Arkadiertod

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Die Kieselblatt-Akten

Lindstedt

Das kleine Schloss war ursprünglich ein Gutshaus. König Friedrich Wilhelm III. kaufte es, hatte aber keine richtige Idee zur Nutzung.

Sein Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. begann das Gutshaus in ein Schloss umzugestalten. Vorbild war eine italienische Villa. Sein Baumeister Persius und sein Gartenmeister Lenné begannen mit der Arbeit, konnten ihr Werk jedoch nicht mehr vollenden. Der König war gestorben.

Es sollte eigentlich sein Alterssitz werden. Wieder wartete Lindstedt als unvollendetes Kunstwerk auf seine Vollendung.

Erst zu Kaiser Wilhelms II. Zeiten wurden Schloss und Park Lindstedt fertig gestellt.

Eine sinnvolle Nutzung hat das Schloss bis heute nicht.

Die kleine Tafel am Eingang zum Schlosspark erinnert an den Offizier Henning von Tresckow, der sich mit anderen Leuten des Widerstands heimlich auf Schloss Lindstedt traf, um das Attentat auf Hitler vorzubereiten.

Nach dem Krieg wurde das Gebäude von dem Botanischen Institut der Potsdamer Hochschule genutzt. Lindstedt lag abseits des großen Interesses und nur ein paar geschichtsbegeisterte Enthusiasten wussten um die Existenz des kleinen Schlösschens und des ihn umgebenden Parks. Niemand schien sich um Lindstedt zu kümmern. Unauffällig dümpelte das Anwesen vor den Toren Potsdams vor sich hin.

Diverse kleinere Archive wurden im Laufe der Jahre nach Lindstedt ausgelagert. Ein paar wissenschaftliche Mitarbeiter betreuten die Unterlagen, die akribisch alles ordneten und beschrifteten. Später wurde das Schloss dem Gerichtsmedizinischen Institut zugeteilt.

Mit der Wende änderte sich auch für Lindstedt einiges. Schloss und Park wurden der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten überschrieben und Lindstedt bekam eine Verschönerungskur.

Das Schloss erstrahlte im feinsten, lichten Ocker, der Park sah wieder aus wie zu Lennés Zeiten und die Öffentlichkeit nahm die Existenz des kleinen Schmuckstücks verwundert zur Kenntnis. Allerdings, im Schloss konnte man leider nicht lustwandeln.

Ein paar Säle dienten bei Musikabenden als passendes Ambiente, aber die meisten Räume waren noch mit den alten Archiven gefüllt, die hier in jahrzehntelanger, mühsamer Arbeit zusammengetragen worden waren.

I

Potsdam, Schloss Lindstedt

Freitag, 22. Dezember 2006


Der Nachmittag war trüb und grau. Ein Lichtschein drang aus den hinteren Fenstern des kleinen Schlösschens in den verlassen liegenden Park. Keine Menschenseele war an diesem letzten Arbeitstag vor den Weihnachtsfeiertagen zu sehen. Nur in dem Archiv der Stiftung saß ein Herr in den besten Jahren, also irgendwo zwischen vierzig und fünfzig und stapelte alte Ordner und Bücher.

Dr. Ingolf Anton Scholetzki, seines Zeichens Archivar und Historiker, lebte seit vielen Jahren inmitten der alten Dokumente und Bücher. Er war zufrieden und glücklich, wenn er sich durch die Aufzeichnungen aus längst vergangenen Zeiten wühlen konnte und den Pulsschlag einer Epoche spürte, die nur noch in Geschichtsbüchern Erwähnung fanden.

Ihm zur Seite stand seine Assistentin Ina Maria Seidelbast, eine resolute Dame, die im Dienste der Wissenschaft ihre Jugend geopfert hatte und als leicht angegraute Schönheit zum guten Geist des Hauses geworden war.

Fräulein Seidelbast, so nannte Scholetzki seine Assistentin, war eine begnadete Teekocherin. Sie wusste Bescheid, welche Sorten ihr Chef bevorzugte und wie sie die trockenen Blättchen wieder zum Leben erwecken konnte.

Früh am Morgen begrüßte sie ihn bereits mit einer Tasse feinstem Yunnan Gold, einem chinesischen Schwarztee mit milder, leicht rauchiger Note. Zum Mittag gab es meist feine Grüntees aus Japan oder Südostchina, die appetitanregend wirken sollten.

