Schatten der Anderwelt

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Er tastete sich durch den dunklen Gang und über die Hintertreppe in den Gang zur Hoftür im Erdgeschoss. Als erstes suchte er die Latrinen im Hof auf, um seine Notdurft zu verrichten. Dann ging er zurück ins Haus. Bevor er sich zu Elenas Haus aufmachte, wollte er sich wenigstens den gröbsten Schmutz, verkrustetes Blut und Ruß vom Körper abwaschen. Vielleicht hatte Melanie ja doch noch eine halbe Stunde Zeit für ihn. Nicht, dass er es unbedingt von ihr gewollt hätte – aber für alle Fälle... In weniger als einer Stunde würde er sie wiedersehen. Wie er sich nach ihr sehnte!

Der kahle Raum mit dem Waschbottich und ein paar Holzeimern, der in Gordons Gasthaus als Bad für die Gäste diente, lag gegenüber der Küche. Norbert holte den Kerzenstummel hervor, um im dunklen Bad Licht zu machen – er benötigte keine brennende Flamme, um den Docht anzuzünden – und öffnete die Lattentür.

Im Bad brannte eine Kerze auf dem Rand des dampfenden Waschbottichs. Die Harfenspielerin beugte sich über einen mit Wasser gefüllten Eimer und wusch ihr Haar. Ihre Kleider lagen zusammengelegt auf der Holzbank an der Wand. Wasser glänzte auf ihrer hellen, nackten Haut. Norbert stolperte zurück.

„Oh, Verzeihung.“

Die Bardin richtete sich auf. Mit unverstellter Offenheit schaute sie Norbert ins Gesicht.

„Nein, ist doch in Ordnung. Komm rein. Es ist genug heißes Wasser da. Schöpf dir einen Eimer voll und wasch dich.“

Sie versuchte in keiner Weise, ihre Blöße zu verbergen, wie Norbert es von den Mädchen in Wildenbruch gewohnt war, wenn man sie beim Baden im Fluss ertappte - die einen, indem sie sich scheu davonstahlen, andere kreischend, wenn sie wollten, dass man sie ansah und hübsch fand. Die hochgewachsene schlanke Frau, Norbert schätzte sie um die Dreißig, stand völlig selbstverständlich vor ihm, als wäre es das Normalste der Welt für sie, nackt zu sein.

„Ich hasse es, dreckige Haare zu haben,“ meinte sie zwanglos. „Du kannst meine Seife benutzen, wenn du willst.“

Norbert musste sich zwingen, nicht auf ihre festen, kaum vorgewölbten Brüste oder den hellblonden Haarbusch ihres Schoßes zu starren.

Völlig überrumpelt stotterte er: „Nein, nein, schon gut, ich... ich wollte nur... Entschuldigung, tut mir leid!“

Rückwärts tastete er sich zur Tür zurück, rempelte gegen den Türrahmen und stolperte hinaus.

„Ach, das ist doch dumm!“ rief sie ihm nach.

Norbert antwortete ihr nicht. Wie benommen durchquerte er den Schankraum, zerrte sich Wolljacke und Lederjacke über, gürtete sein Schwert um und trat auf die dämmerige Mauergasse hinaus.

Die engen, verwinkelten Gassen des Armenviertels lagen noch im Dunkeln. Über den Dächern ging der Nachthimmel in tiefes Blau über. Ein erster Streifen Helle lag über den Stadtmauern im Osten. Die Zinnen der Burg hoch über der Stadt glänzten bereits im frühen Sonnenlicht.

Wütend über sich selber stapfte Norbert durch den Gassendreck. Aschenflocken trieben in der Luft. Es roch nach kaltem Rauch. Noch war niemand in den Gassen unterwegs. Das Viertel lag wie in bleierner Ermattung nach dem Horror der Brandkatastrophe. Hinter Lattentüren war das Kratzen von Aschenschaufeln zu hören, wo Hausfrauen die Feuerstellen reinigten, um anzufeuern. Hier und da riegelte eine müde Frühaufsteherin die Hüttentür auf und leerte den Nachttopf auf die Gasse.

