. Die großen Kerle umringten ihn. Entkommen war unmöglich. Der Torknecht deutete auf Norberts Jagdbogen.

„Was ist das da?“

Das Herz rutschte Norbert in die Hose.

„Uns Siedlern ist das Jagen vom Kaiser erlaubt.“

Es klang nicht sehr selbstbewusst. Der Torknecht schlug mit der Faust in seine hohle Hand. Seine Gesichtszüge wurden brutal.

„Sag nochmal du bist Siedler und ich schlag dir die Fresse ein.“

„Schlag sie ihm ein! Egal, was er sagt!“ brüllte ein anderer.

Norbert starrte auf die geballte Faust. Ihm fiel ein, was die Köhlershofener Wirtin über Wilddiebe gesagt hatte, die den Kriegsknechten in die Hände fielen. Zu spät begriff er seine ahnungslose Dummheit. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht. Der Wachmann vor ihm stellte keine Fragen mehr. Seine Visage zeigte keine menschlichen Regungen. Noch einmal schlug er sich in die Handfläche, wie um seine Kraft zu testen. Dann holte er aus. Norbert presste die Augen zu.

„Keiner fasst ihn an!“ befahl eine tiefe Stimme.

Der Torknecht ließ die Faust sinken.

„Oh Scheiße, Wolfart, du Wichser!“ brüllte er zornrot.

Der Mann, der sich durch die Umstehenden hindurchdrängte, unterschied sich in nichts von den anderen Torknechten.

Seine Stimme war ruhig: „Sag das nochmal, und ich lass dich Spießruten laufen, Basse.“

Der Torknecht brüllte zurück: „Verdammter Dreckmist, der Scheißkerl da ist uns im Tor direkt vor die Füße gelatscht. Alle Wilderer lynchen, Befehl vom Markgraf! Was willst du, Papi?“

Der Angebrüllte blieb unbeeindruckt.

„Wir haben Freischärler in der Stadt. Ich will keinen Ärger.“

Unzufriedenes Murren unter den Wachmännern.

Der Kerl mit den riesigen Fäusten knurrte: „Wir erdrosseln ihn hier drinnen. Das kriegt kein Schwein mit.“

„Alle im Tor haben gesehen, dass ihr ihn hier reingeschleppt habt. Wenn er zu den Freischärlern gehört, ist hier heute Abend die Hölle los.“

Ein Funken Hoffnung regte sich weit hinten in Norberts von Todesangst gelähmtem Bewusstsein.

„Der da? Das is‘ kein Abenteurer,“ protestierte ein anderer Mann. „Das is‘ ‘n Betteljunge, ‘n elender Wilderer, sonst nichts!“

Der Wachhauptmann blieb eisern.

„Wenn die Freischärler es mitbekommen, könnt ihr Gift drauf nehmen, dass es dreckiges Theater gibt. Ihr wisst, was sie gestern Nacht auf der Burg angestellt haben. Ich will keinen von euch verlieren. Der da wird in die Stadt gelassen. Mir scheißegal, wo er vorher gewildert hat.“

Norbert schloss die Augen und versuchte, seinen flatternden Atem zu beruhigen.

***

Der Wachhauptmann packte Norbert am Arm und zerrte ihn zwischen den Kriegsknechten hindurch zur Tür. Einer spuckte Norbert ins Gesicht. Norbert stolperte hinter dem Wachhauptmann her durchs Stadttor. Er taumelte, als der Hauptmann ihn in die Gasse stieß.

„Hau ab zu deinen Freunden. Wir haben dir kein Haar gekrümmt! Sag ihnen das.“

Norbert nickte, obwohl er keine Freunde in Altenweil hatte. Gestank von faulem Gemüse und Unrat trat ihm in die Nase. Er traute sich nicht, sich die Spucke aus dem Gesicht zu wischen, solange der Hauptmann vor ihm stand. Der Wachhauptmann hielt ihm seinen Bogen vor die Nase, den Norbert in der Wachstube liegen lassen hatte. Hastig nahm er den Bogen, drehte sich um und stolperte die Gasse hinauf. Weg vom Tor, weg von den Torknechten und ihrer Kammer, in der sie schon wer weiß wie viele Reisende totgefoltert hatten, deren Gesichter ihnen nicht passten. In seiner Todesangst hatte er kaum etwas wahrgenommen, aber er hatte die Anwesenheit von Totengeistern gespürt.

Er lief in die Stadt hinein zwischen Handkarren hindurch, drängte sich an den Auslagen kleiner Läden vorbei, den Blick aufs Pflaster gerichtet, niemanden anschauend. Mit dem Ärmel wischte er sich die Spucke aus dem Gesicht.

Vielleicht überlegen sie es sich anders und sind hinter mir her.

Am liebsten wäre er gerannt. Aber die Gasse war zu voll.