An den Dezembernachmittagen bevorzugte Dr. Scholetzki kräftige Schwarzteesorten aus Indien und Ceylon. Dazu reichte die hilfreiche Seele Fräulein Seidelbast Kekse und Sahne.

Scholetzki wusste die Vorzüge seiner Assistentin zu schätzen. Fräulein Seidelbast war eine studierte Literaturwissenschaftlerin, konnte ihrem verehrten Chef sehr oft mit sachkundigen Ratschlägen weiterhelfen und verfügte über ein erstaunliches Allgemeinwissen, das weit über dem Durchschnitt lag.

Durch die engen Gänge der mit Regalen vollgestellten Räume bewegte sich Fräulein Seidelbast mit der diskreten Eleganz einer Gazelle. Scholetzki war das vor längerer Zeit bereits aufgefallen. Als er sie darauf ansprach, lächelte Fräulein Seidelbast verlegen und beichtete ihm, dass sie mal Jugendmeisterin im Sprint über hundert Meter war. Sie lief mit sechzehn schon Zeiten unter zwölf Sekunden.

Aber das war schon lange her, und damals war das ja auch noch alles ganz anders mit dem Sport und so.

Ihm, also Scholetzki, war der ganze Sport, speziell aber der Hochleistungssport stets suspekt. Eigentlich waren das doch nur Biomaschinen, die da um Zehntelsekunden und Zentimeter kämpften. Dass nun so ein Wesen aus dieser künstlich gezüchteten Welt bei ihm arbeitete und dazu noch freundlich, nett und kompetent war, verwunderte ihn täglich aufs Neue.

Scholetzki war ein gemütlicher Büchermensch. Bedächtig bewegte er sich inmitten seiner Schätze, wägte im Kopf lange ab, welchem Stapel er sich zuwenden sollte. Eigentlich sollte er ja Medizin studieren, jedenfalls war es sein früher Wunsch gewesen, oder war es doch eher der Wunsch der ehrgeizigen Eltern?

Nun ja, so genau wusste er das inzwischen auch nicht mehr. Jedenfalls nach seiner Armeezeit, die er als Sanitäter im Medpunkt der Kaserne verbracht hatte, war sein Interesse an diesem Beruf merklich gesunken.

Viel mehr interessierte ihn das merkwürdige Eigenleben von Büchern, die es schafften, durch die Zeiten zu kommen. Immer öfter fand er sich in Bibliotheken, vertieft in alte Schriften, fasziniert vom Geruch nach altem Papier.

Nach einer kurzen Bedenkzeit sattelte er einfach um, verabschiedete sich vom Traum, ein Gott in Weiss zu werden und begann ein Geschichtsstudium.

Scholetzki promovierte direkt im Anschluss an sein Studium. Er hatte bereits in seiner Studienzeit ein spezielles Interesse an den alten Preußen entwickelt. Seine Doktorarbeit beschäftigte sich natürlich auch mit der Preußenzeit.

In den Achtzigern waren die Preußen nach damaliger offizieller Lesart ausgesprochen negativ belegt.

Preußen stand für alles, was der real existierende Sozialismus eigentlich bekämpfen wollte: Militarismus, Nationalismus, Standesdünkel und Überwachungsstaat. Das war umso verwunderlicher, da sich dieser moderne Staat in Wirklichkeit viel preußischer verhielt als er es je zugegeben hätte.

Die Beschäftigung mit den wirklichen Preußen war den Obersten des Landes daher ausgesprochen suspekt. Scholetzki musste sich diverser Attacken seitens der Hüter der gesellschaftlichen Moral erwehren, schaffte es aber doch, sein Thema durchzuboxen.

Mehr als zwanzig Jahre waren vergangen. Der rebellische Doktorand Scholetzki war zum gemütlichen Archivar Scholetzki mutiert. Er war es zufrieden. Rebell sein war ihm sowieso nicht ganz geheuer. Sein Interesse an den historisch Ungeliebten machte ihn zwangsläufig dazu. Jetzt waren die Preußen salonfähig geworden. Eine Stiftung hatte sich des preußischen Erbes angenommen, sie wurde Scholetzkis geistiges Zuhause.

