Arkadiertod

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Ina Maria war auch noch die Literaturstudentin, die abends bei Kerzenschein mit anderen Studenten selbstverfasste Gedichte vorlas und den Klängen der Gitarre lauschte.

Plötzlich war Ina Maria verschwunden und nur noch der Nachname blieb stehen. Seidelbast stand für alles, was ihre gegenwärtige Lage ausmachte: Disziplin, Entsagung, Einsamkeit.

Eine unerfüllte Liebe zu einem Professor, eine unglückliche Beziehung mit einem chaotischen Lebenskünstler, der sein Geld bei Poetry Slams verdiente und es sofort wieder ausgab. Nach einem kurzen Jahr des unbeständigen Glücks im Chaos und einem ausgereizten Dispokredit war der Lebenskünstler wieder aus ihrem Dasein verschwunden.

Das Unglück wurde komplettiert von einem aufstrebenden Jungunternehmer, der in einer anderen Liga wirtschaftete. Das dynamische Genie verfügte über erstaunliche Geldmittel, die sich in schnellen Sportwagen, einer Segelyacht und mondänen Feiern in einer Vorstadtvilla manifestierten. Sie kam sich in dessen Welt wie eine lebende Trophäe vor, »geschossen« und vorgeführt. Nein, es war nicht ihre Welt, sie langweilte sich bei den exklusiven Segeltörns und sie fühlte sich unwohl bei den Partys in der Villa. Champagner floss in Strömen, Kaviarhäppchen, Austern, natürlich zuckend frisch, triviale Spielchen jenseits der Gürtellinie und peinliche Auftritte zugedröhnter Möchtegern-schauspieler waren an der Tagesordnung. Sie floh aus der dekadenten Welt des jungen Rockefellers.

Seit dieser Erfahrung hielt sie sich fern von der Männerwelt und begnügte sich mit den Helden der Bücher und den Träumen, die sie anschließend hatte. Sie ritt mit den wilden Reitern Tschingis Khans durch die mongolische Steppe, litt mit Fontanes starken Frauen Effi, Lenchen und Stine, erschauerte jedes Mal erneut, wenn sie die Briefe Nathaniels las und dessen Weg in den Wahnsinn begleitete und erlebte die Entdeckung der Langsamkeit. Bücher gaben ihr Halt in der immer trostloser werdenden Realität.

Und jetzt musste sie los. Sonst würde sie noch anfangen zu weinen. Das ging nicht. Nie wieder könnte sie ihrem Chef unter die Augen treten.

Den Schal hatte sie bereits umgelegt, ihre Pudelmütze tief ins Gesicht gezogen und den langen Anorak geschlossen. Die Kladden packte sie in eine große Umhängetasche.

Scholetzki war besorgt. Draußen war Dauerregen und es dunkelte schon. Ob er sie noch zum Bahnhof …? Nein, nein, sie wolle noch etwas frische Luft schnappen. Laufen tue ihr gut.

Sie verschwand im Dunkel. Scholetzki schaute aus dem geschlossenen Fenster der entschwindenden Gestalt nach bis sie eins war mit dem Grau der Umgebung.

Tod im Rauch

Werder am Schwielowsee

Blaue Havel, gelber Sand,

schwarzer Hut und braune Hand,

Herzen frisch und Luft gesund

Und Kirschen wie ein Mädchenmund.

Ferdinand Ludwig Schönemann,

Chronist der Stadt Werder, 1784

Die Bewohner von Werder … suchen sich durch Verbindungen untereinander zu vermehren und nehmen Fremde nur ungern unter sich auf. Sie sind stark, nervig, abgehärtet, sehr beweglich. Sie stehen bei früher Tageszeit auf und gehen im Sommer schon um zwei Uhr an die Arbeit …

Ihre Kinder gewöhnen sie zu harter Lebensart, im frühesten Alter schon werden sie mit in die Weinberge genommen, um ihre Liebe zur Arbeit mit der Muttermilch einzuflößen …

Im Übrigen aber leben sie kärglich und sparsam und suchen sich durch Fleiß und Mühe ein Vermögen zu erwerben.

Theodor Fontane

Aus »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«

Band 3 »Havelland - Der Schwielow und seine Umgebungen«

Der alte Name »Werder« bezeichnet »vom Wasser umflossenes Land«. Der Altstadtkern wird noch heute von den Einwohnern als »Inselstadt« bezeichnet. Das moderne Werder breitet sich inzwischen jedoch jenseits dieser kleinen Insel entlang des Schwielowsees aus. Rings um Werder befindet sich die Obstkammer Brandenburgs. Die üppig begrünte Uferlandschaft mit ihren Obstplantagen ist bezaubernd schön.

