Krähwinkeltod

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Er hatte sich auch diesen Freitag wieder in sein Rückzugsgebiet begeben. Weder hatte er Lust, mit seiner Frau über die Laster und Gebrechen der übrigen Dorfbewohner zu sprechen noch mochte er den jungen Leuten über den Weg laufen, die sowieso nur mit sich selbst beschäftigt waren.

Hier hinten im Garten war er mit sich und der Welt im Reinen. Mit Stolz begutachtete er die zu erwartende Apfelernte und prüfte die Pflückreife der großen Pflaumen. Noch ein paar Tage …

Gisela war mit ihrem Elektroroller zu ihrer Schwester gefahren. Gut so! Endlich war Ruhe. Manchmal ging ihm Gisela mächtig auf die Nerven mit ihrer Art.

Alles war schlecht, was er machte. Nichts konnte er ihr recht machen. Dabei hatte er doch den gesamten Haushalt bestens im Griff. Alle Dorfbewohner, die er kannte, hatten Respekt vor seinen Hausmeisterqualitäten und bewunderten seine sichere Hand beim Planen und Bauen. Nun ja, er war eben Ingenieur …

III

Das Dorf, Haus Nr. 10

Freitag, 28. September 2007


Das Haus auf dem Grundstück mit der Nummer Zehn war schon etwas älter, obwohl es kein Bauernhaus war. Der ockerfarbene Rauputz und die Doppelfenster wiesen auf eine Bauzeit in den späten Sechzigern, möglicherweise sogar in den Fünfzigern hin. Zum Haus gehörte ebenfalls ein großer Hof und ein Obstgarten. Darinnen standen ein paar ehrwürdige Apfelbäume, die allerdings dringend eines ordnenden Schnittes bedurft hätten. Wild wucherten Asttriebe nach oben, die zwar viel Blattwerk aber dafür wenig Äpfel trugen.

Irene Flumming war das egal. Die paar Äpfel, die sie aß, waren ausreichend genug am Baum. Früher, als ihr Mann noch lebte, hatte er sich um die Bäume gekümmert. Jetzt bevölkerten Elstern, Raben und andere Federtiere die Bäume und stritten sich um die wenigen Früchte. Um die Früchte war es Irene nicht schade, aber der dauernde Lärm der unliebsamen Besucher hatte schon etwas Nerviges. Sie war sich sicher, dass sie die aufdringlichen Vögel ihrem verstorbenen Mann zu verdanken hatte. Er hatte die Vögel immer gefüttert.

Hubi, eigentlich Hubert, war nun schon zwei Jahre tot, eigentlich waren es bald drei Jahre …

Hubert hatte sich um alles gekümmert, was draußen auf dem Hof und im Garten gemacht werden musste. Er war ein stiller Mensch, saß ansonsten meist in seinem Sessel und las Zeitung. Eines schönen Tages im Winter saß er auch in seinem Sessel, sagte kein Wort und schien zu schlafen. Irene war schon etwas ärgerlich, dass er nicht reagierte, als sie ihn rief. Sie tippte ihn an, spürte just in dem Moment, dass etwas nicht stimmte. Hubi kippte langsam zur Seite weg. Er war einfach gestorben ohne etwas zu sagen.

Etwas ratlos rief sie ihre Schwester an, die auch gleich mit ihrem Elektroroller kam. Sie schaute auf Hubert, der seltsam verrenkt in dem Sessel lag. Ob man die Eins-Eins-Zwei anrufen solle?

Oder gleich den Leichenwagen? Na, irgendein Arzt müsse wohl vorbeikommen, der sollte den Totenschein ausstellen. Das war alles, was Gisela einfiel.

Eine Woche später war Hubert auf dem nahegelegenen Waldfriedhof begraben. Gerade mal Neunundsechzig Jahre alt geworden. Hatte keine Laster, rauchte nicht, trank nicht, trieb sich nicht herum, hatte sein stilles, friedliches Leben gelebt.

Etwas ratlos blieb Irene allein zurück. Dabei war sie heimlich immer ganz stolz auf Hubi gewesen.

Wenn sie sich mit den Frauen der Nachbarshöfe unterhielt und deren Nöte mit ihren Männern erzählt bekam, beglückwünschte sie sich leise. Hubi war eine Seele von Mann. Und trotzdem war er einfach so gestorben.

