Arkadiertod

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Linthdorf gesellte sich zu den Frauen, stellte sich vor und befragte die Frauen, ob sie etwas Auffälliges beobachtet hätten. Kopfschütteln. Nein, da war wohl nichts. Die Frauen saßen gestern Abend vor dem Fernseher und schauten das Feiertagsprogramm.

Schrille Töne drangen an Linthdorfs Ohren. Zwei Mädchen, vielleicht zehn und zwölf Jahre alt, tobten über den Hof. Vor ihnen floh ein kleiner Foxterrier, in dessen Schnauze ein Stiefel steckte.

Kurz vor Linthdorf kamen sie zum Stehen. Erschrocken starrten sie hinauf zu dem Riesen. Ihr Vater war ja auch kein kleiner Mann, aber dieser Mann mit Hut war bestimmt noch einen halben Kopf größer. Sie verstummten urplötzlich.

»Und ihr seid wohl Cindy und Nadine?«

Die beiden nickten.

»Wer ist Cindy? Wer Nadine?«

Das links stehende Mädchen, das etwas größer war, hauchte stimmlos: »Ich bin Cindy.«

»Und ich Nadine.« Ein dünnes Stimmchen war zu vernehmen.

Linthdorf musste lächeln. »Gut, dann haben wir das ja schon einmal geklärt. Ich heiße Theo und ermittle hier. Ihr wisst, was passiert ist?«

Die Mädchen nickten.

»Sagt mal, habt ihr gestern Abend etwas Ungewöhnliches gesehen? Ist euch vielleicht jemand aufgefallen? Leute, die nicht hierhergehören?«

Beide schüttelten heftig mit dem Kopf. Linthdorf hatte den Eindruck, dass dieses Kopfschütteln etwas zu heftig ausgefallen war, fast, als ob sie sich vorher schon darüber einig waren, nichts gesehen und gehört zu haben.

Im Moment würde er aus den beiden Mädchen nichts herausbekommen, aber später würde er sich die beiden noch einmal einzeln vorknöpfen.

Die direkte Umgebung des Fischerhofs bot nur wenige Möglichkeiten um sich zu verstecken. Falls es jemand darauf abgesehen hatte, heimlich auf den Hof zu schleichen, um einen Menschen in einen Räucherofen zu sperren, ohne dass dieser wild um sich schlug und sich wehrte, dann musste er sich verbergen und dennoch den Hof im Blick behalten, um einen günstigen Moment abzupassen.

Linthdorf schaute sich nach einem solchen Ort um. Das einzig mögliche Versteck waren die umgedrehten Fischerboote, die im Winter auf dem Trockenen lagen. Von hier aus konnte man den Hof einsehen ohne selbst gesehen zu werden. Der Dauerregen machte es unmöglich, etwaige Spuren zu entdecken. Linthdorf betrachtete missmutig den matschigen Boden.

Die Leute, die vor der Absperrung ausharrten, hatten sich inzwischen wieder verzogen. Es war ungemütlich kalt. Die Neugierde war ein starker Antrieb, aber Nässe und Kälte waren stärker.

Linthdorf fröstelte. Ein Blick auf den See reichte aus, um den Mantelkragen aufzurichten und einen windstillen Platz zu suchen. Unangenehm kalter Wind schnitt direkt vom Wasser kommend wie mit feinen kleinen Nadeln ins Gesicht.

Die Windstille des Morgens mit dem friedlich daliegenden See war einem böigen Regenwetter gewichen. Der See war bleigrau und kleine Wellen peitschten den Uferbereich. Schmutzig weiße Schaumkronen kräuselten sich auf dem ufernahen Wasser. Möwen nutzten das stürmische Wetter für ihre gewagten Flugmanöver. Mit schrillen Schreien spornten sie sich gegenseitig an, noch gewagtere Kunststücke zu fliegen.

Der große Mann stand direkt am Wasser und sah ihnen zu. Für heute hatte er genug Schlimmes gesehen, denn auch er hatte eine Grenze des Zumutbaren. Diese Grenze hatte er vor einer halben Stunde überschritten. Es war höchste Zeit zu gehen. Linthdorf sah auf seine Uhr. Der Tag war gelaufen.