Nun musste Norbert Melanie doch so dreckig begegnen, wie er war. Nicht einmal das Gesicht hatte er sich abgespült. Die Selbstverständlichkeit der Harfenspielerin hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. Er ärgerte sich, dass er sich so überrumpeln lassen hatte. In dieser Stadt, in der ein Mann und eine Frau nicht Hand in Hand auf der Gasse gehen, geschweige denn sich in der Öffentlichkeit küssen durften, in der es verpönt war, dass unverheiratete Paare sich trafen, weswegen Melanie und Norbert Elenas Haus nur durch die Hintertür betreten konnten, in dieser Stadt, in der die Frommen eifersüchtig darüber wachten, dass niemand abfällig über ihren schrägen Glauben sprach, der sich um einen Mythos von einer Jungfrau und einem weißen Hirschen drehte, hier in Altenweil hatte Norbert, gewohnt an die freien Sitten seines Heimatdorfs, sich immer für vorbildlich freizügig gehalten. Und heute früh war plötzlich er selber der Verklemmte! Es passte nicht in sein Bild von sich selbst. Er hätte ins Bad gehen sollen, ohne die Bardin weiter zu beachten, und hätte sich waschen sollen, wie sie vorgeschlagen hatte. Aber was wäre gewesen, wenn sein Körper auf ihre Nacktheit reagiert hätte? Es wäre ihm unendlich peinlich gewesen.

Als er durch die Lücke zwischen zwei Häusern in den Hof hinter Elenas Haus trat, drängte er die miteinander hadernden Gedanken beiseite. Mit klopfendem Herzen schaute er zu dem schiefen Fachwerkhaus hinüber. Im kleinen Fenster im Obergeschoss brannte kein Licht. Er legte die Hand an den Schwertgriff. In den dunklen Hinterhofecken waren nur noch schwache Regungen jenseitiger Schatten wahrnehmbar. Norbert holte Luft und schritt über den Hof zur Hintertür. Sein Herz begann zu rasen, als er anklopfte.

Nur einen Atemzug später wurde die Tür geöffnet. Die bucklige Alte im Türrahmen blickte Norbert seltsam sanft aus ihrem runzligen Gesicht an. Mutter Elenas Haar war wirr und ihr Lumpenkleid roch schlecht wie immer.

„Kommst die alte Elena besuchen, guter Junge. Komm herein,“ raunte sie.

„Ist Melanie da?“ fragte Norbert hastig.

Er hatte jetzt nicht den Nerv, sich darüber zu wundern, warum sie nicht war, wie sonst. Norbert kannte sie nur als halb verrückte, kichernde Hexe mit schalkhaft blitzenden Augen. Die Alte drehte sich um und humpelte in den dunklen Flur zurück.

„Wirst's gleich erfahren,“ murmelte sie.

Ungeduldig kam Norbert ihr nach. Vor der Stiege nach oben blieb er stehen.

„Ich will ja nur wissen, ob sie da ist. Damit ich ihr kurz Hallo sagen kann und dass ich wieder zurück bin. Sie muss ja gleich zu ihrer Dienstherrschaft.“

„Braucht nicht mehr zu ihrer Dienstherrschaft, das liebe Kind,“ raunte Mutter Elena.

„Wie?“ Norbert stutzte. „Ist sie nicht mehr Zimmermagd bei dem Ratsherrn Hohenwart?“

Elena öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Der entsetzlich vertraute Geruch schwarzmagischen Kräuterrauchs ließ Norbert mit einem Schlag hellwach und aufmerksam werden.

„Komm herein zur alten Elena, Junge. Sollst's gleich erfahren,“ krächzte sie.