Ernst Flachbein aus der Vier war schon vierundsiebzig und trieb sich überall herum, bloß nicht zu Hause bei seiner Frau. Und Paule Wüllersbarth, der sich mit den Flachbeins den großen Hof teilte und die zweite Doppelhaushälfte mit seiner Frau bewohnte, soff nun schon seit drei Jahrzehnten ohne dass es seiner robusten Gesundheit zu schaden schien. Vorn aus dem Hof Nummer Fünf, der Reini, also Reinhard Bachhorn, der qualmte täglich drei Schachteln Zigaretten, hustete und spuckte schon seit Jahren, lebte aber dennoch. Ach, die Welt war ungerecht.

Irene wartete auf das bekannte Geräusch, das Surren des kleinen Elektromotors vom Roller ihrer Schwester.

Endlich drang das vertraute Knattern an ihr Ohr. Sie schaute aus dem Fenster, sah Gisela zu, wie diese sich mühsam mit ihrer kaputten Hüfte vom Roller bemühte und öffnete die Tür.

Die beiden Schwestern waren sich äußerlich nicht sehr ähnlich. Gisela war eine etwas fülligere Dame mit sehr gepflegtem Äußeren, die Haare stets ordentlich frisiert, einmal wöchentlich ging sie ja auch zum Friseur nach Lindow, immer sorgfältig geschminkt und mit modisch bunten Blusen und Jacken angetan.

Irene war da praktischer. Sie war eher der sehnige Typ Frau. Meist trug sie eine Kittelschürze und legte auch nicht so viel Wert auf ihre Frisur. Trotzdem waren sich die Schwestern sehr zugetan.

Irene litt seit dem Tod ihres Mannes unter Schlaflosigkeit. Oftmals wanderte sie nach Mitternacht ruhelos durchs Haus, dass ihr immer größer und bedrohlicher erschien. Manchmal glaubte sie sogar, den Schatten von Hubi zu erkennen, der irgendwo im Hause auf sie lauerte. Doch stets verschwand er wieder wie von Geisterhand. Mit keiner Menschenseele hatte sie über ihre nächtlichen Alpträume gesprochen, nicht mal mit Gisela.

Seit zwei Tagen war Irene nun schon in einem seltsamen Zustand. Es hing wohl mit dem Erlebnis in der Nacht zum Donnerstag zusammen. Wieder konnte sie nicht schlafen. Sie saß in der Küche, starrte in die Dunkelheit, traute sich nicht, Licht anzumachen. Was sollten denn die Nachbarn denken, wenn bei ihr nachts um Drei noch Licht brannte?

Nur der Radio dudelte leise sein Nachtprogramm. Wenigstens ein vertrautes Geräusch. Irene hatte wieder den Schatten gesehen. Hubi besuchte sie, wollte nach dem Rechten schauen. Sie fühlte sich immer ertappt, dass er so wenig Zutrauen zu ihr hatte.

Mein Gott, ihre Ehe war kein Zuckerschlecken gewesen. Die gemeinsamen Jahre waren zum Schluss eine Zumutung für beide. Aber keiner wollte aus dem unerträglichen Zustand ausbrechen. Man schwieg, ging sich aus dem Weg. Es könnte ja noch schlimmer kommen. Und allein sein, nein, das ging schon gar nicht … Außerdem, was sollten die Leute im Dorf sagen?

Sie schluckte nun schon seit zwei Tagen die kleinen roten Kügelchen, Beruhigungspillen. Aber die halfen inzwischen auch nicht mehr. Sie musste etwas tun, wusste aber nicht was.

Als einziger Ausweg fiel ihr ein, bei Gisela anzurufen. Gisela war immer die praktischere von den beiden Schwestern gewesen, ihr fiel immer etwas ein.

Und jetzt saß Gisela am Küchentisch. Irene hatte Kaffee gekocht. Beide hatten eine große Kaffeetasse vor sich stehen.