Vielleicht sollte er noch einmal in der Charité vorbeischauen. Schließlich hatte er ja noch ein paar Jazzscheiben im Auto liegen.

IV

Abendnachrichten des rbb

Mittwoch, 27. Dezember 2006

Soeben bekommen wir noch eine Meldung über einen tragischen Todesfall. In einer Fischräucherei in Werder an der Havel ereignete sich über die Weihnachtsfeiertage ein Unfall, bei der ein Mann zu Tode kam. Nähere Angaben über die Todesursache und ein mögliches Fremdverschulden können im Moment noch nicht gemacht werden.

Inwieweit ein Zusammenhang mit der vor drei Tagen gefunden Leiche im benachbarten Phöben besteht, kann im Augenblick auch noch nicht geklärt werden. Die Polizei kann ein mögliches Gewaltverbrechen nicht ausschließen.

Und hier noch ein Blick auf die Wetteraussichten für die nächsten drei Tage …

V

Potsdam, Landeskriminalamt

Donnerstag, 28. Dezember 2006


Noch immer machte Linthdorfs Abteilung einen verlassenen Eindruck. Viele Kollegen waren im Jahreswechselurlaub.

Linthdorf hatte sich in sein kleines Büro zurückgezogen. Eigentlich wollte er gar nicht hier sein. Aber die Ereignisse der letzten Tage hatten ihre eigene Logik in Gang gesetzt. Er wusste das. Natürlich, als Kriminalist hatte er ständig in Bereitschaft zu sein.

Was sein Chef von ihm forderte, war legitim. Ermittlungen bei Kapitalverbrechen, und dazu gehörte Mord, hatten höchste Priorität. Egal, ob man im Urlaub war oder schlicht nur glaubte, Feierabend zu haben. Wenn es erforderlich war, hatte er zur Stelle zu sein.

Linthdorf war ein ausgesprochen disziplinierter Mitarbeiter, der stets seine privaten Belange hinter die Erfordernisse seines Berufs stellte.

Dieses Berufsethos war ihm seit seiner Zeit bei der Kripo zu DDR-Zeiten eigen. Damals war die Kriminalpolizei militärisch organisiert und strukturiert gewesen. Die Kriminalisten hatten militärische Dienstgrade und unterstanden einer klassischen Befehlsgewalt.

Das war inzwischen etwas anders. Kriminalisten von heute waren Beamte, keine Offiziere. Junge Kollegen hatten eine viel zivilere Auffassung vom Dienst. Die privaten Belange spielten für die neue Generation Kriminalisten eine wichtigere Rolle. Sie hatten das Klima im LKA humaner gemacht. Man diskutierte über die Probleme in einer ganz anderen Art und Weise als es Linthdorf einmal gelernt hatte.

Früher waren die Hierarchien deutlich einfacher zu überschauen. Vorgesetzte hatten dank ihrer Befehlsgewalt klare Strukturen des Handelns geschaffen. Was sie sagten, war Gesetz.

Heutzutage war alles etwas vager in der Formulierung. Dennoch, wenn es hart auf hart kam, waren auch die modernen Vorgesetzten knallharte Befehlsgeber. Verwirrend für einen Menschen, dem das fremd anmutete.

Linthdorf war trotz des großen Zeitraums, der seit der Wende vergangen war, immer noch nicht vollkommen in der Neuzeit angekommen. Etwas in ihm hing den alten Zeiten nach.

Er wollte dieses Etwas nicht näher benennen. Es war eine Art von Sentimentalität für die er sich schämte. Schließlich war die Welt doch nun offen, alle konnten freier leben und es gab alles, was das Herz begehrte, aber dennoch spürte er so etwas wie einen Verlust.

Verlust von Heimat, obwohl er immer noch an denselben Orten lebte wie früher. Verlust an Nähe, trotzdem er immer noch dieselben Freunde hatte wie zuvor. Eine gewisse Leere war an die Stelle getreten, wo er früher all diese Gefühle untergebracht hatte: in seinem Herzen.