In der Inselstadt gibt es sogar ein Obstbaumuseum, wo man die Anfänge des Obstbaus miterleben kann. Alte Fotos zeigen die beschwerliche Arbeit der Obstbauern. Erstaunt über die schieren Unmengen an Obst, die hier erzeugt wurden, läuft man durch die Räume. Die gesamte Ernte wurde nach Berlin geschafft. Die Millionenstadt hatte einen gewaltigen Appetit und konsumierte alles, was die Gegend hergab.

I

Werder /Havel

Mittwoch, 27. Dezember 2006


Spiegelglatt war der See an diesem Morgen. Kein Wind kräuselte die Oberfläche. Es war still, unglaublich still. Die kleine Inselstadt, Werders bekanntes Gesicht, lag verlassen in dieser Stille und wartete auf die ersten Neugierigen, die über das holprige Pflaster stolpern würden.

Werder hatte sich in den letzten Jahren zu einem Pilgerort der Fontane-Touristen entwickelt. Fontane-Touristen waren vor allen Bildungsbürger aus dem nahen Berlin oder Potsdam, die Ausflüge nach Werder und in die direkte Umgebung des Städtchens machten. Sie waren auf der Suche nach der von dem alten Dichter so ausführlich beschriebenen Welt der märkischen Leute und ihrer Geschichte.

Werder bot eine ideale Kulisse für diese Träumereien. Wer durch die stillen Gassen wanderte, den Blick öfter mal auf die zauberhafte Seenlandschaft werfend, wähnte sich in einem Roman Fontanes. Der bildungshungrige Werderbesucher schritt mit Hoppenmarieken an den alten Kopfweiden entlang, sah auf einer Bank am See den alten Dubslav in ein Gespräch mit der jungen Agnes vertieft sitzen und beobachtete aus dem Augenwinkel ein junges Liebespaar, wohl der junge Baron Botho von Rienäcker, der sein nichts Böses ahnendes Lenchen Nimpsch ausführte.

Die Anziehungskraft dieser Kulisse auf eben jenes spezielle Publikum war allerdings im Winter nur gering. Verwaist waren die vielen Bänke, die alle Wege säumten, leer standen die wenigen Cafés, die es wagten, auch in der Wintersaison zu öffnen.

Oben vor dem Eingang zur Heilig-Geist-Kirche, deren viele Türmchen einer Krone gleich die Silhouette der Stadt zierten, blinkte ein mit einer elektrischen Lichterkette versehener Tannenbaum.

Direkt vor dem Baum stand ein Mann in vollem Ölzeug. Er trug orangene Gummistiefel, hatte eine gummierte Latzhose an und darüber eine wattierte Jacke, auf dem Kopf trug er einen etwas abenteuerlichen Hut, der an einen Südwester erinnerte. Ein Fischer.

Der Schwielowsee hatte genügend Fischbestand um ein paar Fischer zu ernähren. Der Ertrag war nicht allzu üppig, aber die Fischgaststätten von Werder waren dankbare Abnehmer des Fangs. Neben den berühmten Havelzandern wurden Welse, Hechte, Karpfen, Aale und Schleie gefangen.

Alles, was nicht direkt an die Gaststätten verkauft wurde, landete in den Räucheröfen der Fischer. Ein lukratives Geschäft.

Der Fischer, der an der Weihnachtstanne stand, war Besitzer des größten Räucherofens am See. Das mannshohe Ungetüm stand im Hof seines Grundstücks direkt unten am Ufer.

Der Ofen war schon über vierzig Jahre alt, älter als er selbst. Sein Vater hatte den Ofen damals angeschafft. Ein kleines Vermögen hatte er für den Ofen, Marke Eigenbau ausgegeben. Ein befreundeter Schlosser hatte ihm den Ofen aus diversen Ersatzteilen zusammengeschweißt. Genau nach den Wünschen seines Vaters hatte der Schlosser diverse Räucherkammern in dem Monstrum eingerichtet. Ein genialer Kasten war das schon.

Seine geräucherten Fischspezialitäten waren weit über die Stadtgrenzen Werders bekannt.

Welsröllchen, Räucheraal, Räucherhappen am Spieß, Räucherforelle. Stammkunden kamen inzwischen aus allen Ecken des Landes zu ihm. Seit ein paar Jahren verschickte er seine Fische auch mit Kurierdiensten in entlegenere Gegenden. Über den zusätzlichen Umsatz konnte sich der Fischer nicht beklagen.