»Gisi, ich glaub‘, ich muss zum Arzt.«

»Was ist los? Hast du wieder dein Nervenleiden?«

»Ach Gisi, ich glaub‘ ich werd‘ langsam meschugge. Seit drei Tagen schlafe ich nicht mehr, bin aber vollkomen hundemüde.«

»Du solltest nicht so lange mehr fernsehgucken. Und immer das wilde Zeug, was du siehst, da würde ich ja auch ganz meschugge werden.«

»Quatsch, ich hab‘ den Fernseher überhaupt nicht angehabt in der ganzen Woche. Nein, es ist …«

»Renchen, du bist einfach überspannt. Du solltest dich am besten öfters mal hinlegen und nichts machen. Geh doch mal zum Friseur! Das ist auch ganz entspannend.«

»Gisi, manchmal höre ich furchtbare Geräusche. Vorgestern Nacht, da gab es ein fürchterliches Geräusch. Ein Schrei, ganz laut und langgezogen. Es war furchtbar, ganz furchtbar …«

»Ach, du spinnst ja. Ich habe nichts gehört und ich habe einen leichten Schlaf. Wer weiß, vielleicht hat sich der Fuchs ein Kaninchen geholt. Die pfeifen dann vor Todesangst.«

»Meinst du?«

»Ja, wer soll denn sonst in der Nacht schreien? Überleg‘ doch mal! Die paar Leutchen, die hier wohnen, da ist keiner bei, der nachts rumrennt und schreit. Wir sind doch nicht in Berlin, wo so etwas üblich ist. Was haste denn wieder für einen Schundroman gelesen? Du mit deinen komischen Krimis immer …«

Irene antwortete nicht. Natürlich, Gisela hatte ja Recht. Wer sollte hier draußen auch mitten in der Nacht schreien? Sie hatte auf die Uhr gesehen. Nachts um Drei war es. Da schlief normalerweise ein jeder. Außerdem, es war ja auch mitten in der Woche. Da wurde nie so lange gefeiert oder Blödsinn gemacht.

Trotzdem war Irene ratlos. Gisela war nicht die wirkliche Hilfe, die sie erwartet hatte. Sie wurde noch vollkommen verrückt, so allein in dem großen Haus. Vielleicht sollte sie sich ein Haustier zulegen? Einen Hund? Oder wenigstens eine Katze, dann wäre sie nicht ganz allein. Irene winkte jedes Mal ab. Sie solle doch einfach mal einen Blick in den großen Apfelbaum vor der Tür werfen. Dort seien genug Haustiere versammelt. Eine ganze Schar aufdringlicher Raben habe sich im Baum eingenistet und gebärde sich wie ein Tollhaufen.

Sie goss Kaffee nach. Gisela rührte etwas Zucker in den schwarzen Sud und goss auch Sahne aus dem kleinen Kännchen zu. Der Kaffee sei so bekömmlicher. Sie hatte es ja etwas mit ihrem Magen. Aber das kam immer, weil sie sich so aufregte. Eigentlich grundlos. Stets war Erhard der Grund für ihre Aufregung.

Erhard hier, Erhard da, Erhard machte und schraubte und buddelte und fuhr herum … sie sollte eigentlich froh sein, noch einen Mann zu haben, der sich so kümmerte. Aber Erhard konnte es Gisela nie recht machen. Er war stets im Verzug, immer war etwas zu tun und er vergaß es einfach.

Ach, das war alles so ungerecht. Sie saß nun ganz allein in ihrem Haus. Irene hatte keinerlei Geldsorgen, nein, ihre eigene Rente und die Witwenrente reichten vollkommen aus, um ein sorgenfreies Leben zu führen.

 

Nein, das war es nicht, was ihr Kummer bereitete. Es war die Angst vor der Einsamkeit.

Dass sie einfach so umfallen könnte wie Hubi, aber dass dann niemand da wäre, der sie fände. Eine unerträgliche Vorstellung war das. Neidisch schaute sie daher immer zu ihrer Schwester.

Gisela hatte es gut und das pralle Leben um sich. Ihr Mann lebte noch und kümmerte sich um alles.

Nichts war wirklich wichtig. Und da gab es ja auch noch Marius und die Schwiegertochter und natürlich das Enkelchen …

Kein Wunder, dass sie ruhig schlafen konnte!