Die neue Zeit nahm wenig Rücksicht auf die Gefühlswelten seiner Generation. Vielleicht tat er sich deshalb schwer in der Zusammenarbeit mit seinen Kollegen. Er ging lieber seine eigenen Wege und hatte sowieso schon lange den Ruf eines Eigenbrötlers.

Es war daher nicht außergewöhnlich, einfach seinen Urlaub abzubrechen, wenn es erforderlich war.

Die beiden Einsätze in Phöben und Werder hatten ihm wieder klargemacht, dass er als Beamter des Landeskriminalamtes einen normalen Anspruch auf Feiertage nicht kannte. Nägelein brauchte ihn nicht extra daran zu erinnern. Er wusste, dass Linthdorf funktionierte wie ein gut geöltes Uhrwerk.

Dass die beiden Todesfälle keine Unfälle waren, schien offensichtlich. Die Fundorte waren außergewöhnlich und die Todesursachen ebenfalls.

Ein Apfellager, in dem das erste Opfer erstickt, begraben unter Zentnern von Äpfeln, und ein Fischerhof, in der das zweite Opfer bei lebendigem Leibe geräuchert worden war – für Linthdorf bot allein schon die eigenartige Ortswahl genug Potential, um Ermittlungen in verschiedene Richtungen zu beginnen.

Beide Opfer waren ältere Männer, wahrscheinlich nicht aus Werder und Umgebung stammend. Keiner kannte sie dort. Beide trugen Anzug, schienen aus einem eher intellektuellen Millieu zu kommen. Leider war bisher noch nicht ermittelt, wer die beiden Toten waren.

Doch Linthdorf wusste Bescheid, was er als nächstes zu tun hatte und welche Nachforschungen wo anzustellen waren, um genau das herauszubekommen.

Es war ein systematisches Durchforsten von Vermisstenlisten, die in komplexen Dateien in den Zentralarchiven der Kriminalämter ständig aktualisiert und mit Updates versehen wurden. Dafür gab es speziell geschulte Mitarbeiter, die diese Dateien pflegten. Linthdorf kannte sie.

Echte Nerds. Computermenschen eben, die feuchte Augen bekamen, wenn irgendwo ein Monitor flackerte. Sie gehörten allesamt der jüngeren Generation an, sprachen untereinander eine Art Geheimsprache, gespickt mit Anglizismen und sonstigen Fremdwörtern, die Linthdorf vollkommen sinister war.

Er beobachtete diese Kollegen meist skeptisch aus einer gewissen Distanz. Nicht dass er von deren Fähigkeiten nicht überzeugt wäre, aber ihm war die ganze moderne Datenwelt ein Gräuel. In seinen Träumen hatte er oftmals Visionen einer vollkommenen Überwachung durch eine solche Maschinerie.

Vor zwanzig Jahren hatte er einmal ein Buch gelesen, was ein gewisser George Orwell geschrieben hatte. Lange, bevor diese komplexe Computerwelt zur Realität geworden war. Orwell hatte in den späten Vierzigern des vergangenen Jahrhunderts einen beklemmenden Ausblick auf die nahe Zukunft gegeben. Sinnigerweise nannte er sein Buch »1984« – ein Jahr, was nun schon ebenfalls lange der Vergangenheit angehörte.

 

Dennoch glaubte Linthdorf des Öfteren, mit dem Helden aus »1984«, Winston Smith, ebenfalls ein Staatsbeamter wie er, viel gemein zu haben. Je weiter die Computerisierung des Alltags voran schritt, desto beklemmender wurden diese Visionen.

Was wäre, wenn irgendwo im Verborgenen tausende solcher Nerds saßen, Daten sammelten und in ihrem Kauderwelsch aufbereiteten um damit letztendlich eine vollkommen gläserne Welt zu schaffen?

Die Nerds hatten eine sehr eigenartige Vorstellung von Moral und Zukunft. Für sie war alles faszinierend, was die Welt immer kleiner werdender Mikrochips so alles konnte. Grenzen schien es nicht zu geben.

Man sammelte alles: Triviales, Wichtiges, Absonderliches – egal, was es war. In den immer größer werdenden Speichern war Platz für jeden Gedanken, jedes Telefongespräch, jede Bewegung eines Autos und jedwede Vorliebe für Essen, Sex und sonstige Banalitäten. Eine fürchterliche Vision.