Auch an diesem Morgen wollte er die über Nacht geräucherten Fische aus dem Ofen holen. Den frischen Fang hatte er mit seiner Sackkarre in drei Styroporkästen schon vom Boot geholt. Die Ausbeute war nicht besonders gewesen. Ein paar ansehnliche Aale, drei mittlere Quappen, ein kleiner Wels und eine Menge Plötzen, Rotfedern, Güster und andere nur schwer verkäufliche Fischlein.

Doch was er dann sah, als er seinen Räucherofen öffnete, verschlug ihm schlicht den Atem. Er war Einiges gewöhnt, gehörte nicht zu den Zimperlichen, aber das war einfach zu viel.

Er torkelte rückwärts, stolperte über die drei Styroporkisten mit dem frischen Fang, so dass sich alle Fische auf dem Boden verteilten. Dann musste er sich übergeben.

Nach einem kurzen Moment der Lähmung lief er los, kam erst vor dem Tannenbaum an der Heilig-Geist-Kirche zum Stehen. Hier atmete er tief durch und fingerte aus der Brusttasche seiner Latzhose ein Handy. Mit zitternden Fingern tippte er wild auf der Tastatur herum. Endlich ein Freizeichen.

»Uschi, komma rüber! Ick hab‘ nen Toten jefunden, bei uns im Räuchaofen. Da, da … der is jeräuchert worden! Furchtbar …, janz furchtbar!«

Dann fing er an zu weinen, einfach so. Der Mann hatte einen Schock. Er hatte in seinem Räucherofen eine Leiche gefunden.

 


Warum nur wächst sein Starrsinn mit den Jahren?

Schon hat der Winter das erste Grau entfacht.

Von Trauben satt, tritt er doch nicht ins Haus, hört den Insekten zu, glyzinienüberdacht.

Glyzinien über meinem Hof die Schatten breiten, vergeudet wieder wird des Winters beste Zeit.

Das Herz wird kalt, eh die Zikaden schweigen, zu lang Erinnerung an alle Bitterkeit.

Qi Bai Xi 1922

II

Berlin, Friedrichshain

Mittwoch, 27. Dezember 2006

Linthdorf war froh, dass er Weihnachten wieder einmal überstanden hatte. Diese drei Tage bereiteten ihm schon seit Jahren Probleme. Es war seine sentimentale Phase, in der wieder mit aller Macht die Bilder aus seiner Kindheit in sein Bewusstsein drangen und in ihm die irrige Illusion einer harmonischen Welt hervorriefen.

Er war viel zu sehr Rationalist, um dieser Illusion nicht allzu lange nachzuhängen.

Sein Alltag war von nüchternen Fakten bestimmt. Vor allem von dem Fakt, dass es in der Charité ein Zimmer gab, in dem eine Frau in einem seltsamen Zustand lag, den die Ärzte als Koma bezeichneten. Sein Gehirn hatte den Komazustand zwar verstanden, aber sein Herz kam damit überhaupt nicht klar. Alles in ihm sträubte sich, diesen Zustand als etwas Reales zu akzeptieren. Koma war etwas Abstraktes, schwer Vorstellbares.

Gestern Nachmittag war er mit einem CD-Player und einer kleinen Sammlung mit Jazz-CDs bei Louise am Krankenbett aufgekreuzt. Er legte eine erste Silberscheibe in den kleinen Kasten ein. Satchmos »Wonderful World« erklang und erfüllte den Raum. Gespannt beobachtete er ihr Gesicht. War da so etwas wie ein winziges Augenlidzucken zu erkennen?

Der nächste Titel. »Blueberry Hill«. Wieder schaute er in das bleiche Gesicht. Wieder glaubte er ein Zucken des Augenlids zu sehen.

Bei »High Society« wurde er jäh aus seinen Beobachtungen gerissen. Es klopfte. Die Tür ging auf und Louises Schwester, Charlotte Rauchfuß, kam in das Zimmer. Sie schaute etwas verstört auf Linthdorf, der seine auf dem blauen Stuhl ausgebreitete CD-Sammlung rasch zusammenschob.

»Nanu?«

»Ja, also … Ich dachte, nun, also … Musik soll ja … Also vielleicht hilft ja die Musik. Und Louise mag doch Jazzmusik …«

Charlotte lächelte. Der unbeholfene Versuch Linthdorfs einer Erklärung dieses musikalischen Experiments am Krankenbett schien die Frau zu amüsieren.