Sie war eine Schwarzhexe! Wie Darulan! Wie Linda und Ruth! Er hätte es ahnen müssen. Und Melanie hatte ihr vertraut!

„Wo ist Melanie?“ schrie er. „Wo ist sie?“

Norbert konnte die Gesichtszüge der Alten im dunklen Flur nur schwach ausmachen vor dem rötlichen Flackern des Kaminfeuers aus der Tür zu ihrem Zimmer. Da war dieser sanfte, beinahe traurige Blick in ihren tiefliegenden Greisenaugen.

„Nicht hier,“ flüsterte sie.

Sie drehte sich um und humpelte ins Zimmer.

„Elena erzählt's dir am Feuer, nicht im kalten Flur. Die alten Knochen tun ihr weh in der Kälte.“

Es war nicht kalt. Norbert war siedend heiß.

„Nicht hier?“ schrie er ihr hinterher. „Wo ist sie? Hast du ihr was angetan?“

Mit der Faust den Schwertgriff umklammernd ging er ihr nach ins Zimmer. Die magische Wirkung des weißen Kräuterrauchs aus dem Kamin traf ihn mit Wucht. Er musste seine gesamte Konzentration aufbringen für den Abwehrspruch.

Rhe!

Alles im Raum kam ihm grausam bekannt vor: die Messer auf dem Tisch zwischen Tonschalen mit dunklen Krusten, die Kräutersäckchen, die von den Deckenbalken hingen. Die Fenstervorhänge waren zugezogen und im unsteten Flackern des Kaminfeuers konnte Norbert nicht erkennen, ob es Ledersäckchen waren, Rattenmumien oder Schlimmeres, was von der Decke hing. Die Hexe setzte sich in den Lehnstuhl am Kamin. Sie schnalzte leise mit der Zunge.

„Jungchen, Jungchen!“ raunte sie sanft. „Mutter Elena tut den Schankmädchen nichts zuleide. Sie hilft ihnen. Hat es dir dein Liebchen nicht erzählt? Die Mädchen kommen, wenn was Lebendiges in ihnen wächst, und sie wollen's nicht haben. Die alte Elena nimmt's ihnen weg!“

Norbert schnürte es die Kehle zu. Er musste sich zusammenreißen, damit ihm nicht schlecht wurde. Er mochte nicht mehr zur Decke blicken. Der Rauch aus dem Kamin begann, ihn benommen zu machen. Seine Stimme war belegt.

„Was ist mit Melanie?“

Die Hexe deutete auf einen Schemel gegenüber dem Lehnstuhl. Ohne die Hand vom Schwertgriff zu nehmen, hockte Norbert sich hin. Er formulierte einen weiteren Abwehrzauber mit den Lippen, um einen klaren Kopf zu behalten.

Die Greisenstimme hauchte: „Hat geweint, das arme Kind, als du nicht kamst. Hat so sehnlich auf dich gewartet. Wollte sich von dir verabschieden.“

Norbert musste seinen gesamten Willen aufbringen, um der Alten nicht an die Gurgel zu springen. Mit zusammengebissenen Zähnen lauschte er. Ihre zischende Stimme kam ihm grausam vor.

„Ihr Traumprinz ist gekommen.“

„Was?“

Eine entsetzliche Lähmung ergriff Norbert.

„Sie hat's der Mutter Elena erzählt: ein steinreicher Handelsherr! Glaubte, er hätte sich in sie verliebt, das dumme Mädchen! Hat sie mitgenommen aus der Stadt.“

„Das ist nicht wahr!“

Norberts Stimme wurde brüchig. Er konnte nur noch flüstern.

„Das glaube ich dir nicht, du alte Hexe!“

Eine eisige Klammer legte sich um seine Brust. Es war, als wären mit einem Mal alle Farben und alle Wärme aus dem Raum gewichen. Die dunklen Augen der Alten waren voller Mitgefühl.

„Wirst's verwinden, Jungchen,“ murmelte sie sanft.