Im Moment jedoch war Linthdorf auf die Nerds angewiesen.

Ihre Datensammlungen waren ausgesprochen nützlich um vielleicht herauszubekommen, wer die beiden Toten waren.

Seit drei Stunden rollten nun schon endlose Datensätze auf dem Monitor an ihm vorbei. Aber bisher hatte er nichts Passendes gefunden. Missgelaunt machte er eine Pause. Kaffeezeit!

Er trabte Richtung Kantine. Vielleicht traf er ja dort jemanden, mit dem er sich ein bisschen unterhalten konnte. Vielleicht war ja die Köchin da, mit der er sich am zweiten Weihnachtsfeiertag so nett unterhalten hatte.

Hinterm Tresen stand eine kleine, schmale Frau, die er nicht kannte. Sie musste wohl neu sein. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Kopfnicken. Sie lächelte ihn an. »Hola, Herr Commissario. Was darf es sein?«

Sofort war ihm ihr Akzent aufgefallen. Sie sprach wie ein bekannter Operntenor mit einem unverkennbar südländischen Dialekt.

Linthdorf grinste zurück. »Hola Senorita! Dos panitos por favor!«

»Oh, Usted habla Espanol? Que lindo …«

Linthdorf schüttelte energisch den Kopf. »No, no! Nur ein bisschen, un poquitito … So für den Urlaubsgebrauch. Hab mal einen Basiskurs besucht, an der Volkshochschule.«

»Aber prima! Hat man nicht so oft, spanischsprechende Deutsche. Schon eher deutschsprechende Spanier.« Wieder lächelte sie ihn an. Dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen.

»De nada. Yo me llamo Zuzanna. Zuzanna Hierero. Aus Valencia.«

Linthdorf war verblüfft über diese herzliche Offensive. »Angenehm, Linthdorf, Theo Linthdorf aus Berlin. Ich arbeite hier …«

»Claro, que si. Ich auch. Seit heute. Eigentlich ich bin Philologin. Studentin für Philologie, spezialisiert auf Literatur, alte Literatur aus dem Mittelalter. Aber, das ist brotlose Kunst. Gibt es wenig Job. Also arbeite ich jetzt in Kantine als kalte Mamsell, oder wie sagt man besser auf Deutsch?«

»Kaltmamsell, aber das ist ein altes Wort. Besser Serviererin. Das verstehen die Leute.«

»Serviererin? Was ist das? Mache ich Dienstleistung Service hier? Ich will nur arbeiten, keine Service mehr.«

»Nein, nein! Sie brauchen hier keine weiteren Services zu machen. Es heißt nur so.«

»Na dann lieber kalte Mamsell.«

»Okay, dann eben Kaltmamsell. Was können Sie mir denn Schönes empfehlen heute?«

Mit einem breiten Lächeln präsentierte sie Linthdorf ihre Schätze: belegte Brötchen, Salattellerchen, Obstschälchen, Joghurtnäpfchen, Saftflaschen.

»Isse alles frisch!«

Linthdorf belud sein Tablett mit diversen Schalen und Tellerchen, trabte zum Kaffeeautomaten und zapfte einen doppelten Kaffee in einen großen Pott. Das etwas zu voll geratene Tablett balancierte er vorsichtig zur Kasse, wo die nette Spanierin schon wartete. Er war der einzige Gast in der Kantine obwohl es ziemlich genau Zwölf Uhr Mittag war.

»Wenig los heute? Wo sind alle?«

»Haben Urlaub. Sind alle in meine Heimat, in Spanien am Strand. Isse halt so.«

»Naja, aber ich bin ja hier. Esse für zwei. Da hat sich ihr Buffet schon gelohnt. Außerdem, ein paar Kollegen kommen bestimmt noch.«

»Mal seh’n. Macht elf Euro Achtunfunfzich, halt Funfundachtzich! Disculpame!«

Linthdorf fischte eine Handvoll Münzen aus seiner Hosentasche. »Machen Sie Zwölf.«

»Oh, muchas gracias.«

Linthdorf war angenehm überrascht.