Irene hingegen grübelte ständig. Immer hatte sie Angst, etwas vergessen zu haben. Bestimmt dreimal pro Nacht kontrollierte sie die elektrischen Geräte, ob sie denn auch alle ausgeschaltet waren. Speziell die Kochfelder des neuen Ceranfeld-Herdes, die waren ihr sowieso unheimlich. Auch die Lichtschalter wurden inspiziert und die Wasserhähne, ob sie nicht tropften.

Manchmal lief sie auch einfach im Nachthemd auf den Hof und schaute nach, ob die Gartentür geschlossen war. Das hatte sie früher nicht gemacht. Da lebte ja auch Hubert noch, der kümmerte sich um so etwas.

Man hörte neuerdings immer von den Räuberbanden, die nachts herumzogen. Die Welt war unsicher geworden. Ach, nein, es machte wirklich keinen Spaß mehr; alt zu werden war kein Zuckerschlecken. Dabei war sie gerade erst vierundsechzig.

Früher hatte sie in der Kreisstadt gearbeitet im Handel, wie sie immer zu sagen pflegte. Sie stand im Lebensmittelgeschäft an der Käsetheke, schnitt Edamer und Gouda auf, portionierte Frischkäse in schöne Plastiknäpfchen und war auch für die Salattheke verantwortlich. Das hatte ihr Spaß gemacht. Zumal sie stets mit einer blendend weißen Schürze und einem weißen Häubchen wie aus dem Ei gepellt inmitten ihrer hunderterlei Käsespezialitäten hantierte. Stets konnte sie mit den Kunden auch ein paar Worte wechseln, so dass nie Langeweile aufkam.

Seit vier Jahren war sie nun schon in Rente. Sie hätte ja noch gern ein paar Jahre gearbeitet, aber Hubert wollte es nicht. Naja, viel hatte er ja nicht von ihr gehabt. Seit fast drei Jahren war er nun schon tot. Sie hatten sich sowieso nicht viel mehr zu sagen.

Hubert starrte immer nur in seine Zeitung. Irene war sich sicher, dass er sie gar nicht las. Er wollte hinter den großen Seiten einfach verschwinden, sich unsichtbar machen. Speziell, wenn sie mit Staubsauger und anderen Geräten in der Wohnung herumwirtschaftete. Dabei war es immer pieksauber.

Und jetzt geisterte Hubert als Wiedergänger durch das leere Haus und raubte ihr den Schlaf. Natürlich, sie hatte ihn öfters angefahren, wegen seiner stupiden Rumsitzerei und überhaupt, er könne sich doch mal ein Beispiel nehmen an Erhard, dem Mann von ihrer Schwester, was der so alles machte.

Hubert schwieg zu alledem. Manchmal sprachen die beiden tagelang kein Wort miteinander. Irene ging dann immer zu Gisela und fuhr mit ihr ins Café um den Frust bei einem Stück Sahnetorte loszuwerden. Was Hubert machte, um seinen Groll zu vergessen, sie wusste es nicht. Es war ihr eigentlich auch egal.

Aber das war ja nun auch schon alles wieder lange Zeit vorüber. Jetzt hatte sie andere Probleme. Schlaflosigkeit, Einsamkeit und eben die Geräusche, die vielleicht gar nicht wirklich vorhanden waren. Wurde sie verrückt?

So wie die alte Martha Dellerkamm aus der Fünf? Die hatten sie vor einem halben Jahr abgeholt. Ins Heim. War alterssenil geworden. Mehrfach hatte man sie aufgegriffen, als sie hilflos und orientierungslos irgendwo in der Landschaft herumirrte. So wollte sie nicht enden.

Ob Gisela ihre Ängste verstand? Schwer zu sagen. Jetzt saß sie ihr gegenüber, rührte ihren Kaffee um und sah immer nervös auf ihre kleine Armbanduhr. Als ob sie etwas verpassen würde.

Ob sie vielleicht morgen mit ihr rüber in die Stadt …?

Gisela zuckte mit den Schultern. Sie müsse erst Marius fragen, der habe am Sonntag ein Grillfest geplant. Möglicherweise brauche er ja Hilfe beim Vorbereiten. Die Schwiegertochter wäre da nicht so eine große Hilfe.

Ein Grillfest?