In der Außenstelle des großen Archivs der Stiftung Preußischer Kulturbesitz war er so etwas wie ein kleiner König. Herrscher über mehr als fünftausend Bücher, siebenhundert Karten und zahllose Folianten, gefüllt mit der Korrespondenz preußischer Beamter und Offiziere. Scholetzkis Glück wurde komplett mit der Anstellung der Assistentin Ina Maria Seidelbast. Diese zauberhafte Person war ihm innerhalb kürzester Zeit unentbehrlich geworden.

II

Potsdam, Schloss Lindstedt

Immer noch Freitag, 22. Dezember 2006

Draußen war es dunkel geworden. Scholetzki schaute auf seine Taschenuhr, die er in seiner samtgrünen Westentasche an einem messingfarbenen Kettchen trug.

»Fräulein Seidelbast, ich denke für heute reicht es. Kommen Sie, wir trinken noch einen Selimbong. Ich spendiere eine Runde Zimtsternchen dazu.«

Die Angesprochene kam aus einem der hinteren Winkel des Archivs hervorgesprungen. Staubflocken bedeckten ihre Steppjacke, die sie stets trug. Die Temperaturen waren trotz Heizung immer zu niedrig.

»Ach, Herr Scholetzki … Sie wissen doch …!«

Der Archivar hatte in seinem kleinen Dienstzimmer ein kleines rundes Tischchen stehen, darauf eine Pyramide aus dem Erzgebirge und drei Räuchermännchen. Zwei in die Jahre gekommene Plüschsessel waren von Scholetzki bereits an das Tischchen geschoben worden.

Fräulein Seidelbast hantierte in der kleinen Küche herum. In einem Hängebord über der Arbeitsplatte waren bestimmt zwanzig verschiedene Teedosen aufgestapelt. Jede Teedose war mit einem Aufkleber versehen, darauf in gut leserlicher Schrift der Name des darin befindlichen Tees.

Mit der Routine einer Hausdame griff die Frau eine schwarz-goldene Dose, die mit dem Etikett »Darjeeling – Selimbong 2nd flush« versehen war, öffnete sie geschickt, verteilte drei Teelöffel voll der duftigen Blättchen in eine Zylinderglaskanne. Aus dem Wasserkocher goss sie sprudelndes Wasser auf. Fertig.

 

Mit der Kanne in der Hand schwebte Fräulein Seidelbast ins Dienstzimmer. Scholetzki hatte die Pyramide in Gang gesetzt und auch die Räuchermännchen bestückt. Aus dem Radio dudelte heiter Besinnliches.

Es war die blaue Stunde. Ein tägliches Ritual, das eine ungewöhnliche Vertrautheit zwischen den beiden Menschen im Archiv erzeugte. Die gemeinsame Leidenschaft für das aromatische Heißgetränk verband Scholetzki mit der Frau in der Steppjacke. Erstaunlicherweise siezten sich die Beiden immer noch. Eine unausgesprochene Vereinbarung schien ihn davon abzuhalten, seiner um zehn Jahre jüngeren Kollegin das Du anzubieten.

Ja, Scholetzki benutzte sogar das altertümliche Wort »Fräulein«, das von vielen emanzipierten Frauen als Beleidigung empfunden wurde. Fräulein Seidelbast jedoch wusste um die eigentümliche Bedeutung dieser Anrede Bescheid. Aus dem Munde Scholetzkis klang die Anrede nicht abwertend, nein, eher respektvoll und wohlklingend.

Die Literaturwissenschaftlerin wusste um die Schönheit alter, aussterbender Wörter. Sie war im Stillen dankbar für die außergewöhnliche Anrede. Wahrscheinlich nirgendwo sonst würde sie diese akzeptieren.

Im Kerzenschein beobachteten die beiden Bücherfreunde den Tanz der Teeblättchen, die in dem Glaszylinder auf und ab schwebten. Scholetzki holte aus den Tiefen seiner schwarzen Aktentasche ein aufwändig verpacktes Geschenk hervor.

»Fröhliche Weihnachten, Fräulein Seidelbast, fröhliche Weihnachten wünsche ich Ihnen.«

Er übergab der freudig strahlenden Assistentin das Paket. »Für mich?«, mit einem quiekenden Geräusch der Überraschung ergriff sie das kompakte Paket. Laut raschelnd entfernte sie das bunte Geschenkpapier. Ein Buch, ja, klar, was denn sonst. Die Frau hatte auch nichts Anderes erwartet. Es war ein Buch über die deutsche Romantik, speziell die romantische Berliner Literatur im Umfeld der Brüder Grimm.