Der Raum begann, sich um Norbert zu drehen und er zwang sich zur Konzentration.

 

Weg! Ich muss hier weg! Raus an die Luft, hinaus aus dem schwarzmagischen Rauch!

Er wollte aufstehen, aber die Alte griff blitzschnell nach seiner Hand.

„Hast du der alten Elena nicht auch was mitgebracht, Jüngelchen?“ zischte sie lauernd.

„Wie, mitgebracht?“

Es fiel Norbert immer schwerer, sich zu konzentrieren. Er wollte weg, heraus aus diesem Zimmer, weg von der boshaften Alten. Ihre dürre Hand krallte sich um seine mit einer Kraft, die man der Greisin nicht zugetraut hätte.

„Dein anderes, dein untotes Liebchen hat's mir gestanden,“ zischte sie.

Ihre schwarzen Augen blitzten. Alles Mitleid war aus ihrer lauernden Miene verschwunden.

„Darulans Zaubersprüche! Sei ein guter Junge. Sing sie der alten Elena vor!“

Fassungslos starrte Norbert sie an. Was war er für ein Dummkopf gewesen! Dass er darauf nicht gekommen war! Nur darum hatte sie ihm von Darulan erzählt, nur darum hatte sie ihm die fixe Idee in den Kopf gesetzt, zu dem Hexenmeister zu gehen und sich die Magie des Lebens beibringen zu lassen! Nicht, um ihm weiterzuhelfen. Nicht wegen Lonnie! Er wollte ihr eine wütende Antwort entgegenschleudern, aber er konnte sich nur noch schwer konzentrieren. Seine Gedanken wurden immer verworrener. Die Alte verstärkte schmerzhaft ihren Griff.

„Sing der alten Elena die Sprüche vor und sie lässt dein kaltes, untotes Liebchen in Ruhe. Sie schreit vor Schmerz, wenn ich sie her zitiere!“

Schwarzhexen beherrschten mächtige Zauber. Wenn Norbert der Greisin nicht gehorchte, würde er kaum lebend wegkommen von hier. Abgesehen davon, was sie Lonnie noch antun konnte. Er griff unter sein Hemd. Die Alte zischte einen Abwehrspruch. Norbert stellte es mit Genugtuung fest. Ganz so sicher war sie ihrer Sache offenbar doch nicht! Er zerrte den Packen Schreibbögen hervor und warf ihn der Hexe vor die Füße.

„Da! Lies es selbst, wenn du lesen kannst. Oder finde wen, der es dir vorliest!“

Die Greisin ließ seine Hand los und schnappte nach den zerknitterten Seiten. Ihre Hände zitterten, als sie die Bögen auseinanderfaltete. Norbert sprang auf und trat zwei Schritt zurück, die Hand am Schwert, einen Anderweltzauber auf den Lippen. Sogar Darulan hatte vor dem blauen Feuer Respekt gehabt! Elena beachtete ihn nicht. Sie sortierte die Bögen, ließ einige auf den Boden fallen und vertiefte sich in die Schrift.

Murmelnd las sie: „Gemyne dhu mucwyrt, hwaet thu ameldodest, hwaet thu renadest aet regenmelde... Die Sprache des Seevolks, der Mannen Gorloins! Wie hat der Mädchenschänder das herausgefunden?“

Die Greisin hatte keine Augen mehr für Norbert. Gierig starrend hielt sie sich die Bögen vor die Nase.

„...Ond thu, wegbrade, wyrta modor, eastan openo, innan mihtigu... Die Magie des Lebens! Der geile alte Bock wird sich in den Arsch beißen vor Ärger, dass er sich sein Geheimnis abluchsen lassen hat!“

Langsam zog Norbert sich rückwärts zur Tür zurück. Mit zwei Sprüngen war er durch den Flur und zur Hintertür hinaus in den Hof. Hastig durchquerte er den Hof und zwängte sich durch die Lücke in die Gasse.