Nach und nach wurden die Gedankenfetzen, die ihm durch den Kopf jagten, wieder zu halbwegs klaren Gedanken. Sein Puls raste immer noch. Bei einer Seitengasse voller Fliegen, in der Schweinehälften und Schinken vor Fleischerläden aushingen, blieb er stehen und blickte sich um. Männer und Frauen in grober, ungefärbter Kleidung trugen Körbe oder Kiepen an ihm vorbei. Niemand achtete auf ihn. Norbert hatte mit entsetzten oder wütenden Blicken gerechnet, wie sie ihm überall außerhalb der Stadt begegnet waren. Doch hier schien sich niemand an ihm zu stören. An der Ecke standen zwei Kriegsknechte mit langen Piken. Auch sie beachteten ihn nicht.

Es dauerte eine Weile, bis er den Mut aufbrachte, eine Korbhändlerin nach dem Turm des Gelehrten Dreyfuß zu fragen. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Frau ihm den Weg erklärte, verblüffte ihn. Er hatte Misstrauen erwartet gegenüber einem der Wilderei Verdächtigen, der auf kurz oder lang in Altenweil nicht geduldet werden würde. Norbert spürte seinen Hunger wieder, aber er wollte in kein Gasthaus gehen, sich an keinen Marktstand setzen. In Sicherheit würde er erst sein, wenn er als Dreyfuß‘ Lehrling ein Daseinsrecht in dieser Stadt hatte, von der er vergessen hatte, wie sehr er sie hasste. Nach der Erfahrung im Stadttor mehr hasste, denn je.

 

Er musste noch zweimal nach dem Weg fragen, bevor er die schmale, vom Gestank faulender Küchenabfälle durchzogene Gasse fand, an deren höchster Stelle sich der Wohnturm des Anton Dreyfuß drei Stockwerke hoch über die Hausdächer erhob. Beinahe kam Norbert die Gasse noch enger vor als bei seinem letzten Besuch in Altenweil. Ratten huschten um seine Füße, als er über das schmutzige Pflaster dem seltsam schiefen Turm entgegen stieg. Norbert kniff die Augen zusammen. Der Turm stand nicht schief. Aber neben den Turm vor seinen Augen schob sich schräg das Bild eines anderen Turms, bei dessen Anblick sich Norberts Nackenhaare kräuselten. Er sah genauso aus wie echte Turm, nur unwirklicher, dunkler, drohender. Es war dieses Doppelbild, welches den Eindruck erweckte, der Turm stünde unmöglich schief.

Mit pochendem Herzen ging Norbert die Stufen zur Turmpforte hinauf, an der über dem Türklopfer das vergilbte Pergament mit den Schriftzeichen hing. Er musste ein paar Mal Luft holen, bevor er anklopfte. Erst nach dem zweiten Klopfen wurde die Tür geöffnet. Der Pförtner, oder wer auch immer es war, der die Pforte aufriss, musterte Norbert aus bösen kleinen Augen. Der stiernackige Kerl war einen halben Kopf kleiner, aber dem Aussehen nach deutlich kräftiger als Norbert. Eine breite Nase ragte aus seinem von wildem schwarzen Haar und Bart umrahmten Gesicht. Er trug Lederhosen, Lederstiefel und eine schmutzige Wolljacke.

„Was ist das? Willst du uns einen Streich spielen mit deinem Gehämmer an der Tür?“

Die Stimme des Pförtners klang heiser und kratzig.

Hastig erklärte Norbert: „Ich bin Norbert, Hans Lederers Sohn aus Wildenbruch. Mein Vater verkauft dem Anton Dreyfuß immer Elbenholz, wenn er nach Altenweil kommt. Ich...“

„Wenn du betteln willst,“ schnitt ihm der Pförtner das Wort ab, „dann geh zum Kloster. Dort haben sie eine Armenküche. Mach, dass du fort kommst!“

„Aber ich will bei Dreyfuß in die Lehre gehen,“ protestierte Norbert.

Krachend schlug die Tür zu.

„Hör mir doch wenigstens zu!“

Norbert pochte verzweifelt. Wieder riss der untersetzte bärtige Kerl die Tür auf.

„Was willst du, Betteljunge?“ donnerte er Norbert an.

Vor Schreck stolperte Norbert eine Stufe rückwärts.

„Ich habe die Gabe,“ stotterte er hastig. „Ich kann Geister sehen. Bitte, ich möchte bei Anton Dreyfuß in die Lehre gehen.“

Der Pförtner musterte ihn mit seinen stechenden kleinen Augen. Sein Gesicht verzog sich zu einer bösen Grimasse.

„Lumpengesindel! Geh woanders betteln!“

Die Tür schlug zu. Norbert konnte pochen und rufen, so viel er wollte, sie wurde nicht mehr geöffnet.

Er saß auf den Stufen zur Pforte, bis Hunger die Leere in seinem Kopf zurückdrängte. Er erinnerte sich an die dreißig Kreuzer in seiner Hosentasche. Mühsam stand Norbert auf. Hinter den Augen und in der Brust spürte er heftigen, dumpfen Schmerz. Das Gehen viel ihm unendlich schwer.

Wohin jetzt? Stern meiner Geburt, was jetzt?

***

Auf dem Markt herrschte Gedränge. Norbert wanderte wie betäubt zwischen Städterinnen in weichen Kleidern mit Kopfhaube und in Holzpantinen, Bauern in geflickten Kitteln und Reisenden mit langen Umhängen, hohen Stiefeln und Schwertern an der Seite hindurch. Das Geschrei der Marktleute drang wie aus weiter Ferne an ihm heran. Ein einziger Gedanke zirkulierte in seinem Kopf.