»Oh, danke! Woher wussten Sie …?«

»Naja, das war ja nicht so schwer. Immerhin haben Sie sich mit den Brüdern Grimm lange genug beschäftigt.«

»Stimmt!«

Fräulein Seidelbast goss in die beiden Glastassen auf dem Tisch den Tee ein. Er hatte inzwischen eine satt bernsteinbraune Färbung angenommen. Scholetzki schlürfte geräuschvoll kleine Schlucke des köstlichen Gebräus. »Mein Gott, Fräulein Seidelbast! Was für ein Erlebnis ist dieser Tee. Woher holen Sie immer diese tollen Sorten?«

»Sie wissen doch, als Studentin habe ich in einem Teeladen als Verkäuferin gearbeitet. Da hat man so seine Connections …«, dabei lächelte sie etwas hintergründig.

»Übrigens, ich hab‘ da auch noch was für Sie. Ist vielleicht nicht wirklich wertvoll, aber es ist auf alle Fälle wirklich alt. Letzten Sonntag war ich mal wieder auf dem Trödelmarkt an der Museumsinsel. Einer der Buchhändler, den ich noch gut aus Studententagen kenne, hat mir einen interessanten Stapel alter Briefe, Prozessakten und Tagebücher aus dem Nachlass eines Sammlers überlassen. Für ihn unverkäufliches Material, Antiquare lehnen einen Ankauf ab, er hat keinen wirklichen Herkunftsnachweis für den Stapel. Naja, da habe ich an Sie gedacht.«

Aufgeregt schwebte sie davon, kam in wenigen Sekunden wieder zurück und türmte vor dem verdutzt dreinschauenden Scholetzki drei große Stapel alter Folianten auf.

Scholetzki nahm den zuoberst liegenden Folianten, blätterte darin, schob seine Brille nach vorn und sog gierig den Geruch des alten Papiers ein. Er war sofort begeistert.

»Fräulein Seidelbast, Sie beschämen mich. Das ist mit Abstand das schönste Geschenk … Das ist ja hochinteressant. Kaiserzeit, möglicherweise 1880, 1890. Da habe ich über die Feiertage ja wirklich ein echtes …, also, wirklich, möglicherweise, ein eigener Beitrag für unsere Sammlung. Korrespondenz mit dem Kaiserhaus, Tagebücher eines Diplomaten …, also wirklich, ich bin sprachlos.«

Fräulein Seidelbasts Gesichtszüge wandelten sich. Die etwas herben Züge mit den großen ausdrucksstarken, blauen Augen erstrahlten im vorweihnachtlichen Glanz. Plötzlich war sie wieder die junge Studentin, die klug und warmherzig inmitten ihrer Kommilitonen über Literatur diskutierte. Sie vermisste diese literarischen Debatten.

Aber immerhin hatte sie einen Job, der mit Büchern zu tun hatte. Wenn es auch nicht die Art von Literatur war, für die sie sich eigentlich begeisterte. Aber in diesen schwierigen Zeiten war es nicht einfach, einen passenden Job zu finden.

Scholetzki wandte sich dem nächsten Folianten zu. Auf dem zweiten Folianten war ein Etikett aufgeklebt. Es war schon stark vergilbt und eine Ecke war abgerissen. Mit Sütterlin-Schrift war ein Name auf dem Etikett verewigt.

Scholetzki wischte den Staub auf dem Etikett mit dem Handrücken vorsichtig weg. Gestochen scharfe Buchstaben in alter Sütterlin-Schrift, mit Feder geschrieben. Er konnte einen Namen entziffern: Geheimrat Johann Heinrich Kieselblatt, Preußisches Oberlandesgericht zu Tegel.

Linthdorfs Weihnachten

Arkadier in der Mark

Preußens Erbe,

geronnen in Stein,

Landschaften wie elysische Gärten,

noch atmend den Geist von damals,

als Prinzessinnen

lustwandelten im Schatten

alter Eichen, laut lachten,

über Bürgerliche, die grad‘ auszogen,

heroisch verklärten Blickes

die Schlösser und Paläste zu erstürmen,

die letztendlich als eine Nummer

zu groß sich erwiesen.

I

Berlin, Mitte

Sonnabend, 23. Dezember 2006

Wieder war Linthdorf überrascht, wie wenig Weihnachten noch mit dem aufregenden Fest seiner Kindheit zu tun hatte. Jedes Jahr erwartete er die Zeit mit einer gewissen Hoffnung, dass sich das Hochgefühl aus der Vergangenheit wiedereinstellen würde. Doch der Dezember blieb ein dunkler Monat.