Naja, es kämen wohl ein paar Arbeitskollegen, auch sein Chef. Marius wollte sich doch um den Posten des Kämmerers bewerben. Das habe er ihr bereits im August erzählt.

Ach, Kämmerer? So eine Art Buchhalter wäre das wohl?

Naja, nicht direkt, mehr so ein Finanzverwalter, aber genau wüsste sie es wohl auch nicht.

Irene war suspekt, was ihr Neffe im Amt machte. Früher hatte sie zu Marius eine recht gute Leitung gehabt. Immer, wenn er klamm war, kam er zu ihr. Sie steckte ihm dann stets ein paar Scheine zu. Naja, das hatte sich seit seiner Heirat erledigt. Marius war seitdem nicht einmal wieder bei ihr zu Besuch gewesen.

Sie fand das schoflig. Als ob sie nicht mehr existieren würde. Und den kleinen Nicki hatte sie auch nur sehr selten zu Gesicht bekommen. Silke, die Schwiegertochter von Gisela, schirmte den Jungen wie eine Glucke vor allem ab. Alte Frauen würden einen schlechten Einfluss auf seine Entwicklung haben, sagte sie immer.

Eine komische Person war das schon.

Wie Marius an die geraten war, wusste bis heute noch keiner. Eines Tages kam er zurück vom Studium und stellte sie ihnen als seine Verlobte vor.

Silke war ein Stadtmensch. Trotz ihrer Jugend hatte sie eine altkluge Art über alle Dinge zu sprechen. Sie kleidete sich auch eigenwillig. Meist trug sie Rüschenblusen. Vielleicht wollte sie damit ihren etwas zu flach geratenen Busen kaschieren.

Silke blickte auf das Landleben immer etwas geringschätzig herab. Auch sie hatte zusammen mit Marius studiert, war wohl ein Studienjahr unter ihm gewesen.

Warum sie nun nur als Sekretärin …? Aber das ging sie ja nichts an, schließlich war es ja deren Sache.

Gisela hatte ihren Kaffee ausgetrunken. »Ich rufe dich morgen an. Mal seh’n, vielleicht können wir uns ja für den Nachmittag ein paar Minütchen Zeit gönnen.«

Irene nickte. Vor ihr lag wieder eine lange, schlaflose Nacht.

IV

Das Dorf, Haus Nr. 2

Freitag, 28. September 2007

Es war eines der ältesten Anwesen im Dorf. Ein großes Bauernhaus trug die Nummer Zwei. Aus Feldsteinen gebaut, mit einem Anbau aus roten Klinkersteinen, dazu ein großer Hof mit Taubenhaus, Hühnerstall, Ententeich und Ställen, die immer noch ein paar Schafe und Ziegen beherbergten.

Ein alter Traktor zierte die Einfahrt. Er stand als Monument aus den Zeiten der Industrialisierung herum, rostete still vor sich hin und diente den beiden Kindern, die auf dem Hof heranwuchsen als Abenteuerspielplatz.

Das große Bauernhaus beherbergte zwei Familien. Im rechten Trakt lebten Günter und Almtrud Weidenbaum. Zu den Weidenbaums gehörten die Tochter Simone und deren Lebenspartner Giovanni. Simone war schon längst über dreißig und weit davon entfernt, noch als junge Frau zu zählen. Dennoch führte sie sich als solche auf. Giovanni war gut und gerne zehn Jahre jünger als Simone. Sie kleidete sich wie ein Teenie, trug ihre Haare entweder in Pippi-Langstrumpf-Manier oder als zerzausten Wischmopp. Meist hatte sie kreischend bunte T-Shirts an, die mit englischen Wörtern dekoriert waren und keinerlei Sinn ergaben.

Dazu trug sie halblange Jeans, die mit extrabreiten Hosenträgern dem ganzen Outfit etwas Schwung geben sollten. Simone war nicht die Schlankste. Ihre üppige Oberweite ragte nur knapp über den ebenfalls üppigen Bauchansatz. Glücklicherweise fiel der nicht so auf, da ihr imponierendes Hinterteil die Jeans vollkommen ausfüllte und immer alle Blicke auf sich zog.