Was mache ich nur? Was soll jetzt werden?

Auf einem Platz zwischen den Ständen standen Schaulustige dicht an dicht. Eine Schaustellertruppe musizierte und führte Kunststücke auf. Ausschänke und Suppenzelte waren voll besetzt.

Erst am anderen unteren Ende des Marktplatzes fand Norbert einen Ausschank mit Tischen und Bänken, an dem nur ein Tisch besetzt war. Um den Tisch saß buntes Volk: Männer in Lederkleidung, Frauen mit offenem Haar, die meisten der Frauen ebenfalls in Lederjacken, Hosen und Stiefeln. Äxte, Schwerter und große Rucksäcke waren zwischen den Leuten an die Bank gelehnt. Ein Junge, vielleicht zwei Jahre älter als Norbert, hatte sein Haar am Scheitel wie zu einem Hahnenkamm hochgekämmt und an den Seiten abrasiert. Es sah bescheuert aus, dachte Norbert, aber andererseits auch wieder gefährlich und wild. Eine Frau mit rabenschwarzem Haar und großen goldenen Ohrringen lachte laut mit weit offenem Mund. In Wildenbruch hätte das als unanständig gegolten. Die Gruppe hatte den Ausschank für sich. Niemand kam in die Nähe der leer stehenden Tische, obwohl sich überall sonst die Marktbesucher drängten.

Norbert bestellte Bier und Bohnensuppe, bezahlte zwei Kreuzer und trug Suppenschale und Bierhumpen an den nächsten leeren Tisch. Er trank den Humpen in wenigen Zügen zur Hälfte leer und löffelte seine Suppe. Im Augenwinkel sah er, dass die Reisenden am Nebentisch ihn neugierig beobachteten – denn Reisende mussten sie wohl sein, den Rucksäcken und Waffen nach zu schließen. Es war ihm egal. Das Bier stieg ihm schnell in den Kopf und während sein Magen sich mit Suppe füllte, kehrte sein Lebensmut nach und nach zurück.

Der Abenteurer in Köhlershofen vor acht Jahren hat gesagt, ich soll Dreyfuß ausrichten, dass er mich geschickt hätte. Wie war bloß sein Name? Ich muss irgendwie an diesem Pförtner vorbeikommen. Vielleicht kann ich mich in der Gasse verstecken und warten, bis Dreyfuß rauskommt...

Er war so mit seinen Gedanken und dem Essen beschäftigt, dass er erst beim zweiten oder dritten Mal mitbekam, dass jemand ihn anrief.

„Junge, bist du taub? Heda! Ich rede mit dir!“

Es war ein Riese mit dunkler Mähne und buschigen Augenbrauen unter den Reisenden am Nebentisch. Norbert starrte den muskelbepackten Kerl an.

„Was?“

Leises Gelächter in der Gruppe.

Die Frau mit dem lauten Lachen schmunzelte: „Jetzt hört er dich. Frag ihn nochmal.“

„Was wollt ihr von mir?“

„Ich hab dich gefragt,“ brummte der Riese, „wie du dich an den Torwachen vorbei in die Stadt geschlichen hast. Oder bist du über die Mauer geklettert?“

Es war zu viel für Norbert. Nach all den Demütigungen, die er an diesem Tag erfahren hatte, ertrug er es nicht mehr, aufgezogen zu werden.

Er nahm einen kräftigen Schluck Bier und fauchte: „Ach, und ihr? Wie seid ihr in die Stadt reingekommen?“

Grinsen am Nebentisch. Der Riese schmunzelte böse.

„Nun ja, ich bin zu dem Torknecht gegangen und hab ihn gefragt: Willst du Torgeld? Ich zahl in barer Münze!“

Wie beiläufig blickte er auf die langstielige Doppelaxt, die neben ihm am Tisch lehnte. Die anderen lachten.

„Sie haben einfach weggeguckt, als wir durchs Tor gegangen sind,“ rief ein fröhlicher Blondschopf in einem geflickten Mantel. „Als wären wir gar nicht da. Das war eigentlich unhöflich von den Torknechten. Aber wir sind ja nicht nachtragend.“

Er hatte einen Stab neben sich am Tisch lehnen. Mit dem Stab stimmte etwas nicht. Ein kaum merklicher Glanz umgab ihn, ähnlich dem Glanz von Vaters Fibel. Norbert betrachtete den Stab so gebannt, dass er die Frage wieder nicht verstand, die der Riese an ihn richtete.

„Ich kann sagen, was ich will, der Junge hört mir einfach nicht zu.“

Der Blondschopf strahlte Norbert an: „Kleiner, du musst Woromir nicht ärgern. Wenn er wütend wird, geht immer was kaputt.“

Der dunkelhaarige Muskelprotz lehnte sich vor.

„Nochmal, hörst du zu? Wie bist du wirklich in die Stadt gekommen? Ohne Scheiß!“

Norbert hatte die Nase voll.

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