Er hatte schon lange seinen Lichterglanz eingebüßt. Die Stadt allerdings wurde immer greller und lauter. Weihnachten war inzwischen ein Mega-Ereignis mit buntem Rummel, LED-Installationen, Eventshopping und lauten Popsongs, die alle mehr oder wenig etwas mit dem Fest zu tun hatten.

Er mochte die neue perfekte Besinnlichkeit nicht. Es war von allem zu viel des Guten.

Genervt verkroch sich Linthdorf in seinen vier Wänden und versuchte Weihnachten so weit wie möglich zu vergessen. Heiligabend wollten seine beiden Söhne für zwei Stunden vorbeikommen. Das war inzwischen auch schon eine Tradition. Seit seiner Trennung von Corinna vor sechs Jahren waren die Weihnachtsfeiertage eine komplizierte Gratwanderung zwischen Sentimentalität und Ignoranz.

Die beiden Jungs holten ihn immer wieder aus seiner Weihnachtsdepression heraus. Sobald sie jedoch verschwunden waren, tauchte er umso tiefer in den Zustand ein.

Einen Tag vor Heiligabend feierte Linthdorf mit seinem alten Freund Berni Voßwinkel. Normalerweise nahm auch Freddi Krespel an dem kleinen Umtrunk in einer Berliner Restauration teil.

Freddi fehlte dieses Mal.

Vor zwei Wochen hatte er einen Hörsturz. Linthdorf war bestürzt. Noch nie hatte Freddi Probleme mit seiner Gesundheit. Er war immer ein Fitnessapostel, rannte regelmäßig durch Berliner Parks, war Stammgast in diversen Wellness- und Fitness-Studios und saunierte mindestens einmal wöchentlich. Dazu ernährte er sich vollkommen gesund, knabberte zum Frühstück schon Radieschen und kippte überteuerte dünnflüssige Joghurtdrinks in sich hinein. Und nun das!

Hörsturz!

Eine Art Schlaganfall im Ohr. Typisch für Leute mit hektischem Alltagsleben und stressigen Berufen. Aber doch nicht Freddi!

Linthdorf musste sich eingestehen, so richtig schien er seinen alten Freund Krespel wohl doch nicht zu kennen. Vielleicht war Freddis Alltag viel anstrengender als er dachte? Sein Job als Projektleiter bei einer größeren Immobilienfirma war kräfteraubend und permanent stressig.

Linthdorf wusste das, da Krespel ihm öfter über seine Probleme auf Arbeit berichtete. Das Wort Mobbing war öfters zu vernehmen. Überstunden und Treten im Laufrad, nun ja, das war bei vielen Leuten ein Problem. Jeder zweite hatte ein Burn Out-Problem und jeder dritte war psychisch krank. Aber er musste dann jedes Mal an seinen eigenen Beruf denken und entschied im Stillen für sich, dass Krespel etwas übertrieb.

Doch nun der Hörsturz.

Wahrscheinlich hatte Freddi doch nicht übertrieben und die Probleme waren einfach zu groß geworden. Groß genug, um ihm mit dem Ereignis eine Grenze aufzuzeigen. Stopp! Bis hierher und nicht weiter!

Am letzten Wochenende hatte Linthdorf Krespel besucht. Er traf einen zutiefst verstörten Menschen an. Eine Unterhaltung war fast nicht möglich. Freddi, der um Jahre gealtert schien, erklärte mit brüchiger Stimme, dass er ein fürchterliches Pfeifen im Ohr habe, das permanent unsäglich laut war.

Die unangenehme Frequenz des Pfeiftons raube ihm den Schlaf und mache den normalen Alltag zur Hölle. Außengeräusche drangen als Klirren und Klackern auf ihn ein. Musik hören, eigentlich eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, mutiere zu einer mittleren Foltermethode und überhaupt … Das Leben mache ihm keinen Spaß mehr.

Linthdorf war betroffen. So kannte er Krespel gar nicht. Innerhalb weniger Tage war aus dem freundlichen Hobbyfotografen ein missgelaunter Pessimist geworden. Krespel war auch ohne Hoffnung auf eine mittelfristige Besserung seines Zustandes.