»Machen sie ruhig weiter. Ich mag Louis Armstrong auch. Tolle Musik.« Sie hatte sich die CD-Hülle genommen und las die Titelliste.

»Spielen Sie doch mal bitte »Hello Dolly«. Ist auch drauf auf ihrer Scheibe. Titel Nummer 14.«

Linthdorf klickte sich auf die 14. Die ersten Takte dieses Titels ertönten. Dann die unverkennbare Stimme des Meisters. Wieder glaubte Linthdorf eine winzige Reaktion im Gesicht Louise zu erkennen. Er machte Charlotte darauf aufmerksam. Sie sah ihn jedoch nur zweifelnd an.

Eine Stunde verging, Ella Fitzgerald, Duke Ellington, Dave Brubeck und auch die minimalistischen Klänge eines Thelonious Monk ertönten: »Round Midnight«.

Charlotte hatte sich auf den blauen Stuhl gesetzt. Linthdorf stand die ganze Zeit am Kopfende und starrte auf das Gesicht der Schlafenden.

Eine Krankenschwester kam irgendwann kurz nach sechs ins Zimmer. »So, nun reicht’s erst mal. Schluss mit dem Konzert.«

Ihre gestrenge Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

Linthdorf baute seine Tontechnik ab und verstaute alles in seiner schwarzen Aktenmappe. Charlotte half ihm.

»Haben Sie noch Lust auf eine Tasse Kaffee?«

»Wo?«

»Na hier, es gibt doch hier ne kleine Cafeteria.«

»Ach …«

»Ja, sicher.«

»Na gut. Ist ja schließlich noch Weihnachten.«

Das war der längste Dialog, den er an diesem zweiten Feiertag führte. Die beiden waren die einzigen Besucher an diesem späten Nachmittag. Schweigend saßen sie am Tisch und schlürften einen Kaffee. Linthdorf war froh, dass die Frau ihn nicht mit Fragen traktierte. Er hatte einen Kloß im Hals. Es kam ihm wie ein Verrat an Louise vor, jetzt hier mit ihrer Schwester zu sitzen und Kaffee zu trinken.

Das war der gestrige Nachmittag. Abends saß er dann zu Hause mit seiner Katze vor dem Fernseher und versuchte dem Programm zu folgen. Irgendein schwedischer Krimi lief. Kompliziert und düster. Eigentlich mochte er ja diese Filme, aber gestern war ihm nicht danach.

Linthdorfs Laune hatte sich merklich gebessert. Er erzählte während des Frühstücks in seiner Küche der aufmerksam lauschenden Katze etwas über sein gestriges Erlebnis. Aber Miezi hatte nur Interesse an den bereit gestellten Brekkies.

Linthdorf überlegte, ob er wieder Richtung Potsdamer Havelufer aufbrechen sollte. Dann fiel ihm der Polizeieinsatz im Park Glienicke ein. Auch das Gespräch mit seinem alten Freund Voßwinkel ging ihm durch den Kopf. Seltsam war das schon. Ein Giftmord! Eibensamen als Mordwerkzeug.

Seine Kenntnisse über Pflanzengifte waren begrenzt. Er kannte nur den Eisenhut und ein paar Giftpilze. Aber er hatte in seiner kleinen Hausbibliothek ein Büchlein über einheimische Kräuter und Pflanzen.

Er blätterte in dem alten Buch, das er vor vielen Jahren einmal von seiner Biolehrerin geschenkt bekommen hatte.

Gefunden! E wie Eibe, Taxus Baceata … Linthdorf betrachtete ausführlich die schöne Zeichnung des Baumes und dessen roter Früchte, überlas dann schnell den botanischen Steckbrief um bei dem Abschnitt zu verweilen, der ihn im Moment interessierte: die Eibe als Giftpflanze.

Er staunte. Das Eibengift Taxin B war ein stärkeres Gift als das Gift des Fingerhutes. Speziell im Winter ist der Giftgehalt in der Eibe am höchsten. Das Gift wirkt schnell und effektiv. Schon nach eineinhalb Stunden tritt der Tod ein. Typische Anzeichen einer Eibenvergiftung werden beschrieben:

Erbrechen, Durchfall, Schwindelgefühle, Leibesschmerzen, Pupillenerweiterung, unnatürlich rot gefärbte Lippen, schließlich Herzrasen, dann Verlangsamung des Herzschlags, Exitus …

Linthdorf musste schlucken. Er las weiter. Schon in der frühen Vorzeit wurde das Eibengift verwendet. Die Kelten tränkten ihre Pfeilspitzen mit dem Saft des Eibenholzes. Später dann, bei den Germanen war die Eibe als Totenbaum bekannt. Beliebt war das extrem harte und biegsame Eibenholz zur Herstellung von Jagdbögen und auch für die gefürchteten Langbögen der Briten wurde es genutzt.