Auf der Gasse blieb er keuchend stehen. Leute mit Handkarren und leeren Getreidesäcken in den Armen machten einen Bogen um ihn, während sie an ihm vorbei in Richtung Marktplatz zogen. Irgendwo bellte die Stimme eines Kriegsknechts. Die geschundene Stadt erwachte.

Norbert hatte die Faust noch immer um den Schwertgriff gekrampft. Langsam ließ er los. Ihm war schwindlig. All die vergangenen Tage hatte er sich nicht so elend gefühlt. Die Worte der Hexe hatten eine taube Leere in seinem Schädel hinterlassen. Er rang seine Verzweiflung nieder und holte Luft. Vielleicht hatte die Alte gelogen. Er musste sich Gewissheit verschaffen. An Kolonnen mit Schubkarren und Sackleinen vorbei machte er sich auf zum Haus des Ratsherrn Hohenwart.

***

Über die gepflasterte Gasse zwischen Klostermauer und Rathaus betrat Norbert den Marktplatz. Hier in der Nähe der Brandzone war der Geruch nach kaltem Rauch stärker. Ein leichter Wind wirbelte Aschenflocken von der gegenüberliegenden Seite des Platzes aus den Brandruinen herüber. Der Markt hallte wider vom Weinen und Klagen aus der Brandzone entkommener Unterstadtbewohner, vom Stöhnen Verwundeter und Sterbender. Überall drängten sich obdachlos gewordene Familien und Hausgemeinschaften. Wo an anderen Tagen Marktstände sich dicht an dicht aneinanderreihten, hockten Angehörige bei schwerverletzten Verbrannten. Andere kauerten mit zerrauften Haaren um Gestorbene. Mönche in sauberen, weißen Kutten gingen umher, beteten über den Verwundeten, verbanden Wunden und salbten diejenigen Toten, deren Familien das Salböl bezahlen konnten. Die Kriegsknechte standen dabei und warteten, bis die Mönche ihre Rituale beendet hatten. Sie schlugen die Toten in Sackleinen und fuhren die Leichen auf Handkarren über die Torgasse aus der Stadt, begleitet von weinenden und schreienden Hinterbliebenen.

An der Vorderseite des Rathauses und an stattlichen Kaufmannshäusern vorbei bog Norbert in die obere Torgasse ein. Er hatte keine Augen für das Elend auf dem Marktplatz. Er kämpfte darum, sich nicht von seiner eigenen Verzweiflung lähmen zu lassen. Die ängstlichen, ehrfürchtigen oder scheuen Blicke, die ihm folgten, beachtete er nicht.

Von einer Gruppe Hausmägde, die auf der Gasse Neuigkeiten und Schreckensgeschichten austauschten, erfragte er den Weg zum Haus des Ratsherrn Hohenwart. Gesichter und Kleider der Mägde waren sauber. Einzig ihre Mienen waren gezeichnet von der durchgestandenen Angst, das Feuer könne sich auf die Häuser der Oberstadt ausbreiten, gar auf diejenigen ihrer Dienstherrschaften. Jetzt standen sie auf der Gasse und gaben sich den Gruselgefühlen über das Grauen hin, von dem sie verschont geblieben waren. Die Mägde blickten Norbert nach.

„Ist das nicht Norbert Lederer?“

„Der das Dämonenfeuer gebannt hat! Heilige Mutter, ich glaube, das war er!“

Das Haus des Ratsherrn Hohenwart überblickte einen gepflasterten Platz, der auf allen vier Seiten von zwei- und dreistöckigen Bürgerhäusern gesäumt wurde. Norbert ging an der breiten Freitreppe vorbei und durch die Toreinfahrt in den Hof. Auf der Schwelle des Küchenausgangs saß ein zwölf- oder dreizehnjähriges Mädchen in einem graubraunen Mägdekleid und streichelte eine Katze, der sie eine Schale Milch hingestellt hatte.