Gerade als er den ersten Schluck Kaffee vorsichtig weggeschlürft hatte, schellte sein Handy.

»Berni? Was gibt’s?«

Es war Voßwinkel, sein alter Freund.

»Theo, kannst du mal ganz schnell rüberkommen? Ich glaub, es gibt da einen Zusammenhang zwischen den Toten von Schloss Glienicke und deinen beiden Leichen.«

Linthdorf hatte gestern Abend noch kurz mit Voßwinkel telefoniert und ihm von den traurigen Funden berichtet.

»Okay, wo bist du? In deinem Büro? Ich bin in zwei Stunden bei dir.«

Hastig schlang er seine Heringsbrötchen hinter und trank den Kaffee in großen Schlucken. Es kam Bewegung in die Fälle.

Fünf Kilometer weit

ertönt das Quaken der Frösche

aus der Gebirgsquelle.

Qi Bai Xi 1951

VI

Berlin, Mitte - Landeskriminalamt

Donnerstag, 28. Dezember 2006

Für die Fahrt nach Mitte nutzte Linthdorf die S-Bahn. Parkplätze waren im Zentrum Berlins knapp und die Straßen waren werktags meist verstopft. Gerade jetzt, in der Zeit zwischen den Jahren, also den wenigen Tagen zwischen Weihnachten und Silvester, tummelten sich erlebnishungrige Touristen in der Hauptstadt.

Sie fieberten schon der großen Silvesterparty am Brandenburger Tor entgegen und verbrachten die Zeit bis dahin mit Bummeln und Trödeln.

Berlins Mitte war der ultimative Treffpunkt dieser Leute, die leicht an ihrem sogenannten Hipster-Outfit zu erkennen waren. Typisch waren schräg sitzende Mützen und Hütchen, die Linthdorf nicht mal als Spaßobjekt tragen würde, teure Markenklamotten, stylische Frisuren, ein Citybag – also so etwas wie ein modischer Rucksack – und die obligatorische offene Bierflasche in der Hand. Zumeist in kleineren Grüppchen unterwegs, fielen diese Zeitgeistreisende in der Innenstadt gar nicht mehr auf. Sie waren das typische Publikum der Stadt.

Berlins Bürgermeister hatte eine Werbekampagne gestartet, die genau auf dieses Zielpublikum zugeschnitten war: »Be Berlin!«

Linthdorf hatte zuerst geglaubt, dass ein Buchstabe fehle. Nein, das war die coole neue Sprechweise der Hipster-Generation. Be Berlin – Sei Berlin! Sei unkonventionell! Sei trendig! Sei hip! Sei einfach du selbst! Im Radio dudelte diese Botschaft inzwischen auf allen Kanälen.

Er hatte so seine Schwierigkeiten mit dem neuen Anspruch der Generation Hip. Es tangierte ihn kaum, was da so alles inszeniert wurde, um hip und trendig zu sein. Ihn interessierten keine Modeschauen in stillegelegten Fabrikhallen, keine Technopartys in alten Bunkern, keine überteuerten Cocktailbars, die wie alte Bahnhofshallen aussahen und am allerwenigsten die schrillen Protagonisten der bunten neuen Welt, für die Berlin so etwas wie das Zentrum des Universums war.

Berlin hatte sich seit der Wende vollkommen gewandelt. Die ihm einst so vertraute Stadt mit ihrem morbiden Charme und der so eigenartigen Melancholie war verschwunden. Anstelle der bröckelnden Fassaden waren gestylte, futuristisch anmutende Bürokomplexe getreten. Jede Lücke war verbaut, oder, wie es offiziell hieß: verdichtet worden. Der Verkehr hatte sich verzigfacht, Leute hasteten in einem Tempo aneinander vorbei, dass es einem schwindlig wurde.

Alte Menschen fehlten in der Innenstadt fast vollkommen. Auch Kinder waren rar. Was die vielen neuen Cafés und Schnellimbisse bevölkerte und dauernd damit beschäftigt war, in die kleinen immer raffinierter werdenden Kästchen zu sprechen und auf deren Tastatur herum zu tippen, gehörte der juvenilen Generation der Mittzwanziger bis Mittdreißiger an.