Der Römer Plinius warnte vor den tückischen Bäumen der germanischen Wälder. Er mahnte die römischen Soldaten, nicht unter ihnen zu rasten oder gar einzuschlafen.

Im Mittelalter war Eibengift ein beliebtes Mittel für Abtreibungen. Der Rauch des verbrennenden Eibenholzes wurde zum Ausräuchern von Ungeziefer genutzt.

Linthdorf blätterte das Büchlein durch. Er fand erstaunlich viele bekannte Namen, die allesamt ziemlich giftig waren: Bilsenkraut, Fingerhut, Schierling, Tollkirsche, Herbstzeitlose, Nieswurz, Eisenhut, aber auch so harmlose Pflanzen wie etwa das Maiglöckchen oder der Seidelbast waren hochgiftig.

Linthdorf staunte nicht schlecht, dass sogar seine Zimmerpflanzen äußerst giftig waren. Allen voran die so schön gezeichneten Blätter der Dieffenbachie und auch die elegante Engelstrompete gehörte zu den Giftpflanzen.

Gerade als Linthdorf die Seite mit der Robinie studieren wollte, erklang das vertraute Geräusch seines Telefons.

Es war die Stimme seines Chefs, die aufgeregt aus dem Äther auf ihn eintrommelte. »Herr Linthdorf! Wir haben schon wieder einen Notfall! Können Sie noch mal …?«

Linthdorf bremste den Redeschwall von Doktor Nägelein ab.

»Is ja gut, Chef. Ich mach doch. Wo geht es denn diesmal hin?«

»Schon wieder nach Werder. Diesmal zu einer Fischräucherei.«

»Na, das ist doch mal was Angenehmes. Ein bisschen Fisch wollte ich sowieso noch holen.«

»Freuen Sie sich mal nicht zu früh. Wir haben einen Toten im Räucherofen der Fischerei Röbeck.«

»Was?«

»Ja, Sie haben richtig gehört. Da hat man einen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes geräuchert.«

»Ist ja bizarr. Heiligabend schon der Tote im Apfellager. Jetzt ein Toter im Rauch.«

»Ja, wer weiß, vielleicht existiert da ja ein Zusammenhang. Linthdorf, Sie kümmern sich da mal drum. Ich hab‘ so ein komisches Gefühl.«

»Aber Sie wissen, dass ich noch im Urlaub bin.«

»Mensch, Linthdorf! Ich hab‘ im Moment keine Leute. Sie wissen doch …«

»Is ja gut … Ich weiß Bescheid.«

»Wissen Sie, wo die Fischerei Röbeck zu finden ist?«

»Ja, kenn ich. Direkt auf der Insel.«

»Häh? Was denn für eine Insel?«

»Herr Doktor Nägelein. Die Altstadt von Werder liegt auf einer kleinen Insel im Schwielowsee.«

»Aha, na, man kann ja nicht alles wissen. Hauptsache, sie finden dahin.«

»Sind Kollegen vor Ort?«

»Ja, zwei Dorfpolizisten und auch die Techniker sind schon unterwegs.«

Linthdorf seufzte. So hatte er sich diesen Tag nicht vorgestellt. Allerdings, ein so skurriler Todesfall war schon etwas Besonderes. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Leise miaute die kleine bunte Katze. »Miezi, ich muss wieder los. Du hütest das Haus. Und lass bloß niemanden herein. Hörst du?« Verständnisvoll schnurrte die Katze aus ihrem Körbchen.


Etwas über Fische

Wohlschmeckend weißes Fleisch,

das sich leicht von den Gräten löst,

ein Duft nach Flüssen und Seen,

so kennt man sie … ich red‘ von Fischen.

Zander, Wels, Maräne, Hecht,

auch Plötze und Aal, nicht zu vergessen

Rotfedern, Karpfen und Forellen, auch dabei

Barsche, Güster, Schleie und Blei

Erstaunt schau ich ins Wasser,

stromlinienförmig gleiten sie, still, elegant

und mühelos, Fische sind einfach schön.