Norbert fühlte sich, als hätte er einen Mühlstein um den Hals, als er zwischen über den Hof rennenden Hühnern hindurch zur Küchentür ging. Die Kleine starrte mit großen Augen auf sein Schwert, dann blickte sie scheu zur Seite. Norbert fand kaum seine Sprache. Er musste schlucken.

„Ist Melanie da?“

Das Mädchen blickte ihn überrascht an und schaute schnell wieder weg.

„Die Melanie ist doch mit dem Kaufmann, dem Ulf Jörgsohn nach Stegersting gegangen,“ antwortete sie mit rotem Kopf. „Ich wär schon auch mit ihm gegangen, wenn er mich gewollt hätte, aber mich hat er nicht mal angeschaut.“

Norbert spürte seine Hoffnung zerbrechen. Die Augen begannen ihm zu brennen - wie vom schwelenden Docht einer erlöschenden Kerze.

„Was tratschst du da für dummes Zeug, Sabinchen!“ rief eine Frauenstimme aus der Küche.

Die gut genährte Frau, die in der Küchentür erschien, hatte eine weiße Schürze umgebunden. Auf dem Kopf trug sie die flachsfarbene Haube einer Magd. Sie stemmte die Hände in die Hüften.

„Was sitzt du hier müßig herum? Warte nur, eines Tages erzähl ich der Hohenwarterin, dass du Milch stiehlst und sie der Katze gibst!“

Das Mädchen sprang auf, aber statt irgendwo zu verschwinden, blieb sie auf dem Fleck stehen.

„Melanies Freund ist gekommen,“ sagte sie wie zur Entschuldigung.

Die Magd betrachtete Norbert mit in die Hüften gestemmten Armen.

„So? Also du bist Melanies arme, alte Großtante, zu der sie jeden Sterntag Abend gegangen ist, um ihr den Haushalt zu machen und bei ihr zu übernachten?“

Norbert ging auf den Spott und das Gezanke der Küchenmagd nicht ein. In der tauben Leere, die die Nachricht von Melanies Weggang in seinem Kopf hinterlassen hatte, suchte er nach der Spur eines Weges, einem Faden, den entlang er sein Leben wieder aufnehmen konnte.

„Wie lange ist sie schon fort?“ fragte er, um überhaupt etwas zu sagen.

Die Augen in dem vollwangigen Gesicht der Magd waren sanft, trotz ihres burschikosen Auftretens. Sie deutete mit dem Kopf ins Haus.

„Komm in die Küche. Schluss mit dem Getratsche mitten auf dem Hof.“

Der Küchenraum hatte gekachelte Wände. Der Fußboden war gefliest. Ein großes Fenster neben dem gusseisernen Herd sorgte für frische Luft. Küchentisch, Stühle und Schränke waren weiß angestrichen. Die längs der Wände gestapelten Töpfe, Pfannen und Küchengeräte waren blitzsauber. Zu anderen Zeiten hätte die Einrichtung dieser Küche Norbert, der noch nie die Küche eines Herrenhauses betreten hatte, in Erstaunen versetzt. Jetzt registrierte er seine Umgebung ohne jedes Interesse. Er fühlte sich, als wäre er gar nicht hier.

Am Küchentisch saß ein beleibter Mittfünfziger in einer braunen Kapuzenjacke aus gutem Stoff vor einer Schale Grütze und einem Teller Rührei mit Speck. Sein schütteres graues Haar war zerrauft, das Gesicht mit den Hängewangen sah müde aus. Er blickte kurz auf, als Norbert die Küche betrat, widmete sich aber gleich wieder seinem Frühstück. Die Küchenmagd - Norbert vermutete, dass sie die Köchin war - stellte Norbert einen Pott heißen Kaffee auf den Tisch.

„Da, setz dich, nimm einen Schluck.“

Sabinchen schlich sich durch die Küchentür herein und lauschte stumm. Norbert setzte sich dem Mittfünfziger gegenüber und nahm aus Höflichkeit einen Schluck Kaffee.