Die Mitte Berlins war fest im Griff der sich selbst als Hipster bezeichnenden Menschen. Linthdorf hatte keine Ahnung, womit diese Leute ihr Geld verdienten und was sie überhaupt machten. Sie schienen jedenfalls genug Geld zu haben, um immer im Trend gekleidet zu sein, in den teuren Cafés die bunten Cocktails zu schlürfen und ein Vermögen durch ihre Handys in den Äther zu jagen.

Leicht genervt bahnte sich Linthdorf seinen Weg durch die Menschenmassen, die auf der kurzen Strecke zwischen Bahnhof Alexanderplatz und der Keibelstraße den Weg versperrten. Er stapfte wie ein Fremdkörper durch das Gewusel aufgeregter und dauerlächelnder Teenies und Twens.

Auf dem Weg zum Ausgang hätte er beinahe eine verschreckte Frau mit einer etwas groß geratenen Umhängetasche umgerannt. Sie war viel zu schnell unterwegs. Schien es eilig zu haben. Linthdorf sah ihr kurz in die Augen, die unnatürlich weit aufgerissen waren. Schöne blaue Augen waren es, die ihn da musterten. Seltsame Frau. Doch er hatte keine Zeit.

Voßwinkel erwartete ihn schon auf der Straße vor dem großen Neubau. »Komm! Wir gehen ins Café, das ist gemütlicher als mein Büro.«

»Arbeiten denn im Moment so viele bei euch? Bei uns herrscht Totenstille. Ich war heute der einzige Besucher in der Kantine.«

»Naja, Berlin ist eben doch etwas Anderes als Potsdam. Hier ist immer Betrieb. Weißt du doch. Brauchst bloß mal den Radio anzuschalten, dann kannste dir ne kleine Vorstellung machen, was hier abgeht.«

Linthdorf sah ungläubig zu seinem alten Freund. Wollte er ihn veralbern? Es war Weihnachten, jedenfalls bis gerade noch.

»Ja, du brauchst gar nicht so zu gucken. Wir sind alle schon für die Silvesterparty am Tor verplant. Großeinsatz, wie jedes Jahr. Kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich mal Silvester frei hatte.«

»Was hast du denn mit den Krawallmachern zu schaffen? Du bist doch Kripo und nicht Bereitschaftspolizei.«

»Ach, bei dem Personalmangel müssen alle mit ran. Ich werde natürlich nicht in Uniform zwischen besoffenen Schlägern schlichten müssen. Wir haben Bereitschaft, hier im Büro. Falls es zu den üblichen Silvesterdelikten kommt. Du weißt doch, zu Silvester liegen bei vielen Menschen die Nerven blank. Suizidreiche Nacht.«

Linthdorf nickte. Er musste an die Ereignisse vor einem Jahr denken. Das Sterben der vielen Frauen schien auch in der Silvesternacht seinen Anfang genommen zu haben. Der Tod hat am Ende des Jahres viele Freunde.

Voßwinkel dirigierte Linthdorf in die Alte Markthalle, die als »Berlin-Caree« wiedererstanden war. Von ihrem Charme war nichts mehr übrig. Das Caree glich einer normalen Einkaufspassage, wie es sie hier in der Stadt und überall gab.

Mit Rolltreppe ging es nach oben. Hier war es deutlich ruhiger. Ein kleines Café mit tropischer Dekoration und runden Zweiertischen lud zum Sitzen ein. Nur wenige Tische waren besetzt. Kaum saßen sie, kam eine wasserstoffblonde Kellnerin mit tiefem Dekolleté herbeigeeilt und schaute die beiden Männer dienstfreudig an.

Einen Moment stutzte Linthdorf. Schräg gegenüber an einem kleinen Zweiertisch saß die Frau, die er vorhin beinahe umgerannt hatte. Sie hielt ihre überdimensionierte Umhängetasche krampfhaft mit beiden Händen fest und schaute die ganze Zeit verängstigt umher, als ob sie jemanden erwarte, der ihr jedoch nicht wohlgesonnen wäre. Seltsam.