Jetzt an der Staffelei stehend, erinnere ich mich,

an die Anmut schwimmender Fische,

zeichne mit kühnem Schwung Flossen,

tupfe silberfarbenen Glanz aufs Papier,

lass‘ sie erneut leben.

III

Werder / Havel

Noch immer Mittwoch, 27. Dezember 2006

Schon von weitem sah Linthdorf die spitzen Kirchtürme der Heilig-Geist-Kirche. Bei der Havelüberfahrt an der Baumgartenbrücke bei Geltow warf er stets als Erstes einen Blick Richtung Werder. Werder bedeutet Insel. Früher jedenfalls einmal.

Die Insel am Horizont des Schwielowsees hatte eine unverkennbare Skyline. Neben den spitzen Türmchen der Heilig-Geist-Kirche ragten auch die Spitze der Kirche Maria-Meeresstern, der Schornstein des Heizkraftwerks und die Flügel der Werderaner Mühle in den trübgrauen Himmel.

Ein Anblick, der Linthdorf ausgesprochen vertraut war. Hier kannte er sich aus. Louise hatte hier in Werder gelebt. Bei gemeinsamen Spaziergängen hatte sie ihm von ihrer Werderaner Zeit erzählt, von dem Hausbau, dem Stress mit dem Ehemann, der dann einfach verschwand und von ihrer Sehnsucht nach diesem Ort.

Mit der Industriestadt Brandenburg weiter havelabwärts tat sie sich schwer. Gern würde sie wieder nach Werder zurückkehren. Linthdorf konnte sich mit der Idee ganz gut anfreunden. Er würde sich hier auch zurechtfinden.

Aber diese Gedanken waren im Moment nicht sehr hilfreich. Louise lag im Koma und er hatte einen Mordfall aufzuklären.

Linthdorf bog Richtung Werder-Altstadt ab, ließ seinen Wagen im Schritttempo über die holprigen Kopfsteinstraßen rollen und suchte einen Parkplatz in der Nähe der Fischräucherei. Er entdeckte die beiden Transporter der Kriminaltechniker und sah den Streifenwagen der Kollegen vor Ort. Es war derselbe Wagen, der schon in Phöben vor dem Apfellager stand. Naja, wenigstens ein paar bekannte Gesichter.

 

Eine Traube neugieriger Menschen hatte sich eingefunden. Der Buschfunk schien in Werder ganz gut zu funktionieren.

Er zog seinen Hut tief ins Gesicht und drängelte sich durch die Grüppchen der neugierigen Gaffer. Auf dem Hof sah er bereits die in weißen Overalls herumlaufenden Techniker, die mit der Spurensicherung beschäftigt waren. Etwas abseits standen die beiden Polizisten, die ihn bereits im Apfellager empfangen hatten.

Neben den Uniformierten stand ein großer Mann in blauer Latzhose und orangenen Gummistiefeln. Das musste der Besitzer der Fischräucherei sein. Direkt hinter den drei Männern grüßten die Trophäen einer Fischerkarriere von der Scheunenwand. Unheimlich große Köpfe skelettierter Fische waren dort als Galerie des Grauens angenagelt. Mit weit aufgerissenen Mäulern schauten die Köpfe der großen Raubfische auf die Menschen herab.

Da gab es die schnabelförmigen Hechtköpfe, in einem tückischen Grinsen erstarrt, direkt darunter hatten ein paar riesige, archaische Welsköpfe ihr Maul weit aufgerissen, aus denen Reihen spitzer Zähne hervorstachen. Zanderköpfe mit dem typischen Habsburgerprofil säumten den Rand der Galerie. Ganz unten hatte der Fischer vollständige Karpfenskelette zu einer imposanten Parade aufgereiht.

Linthdorf musste schlucken. Er mochte Fisch, aber diese Galerie des Grauens, wohl eher als eine Trophäensammlung gedacht, schreckte ihn doch ziemlich ab.