„Ja, die Melanie, das blonde Schönchen, hat den Fang ihres Lebens gemacht, scheint's,“ erzählte die Köchin. „Als dieser Jörgsohn aus Stegersting hier ankam, um den Ratsherrn zu besuchen und ein paar Tage zu bleiben – der Ratsherr und er waren früher Weggefährten, als der Herr Hohenwarth noch auf Handelsreisen, wie es so schön heißt, durch die Lande zog, bis er zu Reichtum kam – als dieser alte Reisekamerad den gnädigen Herrn jetzt hier besuchte, selber steinreich geworden, da hat die Melanie ihm so schöne Augen gemacht – und sie hat's nicht nur bei süßen Blicken belassen, glaub's mir! - dass er sich in sie verguckt und ihr nicht nur Schmuck und schöne Kleider geschenkt, sondern ihr gleich einen Heiratsantrag gemacht hat. Und das junge Ding ist drauf eingegangen! Dabei ist der Mann gestandene Vierzig!“

Es war immer Melanies Traum gewesen. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht. Die Köchin musterte Norbert mitleidig.

„Am letzten Tag vor der Abreise hat sie geweint und ich sag zu ihr: „na, bist du's schon leid, mit dem Kaufherrn zu ziehen?“ aber sie schüttelte den Kopf und meinte, sie weine um ihren Freund, der von einer Reise nicht zurückgekommen sei und sie hätte Angst, ihm sei was zugestoßen. Und sie hätte sich so gerne noch von ihm verabschiedet.“

Es tat weh. Eine Flut von Schuldgefühlen brach über Norbert herein. Er hatte ihr versprochen, innerhalb einer Woche zurück zu sein. Er biss sich auf die Lippen und zog Rotz hoch, um seine Tränen zurückzuhalten. Der teiggesichtige Mittfünfziger blickte von seinem Frühstück auf. Seine Stimme klang unangenehm und verhalten, als müsse er jedes Wort aus sich herausquetschen.

„Sag mal, junger Mann, du bist doch der Norbert Lederer, oder irre ich mich? Ich hab dich gestern gesehen, mitten im Dämonenfeuer.“

Sabinchen hielt sich die Hände vor den Mund und starrte Norbert mit großen Augen an. Norbert nickte achselzuckend. Die Köchin stemmte die Hände in die Hüften. Sie schien diese Geste zu lieben.

„Der bist du? Und dich hat die dumme Gans fahren lassen? Den Schüler des großen Dämonologen? Da hätte sie ja bloß noch ein paar Jährchen zu warten brauchen, bis du selber steinreich wirst! Stattdessen fährt sie mit einem reich gewordenen Straßenräuber ans Ende der Welt bis in die Nordberge! Na, ich hätt' mir ja überlegt, wer da die bessere Partie gewesen wäre!“

Es war nie sein oder ihr Ziel gewesen. Hätte er sie fragen sollen?

„Wo liegt dieser Ort, wo sie hingezogen ist?“ wollte Norbert wissen, als könnte die Ortsbeschreibung sie aus der Ferne wieder in seine Nähe bringen.

Die Köchin gab Grütze in eine Schale, tat aus der Pfanne auf dem Herd Rührei auf einen Teller und stellte beides vor Norbert hin.

„Da, frühstücke ein wenig. Damit hätt' ja niemand gerechnet, dass wir hier am Morgen so hohen, unerwarteten Besuch bekommen.“

 

Sie setzte sich zu Norbert an den Tisch.

Zu dem teiggesichtigen Diener sagte sie: „Wo liegt Stegersting, Konrad? Als gelehrter Hausverwalter, der hier die Bücher führt, musst du so was doch wissen!“

Norbert wollte Teller und Schale wegschieben, aber sein Magen sagte ihm, dass er ein Frühstück bitter nötig hatte, um irgendwie über diesen Tag zu kommen. Lustlos begann er zu essen.