Linthdorf bestellte zwei Kännchen Kaffee und schaute seinen Freund und Kollegen an. »Na, nu erzähl mal. Was haste denn aufm Herzen?«

Voßwinkel räusperte sich und begann zu berichten.

»Du hast doch mitbekommen, dass die Opfer allesamt dieser Arkadischen Gesellschaft angehörten. Das war ja so etwas wie eine Jahresabschlussfeier, was da im Schlosscafé veranstaltet worden war. So im kleinen Kreise. Ja, also wir haben da mal nachgeforscht.

Zwölf Personen waren anwesend. Aber fünfzehn Personen sind Mitglied in dem Verein. Drei fehlten also. Nachdem wir Erkundigungen eingeholt hatten, waren zwei der drei Fehlenden schon etwas länger überfällig. Gingen nicht mehr ans Telefon, erschienen auch nicht zu den Vereinssitzungen. Ohne Grund. Das gab es bisher noch nie.

Die waren allesamt stolz wie Bolle, da mit zu mischen und freuten sich, einander zu sehen. Viele waren und sind alleinstehend, haben durch den Verein eben auch ein soziales Umfeld. So eine Art große Familie eben. Manche machten sich Sorgen. Andere zuckten mit den Schultern, aber keiner kam auf die Idee, mal nachzuforschen, was denn mit den drei Fehlenden los war. Also gut.

 

Wir haben uns eine Namensliste besorgt. Die drei abwesenden Personen habe ich grün markiert. Die rot markierten sind tot.

Die haben die Vergiftung mit Taxin B nicht überstanden. Schwaches Herz, Kreislaufprobleme … das hat sicherlich zum Tod beigetragen.«

Voßwinkel schob Linthdorf ein Blatt Papier mit einer Namensauflistung rüber.

Fein alphabetisch geordnet standen fünfzehn Namen mit Adresse, Altersangabe und Berufsbezeichnung darauf:

Arkadische Gesellschaft zu Berlin-Brandenburg e.V.

Mitglieder:

Brackebusch, Arno (67), Botaniker

Felgentreu, Harald (63), Historiker

Gieshübler, Cecilia (70), Restaurantleiterin

Gundermann, Robert (66), Restaurator

Hradschek, Roswitha (70), Archivarin

Jeschken, Felicitas (64), Gärtnerin

Klessenthin, Winfried (75), Historiker

Krippenstapel, Alwin (71), Museologe

Pittelkow, Gerda (63), Ingenieurin

Rehbein, Martin (65), Techniker

Sellenthin, Trude (66), Köchin

Wedderkopp, Lothar (72), Graphiker

Woytasch, Gustav (68), Lektor

Wüllersdorf, Liane (69), Gärtnerin

Ziegenhals, Justus (64), Jurist

Vier Namen waren rot markiert: Sellenthin, Gundermann, Wedderkopp und Woytasch. Das waren die Opfer der Eibensamen-Attacke. Drei Namen waren hellgrün markiert: Felgentreu, Rehbein, Ziegenhals. Die fehlenden Mitglieder, die bei der Feier nicht dabei waren.

Linthdorf schaute fragend zu Voßwinkel.

»Nun rate mal, wann das letzte Mal Justus Ziegenhals von den anderen Mitgliedern des Vereins gesehen wurde?«

Linthdorf begann zu ahnen, worauf Voßwinkel hinauswollte. »So in etwa vor sechs bis acht Wochen?«

»Genau, vor sieben Wochen war Ziegenhals das letzte Mal zu einer Sitzung des Vereins erschienen.«

Wieder fingerte Voßwinkel in seinen Unterlagen herum. Dann holte er einen Packen Fotos hervor. Nach wenigen Sekunden hatte er das richtige Foto gefunden. Linthdorf starrte ungläubig auf das Foto. Ziegenhals war der Tote aus dem Apfellager.

»Zeig mal die anderen Fotos!«

Sorgfältig durchblätterte er die Voßwinkelsche Fotosammlung. Beim zehnten Foto stutzte er. Das Gesicht erinnerte ihn stark an das Antlitz des Toten im Räucherofen. Er drehte das Foto um. Der Name stand auf der Rückseite: Harald Felgentreu.

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