Er war bei diversen Ohrenspezialisten gewesen, die ihm die Ernsthaftigkeit seines Leidens klargemacht hatten. Nur noch mit einem Hörgerät, wenn überhaupt, würde er etwas von seiner Außenwelt akustisch wahrnehmen können. Seine teure HiFi-Musikanlage mit den über Jahrzehnte zusammen getragenen Musikschätzen war von Stund‘ an für ihn nichts mehr wert. Keine Rolling Stones-Konzerte mehr, kein Joe Cocker und keine Janis Joplin. Er war untröstlich über diese Aussichten.

Linthdorf versuchte ihn aufzumuntern. Beethoven wäre ja wohl auch in seinen letzten Lebensjahren taub gewesen und hätte dennoch weiter komponiert, da die Musik tief in seinem Inneren noch vorhanden war. Doch Krespel sah ihn nur verstört an.

Das Treffen am 23. Dezember fand an einem Zweiertisch statt. Voßwinkel erschien wie immer, etwas zerzaust und leicht verspätet, strahlte dennoch übers ganze Gesicht und überreichte Linthdorf ein aufwändig verpacktes Geschenk. Edles, mattgolden marmoriertes Reliefpapier, Naturbastschleife, dazu ein frischer Tannenzweig. So etwas konnte er wirklich gut.

Auch Linthdorf hatte für Voßwinkel ein Geschenk vorbereitet. Allerdings ausgesprochen spartanisch verpackt. Eine Weinflasche, roter Minervois, in einer silbern glänzenden Geschenktüte, die an die klassischen Tetrapak-Formen erinnerte und ein Buch, verhüllt in Stanniolfolie.

Das Verpacken von Dingen war Linthdorf stets ein Gräuel. Egal ob Geburtstag oder Weihnachten, er schob die Verpackerei meist so lange vor sich her, bis er in Zeitnot ein Provisorium zaubern musste. So auch diesmal. Eine Stunde vor dem abendlichen Treffen fiel es ihm noch ein, wenigstens etwas um die beiden Geschenke zu wickeln.

Zumal er wusste, dass Voßwinkel stets mit seinen aufwändigen Umhüllungen auftrumpfte.

Das Treffen im Kartoffelhaus »Zum Alten Fritz«, einem der wenigen noch verbliebenen Restaurants mit einheimischer Küche im neu erstandenen Zentrum Berlins, war etwas melancholisch. Zum einen fehlte Freddi Krespel in der Runde und zum anderen hatte Linthdorf sowieso ein permanentes Gefühl der Ohnmacht in sich, wenn er an seine nachmittäglichen Besuche in der Charité dachte.

Die beiden Freunde begrüßten einander betont herzlich und tauschten ihre Geschenke aus. Auch Linthdorf erhielt eine Flasche Wein: deutschen Riesling von der Mosel. Das edel verpackte andere Geschenk traute er sich anfangs nicht zu öffnen. Zuviel Respekt vor der Verpackungskunst Voßwinkels. Doch dann riss er das feine Papier vorsichtig an der Kante auf, lugte hinein und förderte vorsichtig ein Buch zutage: ein Krimi, klar was sonst!

Sowohl Voßwinkel als auch er selbst waren leidenschaftliche Leser. Sie tauschten oft ihre Krimis untereinander aus und diskutierten auch die einzelnen Fälle. Während Voßwinkel mehr dem Genre des Thrillers zuneigte, hatte sich bei ihm eine gewisse Affinität zu den skandinavischen Autoren eingestellt.

 

Der Krimimarkt wurde in den letzten Jahren geradezu überschwemmt mit hochkarätiger Literatur aus dem Norden. Linthdorf musste sich anstrengen, um all die Neuerscheinungen zu lesen. Egal ob aus Schweden, Dänemark, Norwegen oder Island, die Krimis zogen ihn in ihren Bann. Er mochte den düsteren Grundton und die nüchterne Erzählweise der Autoren. Unter der biederen, gutbürgerlichen Oberfläche der Protagonisten öffneten sich menschliche Abgründe und archaische Strukturen kamen zum Vorschein, die in der modernen westlichen Welt eigentlich schon als überholt galten.