Vorsichtig trat er an die drei Personen vor der Fischkopfwand heran, stellte sich dem Fischer vor und nickte seinen beiden Kollegen zu. Er eröffnete das Gespräch mit einem Verweis auf die skelettierten Fischköpfe. »Haben Sie die allesamt aus dem See geholt?«

Der Fischer, der sichtlich noch unter Schock stand, blickte kurz hinter sich. »Ach die ollen Köppe. Das is nur so als Deko … Die Leute freu’n sich, mal wat Aufrejendet zu sehn un knipsen die Köppe ooch janz fleissich. Die meisten ha‘m Fische ja nur als fertichet Filet jeseh‘n. Kennt doch eh kaum jemand noch die Fischekens wie se würklich ausseh‘n.«

Linthdorf lächelte, deutete auf die Köpfe und zählte auf: »Hecht, Wels, Zander, Karpfen und da oben rechts, das müsste ne Quappe sein.«

»Donnerwetter! Woher kennse denn unsere Fische? Sind sie nich ein Stadtmensch? So als Kriminaler? Oda lernt man das ooch bei Ihnen in die Puliseischule?«

Der Bann war gebrochen. Linthdorf hatte so etwas wie einen kleinen Vertrauensbonus.

»Nee, nee. Ich mag einfach nur Fisch. Aber nun erzählen Sie doch einmal, was Sie wann, wo und wie entdeckt haben. Schön der Reihe nach. Meine Kollegen machen dann noch ein Protokoll mit Ihrer Aussage. Nur keine Angst.«

Der Fischer hatte sich inzwischen sichtlich gefangen, wirkte jetzt auch nicht mehr so verstört.

»Das war so! Ick war heut früh schon draußen uffm See, hatte jestarn Reussen ausjelegt drü’m am Geltower Ufer und vorn Richtung Baumjartenbrück. War nich ville drinne, Aale, n paar kleene Welse un zwee Quappen, viel Kroppzeuch, Plötzen, Rotfedern, Güster, Bleie … Naja, die wollt ick dann zum Räucharn in’n Ofen hängen. Hatte noch jestarn am Ahmd den Ofen bestückt mit Saiblinge, die ick vonne Jenossenschaft gekooft hatte. Also, hier im See is nix mit Forellen un Saiblinge. Die koof ick imma zu, weil die Leute mögen die e’hm. Die kommen aus die Zuchtteiche drüh‘m im Luch. Ja, un wie ich da so den Räuchaofen aufmach und denk mir nix Böset, ja, da seh ick den Mann dazwischen die Fische. Vorn hatte ick noch ein paar fette Aale, so dass ick zuerst nix bemerkt hatte. Aba dann sah ick ne Hand, janz braun un wie Leder. Ja, da hab ick nen ersten Schreck bekommen. Dann hab ick die Aale rausjenommen un da hab ick ihm ins Jesicht jesehn. Det Maul aufjerissen, wie hier so’n oller Welskopp. Als ob er schreien wollte. Die Oochen janz weiß, gruselich! Der hing da so drinne wie so ne Majonette int Puppentheata. Von alleene is der da nich rinjekommen. Den müssen welche da rin jestoppt ha’m. Der Ofen wird ja nich abjeschlossen, nur variejelt. Kann jeda ran, der uffn Hof kommt.«

»Hatten sie etwas Auffälliges gesehen oder gehört als Sie gestern den Ofen bestückten?«

»Nö, nix. Hatte den Radio an un laute Musik jehört. Mach ick imma, wenn ick hia zu tun hab. War wohl so jechen fünfe, halb sechse, als ick jestan den Ofen bestückt hab. Ein Touristenpaar war hia. Wollten Fische koofen bevor se wieda nach Castrop-Rauxel zurück fahrn wollten. Ja, die ham dann ooch noch zujeschlagen. Fuffzich Euro ham se da jelassen. Det war so kurz vor sechs. Nachrichten war‘n da grad uffm Radio. Die kommen imma alle halbe Stunde.«

»Haben sie für kurze Zeit dabei den Ofen verlassen?«

»Na höchstens für zwei, drei Minuten. Als ick die Fische für die Leute einjepackt habe. Da bin ick rin um Tüten, so ne Plastiktüten, die kennse doch – so ne weißen Grifflochtütchen, zu holen.«

»Da war Ihnen nichts weiter aufgefallen?«

»Nö, nüscht. Aba wartense ma. Wennse mich jetz so ausführlich frachen tun. Nachts so gegen elfe hat der Hund anjeschlagen, als ob jemand uffm Hof war. Na ick zum Fenster, war schon fast zu Bette und werf nen Blick raus. Da war aba nüscht. Wird wohl nen Marder oda nen Waschbär gewesen sein. Die klettern imma ma da rum un suchen Fischabfälle un so.«

»Sie leben allein?«

»Nö, meine Frau, die beeden Meechen, also unsa Töchters, Cindy und Nadine, dann noch mein Vata un meine Mutta, die wohnen aba drüben im Altenteil, also im Backsteinbau. Und dann vamieten wia ooch noch Zimma. Da hatten wa bis heute früh eben das Ehepaar aus Castrop-Rauxel, die seit viertem Advent hier Weihnachtsurlaub machten.«

»Kann ich mit den Hausbewohnern noch sprechen? Vielleicht hat ja jemand etwas gesehen oder gehört?«

Der Fischer kratzte sich kurz am Kopf.