Giovanni, ein eher mickeriges Kerlchen, war das egal. Er mochte stramme Frauen. Almtrud war es eigentlich nicht recht, dass ihre Tochter sich mit so einem jungen Bengel eingelassen hatte. Aber das war immer noch besser als gar kein Freund.

Es gab im Dorf auch junge Frauen, die einsam vor sich hinwelkten. Die hatten die Schwelle zur Dreißig überschritten und konnten keinen Mann finden, der sie von hier wegholte.

Gleich nebenan, in der linken Haushälfte lebte eine solche Frau mit ihren zwei Kindern. Ihr Freund und Kindsvater war über alle sieben Berge verschwunden und hatte sie allein zurückgelassen.

Heidemarie Gontschorek war bereits fünfunddreißig, alleinstehend, und führte einen eigenen Haushalt. Die beiden Jungs waren acht und sechs Jahre alt. Ab und zu kam Heidis Mutter aus dem fernen Berlin zu Besuch.

Dann konnte sie endlich auch einmal abends weg. Aber sie wusste schon, für sie war es zu spät. Die Disco im benachbarten Dorf war mit jungen Mädchen überfüllt, die halb so alt waren wie sie. Sie bewegte sich wie ein Alien inmitten der Backfische.

Auch mit der lauten, dumpf hämmernden Musik konnte sie nichts mehr anfangen. Die jungen Leute bewegten sich zu den Technoklängen wie durchgeknallte Roboter, zuckten mit allen Gliedmaßen und verdrehten ekstatisch die mit Haar-Gel strapazierten Köpfe. Männliche Wesen waren ebenso seltsam gestylt und eigentlich noch Kinder. Sie konnte sich die ausgeflippten Jungs jedenfalls besser als Spielkameraden für ihre beiden Söhne vorstellen, denn als Partner im Bett.

Heidi hatte es auch schon mit Partnersuche übers Internet probiert. Aber außer ein paar flüchtigen Bettbekanntschaften war daraus nichts geworden. Sie hatte es inzwischen aufgegeben, den richtigen Mann zu suchen.

So etwas wie nebenan die dicke Simmi an Land gezogen hatte, also, auf so etwas konnte sie verzichten. Dem Mickerling quollen ja jedes Mal die Augen aus seinem Spitzmausgesicht, wenn sie Wäsche aufhing und nur eine leichte Schürze trug. Sollte er mal ruhig sehen, wie eine schöne Frau aussah.

Auch Günni, also Günter Weidenbaum schlich dann immer ganz zufällig über den großen Hof. Günni war ein Schlappschwanz, machte nur, was Almtrud sagte.

Der konnte ja noch nicht einmal allein Einkaufen fahren. Ein Wunder, wie er es bisher geschafft hatte, durchs Leben zu kommen. Mit Dackelblick wartete er stets bis Almtrud mit wichtiger Miene erschien und Anweisungen gab.

Almtrud sah genauso aus wie ihre Tochter, eben bloß zwanzig Jahre älter und nicht ganz so schräg gekleidet. Sie trug eine Dauerwellenfrisur, wie viele Landfrauen. Wetterfest, praktisch und pflegeleicht. Ihren gewaltigen Hintern verbarg sie geschickt unter weiten Röcken, darüber eine legere Schürze, die ihr das Aussehen einer russischen Matrjoschka gab. Günni war ein farbloses Nichts, meist in beige gekleidet, dass seine Unauffälligkeit noch betonte. An seinem Handgelenk baumelte stets ein Herrentäschchen, das schon bestimmt seit einem Jahrzehnt außer Mode war.

Sie grinste. Mit Almtrud hatte sie sich einmal über Günnis Herrentäschchen unterhalten. Almtrud hatte ihr anvertraut, dass das Täschchen nur zu seiner Sicherheit sei. Falls er ihr unterwegs einmal abhandenkomme, wäre da alles drin, was er bräuchte, um zu ihr zurück zu finden: ein Prepaid-Handy, seine Ausweiskärtchen, ein Fünfzig-Euro-Schein und ein Taschentuch.