Voßwinkels Vorliebe für Thriller, speziell amerikanische, konnte sich Linthdorf nicht so richtig erklären. Voßwinkel war als Kriminalist analytisches Denken gewohnt, ihn mussten diese kopflastigen, arg konstruierten Bücher doch eher abstoßen als faszinieren. Psychopathen, meist mit überirdischer Intelligenz und unglaubwürdig viel Geld ausgestattet, veranstalteten zweifelhafte Verfolgungsjagden, ließen ihre Gegenspieler eigenartige Rätsel lösen und entpuppten sich letztendlich als platte Idioten. Das Schema war stets dasselbe: Gut gegen Böse, Gut gewinnt, nachdem es zwischendurch so aussieht als ob die Bösen die Weltherrschaft übernähmen.

Erleichtert konstatierte Linthdorf, dass in der schönen Verpackung ein klassischer britischer Krimi war. P.D. James – die Autorin mochte er auch.

Eine pummelige Kellnerin, die übers ganze Gesicht strahlte, hatte inzwischen Ente mit Grünkohl und Klößen aufgetischt. Die beiden Männer waren beschäftigt mit dem Braten und schwiegen während des Essens. Erst als die Teller abgeräumt waren und ein Espresso den gemütlichen Teil des Abends ankündigte, nahmen sie ihr Gespräch wieder auf.

Voßwinkel wusste Bescheid über Linthdorfs letzten Fall und das Drama um dessen Hoffnung Louise, die jetzt als Komapatientin in der Charité lag. Vorsichtig lotete er die gegenwärtige Seelenlage seines alten Freundes aus.

Linthdorf hielt sich jedoch bedeckt. Er wollte niemandem mit seinen Problemen zur Last fallen, zumal eine Lösung von außen nicht wirklich möglich war.

Es war ein permanentes Hoffen und Harren, das sein inneres Gleichgewicht vollkommen durcheinanderbrachte.

Voßwinkel spürte, dass er im Moment nicht weiterkam. Sein Freund versuchte abzulenken und brachte die Sprache auf ein vollkommen anderes Thema.

»Sag mal, gestern war doch ein Großeinsatz im Park Glienicke. Das volle Programm: Feuerwehr, Rettungswagen, Streifenpolizei … Was war denn da los? Weißt du etwas Genaueres?«

»Woher weißt du denn von dem Glienicker Vorfall? Da ist doch totale Nachrichtensperre …«

»Ich war dabei.«

»Was?! Du warst dabei?«

»Naja, nicht direkt. Ich stand am anderen Ufer, also auf der Potsdamer Seite, zwischen der Villa Schöningen und der Matrosenstation Kongsnaes … Enten füttern. Du weisst ja, ich brauche im Moment ein bisschen Normalität. Hab den Aufmarsch der gesamten Berliner Dienstwagenflotte beobachtet. Da drüben auf der Havelpromenade kein Straßenverkehr ist, habe ich mir so meine Gedanken gemacht. Zumal es noch recht früh am Tage war. Etwas Anderes musste also passiert sein. Heute habe ich weder in den Nachrichten drüber gehört noch in der Zeitung etwas gelesen. Also ist da doch etwas faul an der Sache.«

»Kann man so sagen. Wir tappen noch im Dunkel. Anfangs dachten wir, es handele sich um einen Unfall, also eine normale Lebensmittelvergiftung. Aber inzwischen wissen wir, dass da jemand ziemlich professionell versucht hat, eine ganze illustre Gesellschaft auszulöschen.«

Linthdorf horchte auf.

Giftmord?

Wer sollte denn im Schloss Glienicke ermordet werden? Dort wohnte schon lange niemand mehr.

Voßwinkel fuhr fort. »Am 22. Dezember fand die Jahrestagung der Arkadischen Gesellschaft im Schloss Glienicke statt. Jedes Jahr ist das so. Das Ganze ist kein Geheimnis, interessiert ziemlich niemanden, der nicht in diese Gesellschaft involviert ist. Emeritierte Akademiker, pensionierte Beamte, die mit den Schlössern und Parks zu tun hatten, das sind die Mitglieder der Arkadischen Gesellschaft. Alles legal, ein e.V. eben, angetreten, das künstlerische Erbe der Hohenzollern zu bewahren und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit Rat und Tat zu unterstützen. Leute, die früher schon für die Schlösser und Gärten tätig waren und jetzt im Ruhestand noch etwas für den Fortbestand eben dieser tun. Da sind Museologen, Botaniker, Gärtner, Historiker, Verwaltungswirte, Medienleute bei …, alles, was mit der Bewahrung der Parks und Schlösser zu tun hatte. Die Arkadische Gesellschaft wurde gleich nach der Wende gegründet, ist also schon eine ganze Zeitlang tätig. Sie geben sogar jeden Monat eine kleine Broschüre heraus, in der über wichtige laufende Projekte berichtet wird.«

Linthdorf kannte diese Heftchen. Er hatte gewissenhaft alle Jahrgangshefte gesammelt. Auch die Arkadische Gesellschaft war für ihn kein unbekanntes Terrain. Zahlreiche Ausstellungen und Vorträge wurden von der Gesellschaft organisiert. So oft er konnte, besuchte er diese auch.