„Stegersting,“ erklärte der Mittfünfziger mit seiner unangenehm gepressten Stimme, „liegt im hohen Findelgebirge, das ist ein östlicher Hochgebirgsausläufer der Nordberge. Die Stadt liegt im Hauermannstal nahe der dortigen Silberminen. Das berühmte Stegerstinger Silber wird dort geprägt.“

Der Hausverwalter richtete seinen trüben Blick auf Norbert. Er schien zu erraten, was den Jungen beschäftigte.

„Bis nach Stegersting reist man von Trümmelfurt aus an die vierzig Tagereisen. Also von hier aus zwischen fünfzig und sechzig Tagereisen. Der Kaufmann Ulf Jörgsdohn wird ein Vierteljahr unterwegs sein, bevor er wieder zu Hause in Stegersting ist. Die kaiserlichen Botenreiter sind natürlich schneller.“

Warum musste es sie denn gleich ans Ende der Welt verschlagen? Und er hätte sich ihre Nähe so sehr gewünscht, jetzt, wo alles zusammengebrochen war.

„Junger Mann, hör mal,“ meinte die Köchin, „wenn du der Schüler von diesem Anton Dreyfuß bist, dann kannst du uns doch von dem grausigen Spuk befreien, der dieses Haus heimsucht. Hier geht nachts ein Poltergeist durchs Haus, lässt Bilder von den Wänden fallen, rückt Möbel, zerbricht Vasen und Krüge. Wir stehen alle schreckliche Angst aus. Der gnädige Herr wird es dir sicher gut bezahlen.“

Das Gesicht des Verwalters, der der Köchin schweigend zugehört hatte, sah nicht so aus, als wäre er von ihrer zuletzt genannten Vermutung überzeugt. Norbert schüttelte den Kopf, während er den Rest Rührei vom Teller kratzte. Einen Schwarzalb bekämpfen! Alleine, ohne den Meister. Er hatte jetzt keinen Kopf für derart riskante Unternehmungen. Eigentlich war ihm alles egal.

„Nein, so weit bin ich in Dreyfuß‘ Lehre nicht gekommen. Ich hab ihm ja immer nur assis... assis..., na, eben nur geholfen. Die Dämonenaustreibungen hat der Meister gemacht.“

„Du hast ganz alleine das dämonische Feuer besiegt, das beinahe die gesamte Stadt aufgefressen hätte,“ protestierte die Köchin, „und so ein elender Poltergeist soll dir zu stark sein? Ich versteh ja, dass du traurig bist wegen der Melanie, und sie war ja auch ein bildhübsches Ding, aber überlege es dir, hörst du? Komm heute Abend wieder, dann ist der Ratsherr da. Sprich mit ihm. Er lohnt es dir sicher gut.“

Den letzten Satz sagte sie mit einem strengen Blick gegen den Verwalter, der stumm der Unterhaltung folgte. Norbert stand auf.

„Also, vielleicht – nein, ich glaub nicht. Vielen Dank für das Frühstück. Wenn...,“ er drängte Tränen zurück, „wenn noch eine Nachricht von Melanie kommen sollte, bitte, gebt im Eisernen Heinrich Bescheid. Da bin ich manchmal.“

Den Schwarzen Raben nannte er lieber nicht. Er wusste, dass Gordons Schänke in der Stadt verrufen war.

„Ja, Junge,“ antwortete der Verwalter. „Überlege dir das mit der Geisteraustreibung. Der Ratsherr wird ab der sechsten Stunde nach Mittag im Haus sein.“

An dem abgöttisch staunenden Sabinchen vorbei ging Norbert zur Hintertür hinaus.

Vor der Toreinfahrt blieb er stehen. Seine Glieder waren schwer, als ob Gewichte an ihnen zerrten.

Aus. Vorbei. Alles aus. Stern meiner Geburt, was soll nun werden?