»Ja, wennse meinen. Von mia aus.«

Linthdorf wandte sich den beiden Polizisten zu.

»Weiß man schon, wer der Tote ist?«

Der ältere der beiden Polizisten schüttelte den Kopf. »Nö, nüscht! Der hatte nix bei sich. Keine Papiere, nix Persönlichet. Die Leute hier kenn’n ihn nich. Seltsam anjezochen isser. So mit Anzuch und Schlips und Krachen, als ob er ausjehn wollte.«

»Kann man schon ran an den Fundort oder sind noch die Techniker am Sichern?«

Ein Schulterzucken verriet ihm, dass die beiden Uniformträger mit dem Ablauf nicht sehr vertraut waren. Er bewegte sich vorsichtig Richtung Räucherofen. Zwei Kollegen in Weiß machten sich an dem Ofen zu schaffen. Ein Fotograf hatte die Leiche aus allen nur möglichen Blickwinkeln abgelichtet.

Linthdorf warf einen Blick in den Ofen. Es roch angenehm nach Buchenholz und Fisch. Doch der Anblick des toten Mannes im Ofen verschlug ihm den Atem. Er blickte in ein ledernes, fast mumifiziertes Antlitz. Die Augen waren milchig weiß und starrten in die Ferne als ob von dort Hilfe zu erwarten sei. Der Mund war weit aufgerissen. Ein stummer Schrei des Entsetzens war für immer in dieses Gesicht gezeichnet. Der Mann, kein sehr großer Mann, schmal, schon etwas älter, wenn man das nach dieser Nacht im Räucherofen so genau feststellen konnte, war mit den Handgelenken an den Querstäben festgebunden worden. Kabelbinder schnitten sich tief in die Haut ein. Er war mit einem grau-braunem Anzug bekleidet, ein Schlips hing etwas lose um den sehnigen Hals. Wahrscheinlich war der Körper des Mannes stark dehydriert.

Linthdorf fragte den Gerichtsmediziner, der darauf wartete, dass die Spurensicherer ihre Arbeit beendeten, wie lange der Mann wohl im Ofen gewesen war.

Der Arzt schaute ihn etwas verkniffen an. »Mann, Sie haben Humor. So eine Leiche bekommt man nicht täglich vors Skalpell. Aber anhand der fortgeschrittenen Dehydrierung würde ich mal so auf sechs bis acht Stunden schließen. Hängt auch noch von der Innentemperatur des Ofens ab, also da gibt es noch Spielraum …«

»War er schon tot bevor er in den Ofen kam oder ist er bei lebendigem Leibe …«

Er wollte diesen Satz nicht in aller Konsequenz beenden. Der Mediziner nickte.

»Wir gehen davon aus, dass er erstickte, recht qualvoll sogar. Bevor die Temperatur im Ofen so hoch wurde, dass sie tödlich wirkte, war der Mann wahrscheinlich schon tot. Die aufsteigenden Gase aus den Buchenholzspänen reichten schon aus, um ihn zu töten. Ein Todeskampf, der maximal zehn Minuten gedauert hat. Ein recht grausamer Tod, wie man seinem Gesichtsausdruck entnehmen kann.«

Linthdorf nickte und wandte sich von dem gruseligen Anblick ab. Er hatte genug gesehen. Emotionen durften einfach nicht sein Denken leiten. Er musste einen kühlen Kopf bewahren und analytisch alles Gesehene und Gehörte zu einem Puzzle zusammensetzen.

Auf dem Hof hatte sich der chaotisch anmutende Menschenauflauf gelichtet. Die Techniker hatten ihren Job getan. Die beiden Streifenpolizisten standen noch etwas unstet herum, suchten irgendwen, bei dem sie sich abmelden konnten.

Der Fischer war inzwischen von seiner Familie umgeben. Ein älterer Mann, wahrscheinlich Röbeck Senior, saß abseits auf einer Holzbank und starrte ausdruckslos vor sich hin. Zwei Frauen mit Dauerwelle und Schürzen, darüber bunte Strickjacken, standen neben Röbeck Junior und sprachen auf ihn ein.