»Tja, nach der Matinee versammelten sich wohl die Arkadier zu einem kleinen zweiten Frühstück mit Glühwein und Imbiss im Glienicker Schlossrestaurant und wollten eigentlich wieder zurück zur Tagesordnung kommen. Ein paar von ihnen klagten nach kurzer Zeit über Schwindelgefühle und Kopfschmerzen. Einigen wurde schlecht und erbrachen sich, zwei Frauen fielen in Bewusstlosigkeit. Die Leute vom Restaurant riefen daraufhin sofort bei der SMH an und äußerten den Verdacht einer Lebensmittelvergiftung. Die ersten Rettungsärzte, die eintrafen, fanden bereits acht Bewusstlose vor.

Eine Ärztin, die spezialisiert auf Lebensmittelvergiftungen war, gab dann Alarm. Es handele sich bei den Symptomen um keine klassische Lebensmittelvergiftung, sondern um einen Giftanschlag. Wir waren geschockt, verhängten die Nachrichtensperre um eine Massenpanik zu verhindern und rückten mit dem ganz großen Programm an. Techniker, Spurensicherung … na du weißt schon.«

»Weiß man schon …?«

»Ja, es handelt sich wohl um eine Vergiftung mit dem Alkaloid Taxin B.«

Linthdorf schaute Voßwinkel leicht verstört an. Der Name des Alkaloids kam ihm bekannt vor. Erst neulich geisterte ein solch ähnlicher Name durch das Internet als neues Wundermittel im Kampf gegen Krebs. Er versuchte sich zu erinnern. Vergeblich, es war nur eine Marginalie in den Populärwissenschaftsplattformen des Netzes und von ihm nur beiläufig gelesen worden.

Voßwinkel bemerkte, dass Linthdorf mit seiner Äußerung ratlos war. Er hatte sich eingehend mit dem Gift beschäftigt.

»An was du denkst ist Taxol A. Verwandt mit Taxin B. Taxol A hat ein paar Kohlenwasserstoffringe mehr. Beide Alkaloide stammen von der Eibe. Taxol A allerdings von der sehr seltenen Pazifischen Eibe, Taxin B stammt von unserer Europäischen Eibe. Es ist ein alter Bekannter bei den Giftmischern. Taxin B ist das Gift der Eibe. Du kennst doch diese Gehölze?«

Natürlich kannte Linthdorf Eiben. Schon als Kind hatte er diese dunklen Nadelsträucher, die nach unendlich langer Zeit sogar stattliche Bäume werden konnten, mit Ehrfurcht betrachtet. Im Garten seiner Großeltern standen immer mehrere Eiben als Sichtschutz zur Straße.

Seine Großmutter hatte ihn stets vor ihnen gewarnt.

Alles sei giftig an der Eibe. Das Holz, die Nadeln und vor allem die Samenkörner. Es reiche aus, in ihrem Schatten einzuschlafen um krank zu werden.

Als kleiner Junge hatte er das geglaubt, später dann, als Halbwüchsiger, war sein Respekt vor dem dunklen Eibenstrauch gewichen. Sein Schulfreund Peter hatte sogar die rot leuchtenden Beeren gegessen. Die Beeren wären wohl essbar, nur die kleinen schwarzen Samenkerne im Innern der Beeren solle man tunlichst nicht mitessen, die wären wohl ziemlich giftig. Aber selbst die zahlreichen Singvögel, die mit großer Begeisterung die Beeren mitsamt den Samenkörnern pickten, schienen immun gegen das Gift der Eibe zu sein. Jedenfalls sah er in der Umgebung der alten Eiben im Garten seiner Großmutter nie einen toten Vogel.

Er traute sich dann auch die saftig roten Beeren zu essen. Die schwarzen Kernchen hatte er vorher jedoch herausgepolkt.

»Woran hat man es gemerkt? Schmeckt das Eibengift nicht bitter?«