Heute Abend waren die beiden vom Großeinkauf zurückgekehrt. Günni schleppte die Vorräte ins Haus. Heidi, die gerade Wäsche aufhing, beobachtete die beiden Weidenbaums. Wo sich Simone und ihr spitzmäusiger Galan herumtrieben, wusste sie nicht. Vielleicht waren die ja auf Disco …

Almtrud grüßte kurz, kam für ein paar Sekunden zu ihr. Ihr Günni würde spinnen, neuerdings. Naja, er war sowieso noch nie eine Leuchte gewesen, aber seit ein paar Tagen wäre er vollkommen durch den Wind …

Heidi schaute etwas betreten zu Almtrud. Soviel intime Geheimnisse aus dem Familienleben der Weidenbaums wollte sie gar nicht wissen. Schlimm genug, dass sie das laute Stöhnen von Simmi jede Nacht ertragen musste, wenn sich Giovanni an ihr zu schaffen machte. Aber Almtrud war da robust. Sie hatte ihr schon öfters im Vertrauen peinliche Dinge berichtet.

Außerdem schien sie bestens über die anderen Dorfbewohner Bescheid zu wissen. Zu jedem Hof fiel ihr immer eine anrüchige Geschichte ein.

Heidi wollte das eigentlich nicht wissen, aber sie konnte sich der plumpen Vertraulichkeit Almtruds auch nicht entziehen. Wer weiß, was Almtrud über sie im Dorf erzählte? Aber das war ihr auch egal. Sie wohnte nun mal eben hier, grüßte die Leute, wenn sie welche sah und ging ansonsten ihrer Arbeit nach.

Nun stand sie also direkt vor ihr, verdeckte mit ihrem massigen Hinterteil die Sicht zu ihren beiden Söhnen, die mal wieder auf dem alten Trecker herumkletterten und wartete darauf, dass sie etwas erwiderte.

 

»Ach, Günter ist doch noch ganz okay. Schau dir doch mal den ollen Wüllersbarth an, den Suffkopp, oder Flachbein, der mit seinen vierundsiebzig immer noch herumzigeunert und den Frauen an die Wäsche geht. Da ist doch Günni eher ein harmloses Wesen, auch wenn er manchmal etwas spinnt.«

Almtrud nickte. Ja, natürlich, da habe sie schon recht. Aber sie wolle ja ihren Günni auch nicht mit solchen Gestalten wie Wüllersbarth und Flachbein verglichen haben, nein, so schlimm sei es um ihn nicht bestellt.

Günni habe im Moment die fixe Idee, einen Todesschrei gehört zu haben. In der Nacht zum Donnerstag, seitdem brabbele er ohne Unterlass von dem Schrei. Sie traue sich mit ihm gar nicht ins Dorf unter die Leute.

Wer weiß, was er noch alles für seltsame Dinge von sich gebe. Naja, Günni sei sowieso nicht der fixeste im Kopf. Das wüssten ja alle. Simonchen; Almtrud nannte ihre Tochter, die bestimmt hundert Kilo auf die Waage brachte, immer noch wie zu Kindergartenzeiten Simonchen, also Simonchen habe auch nichts gehört und sie selber schlafe ja, also, da könnte nebenan die Welt untergehen, sie würde da nichts von mitbekommen.

Heidi stutzte, vor zwei Tagen war sie auch aufgeschreckt mitten in der Nacht. Zuerst glaubte sie einen Schrei gehört zu haben, dann klang es nach dem Gekrächze von herumflatternden Raben. Aber die schliefen normalerweise doch nachts. Ob es vielleicht ein Käuzchen war? Oder doch etwas ganz anderes?

Sie dachte, dass Giovanni mit Simmi wieder irgendwelche wilden Spielchen machte, es war ein seltsames Geräusch, aber sie war noch ziemlich benommen vom Schlaf, lauschte kurz ins Kinderzimmer, dort war aber alles friedlich, und schlief wieder ein. Sie erzählte Almtrud davon, die mit weitgeöffneten Augen Heidis Bericht verfolgte. Hatte ihr Günni also doch nicht gesponnen? Was war dann die Quelle des Geräuschs? Wieso flatterten Krähen nachts durchs Dorf?

Heidi zuckte mit den Schultern. Wer weiß, vielleicht sei ja ein wildes Tier verendet, die gäben ja im Todeskampf manchmal schauerliche Geräusche von sich. Und Krähen waren Aasfresser, möglicherweise hatten sie nur ihre gefiederten Kameraden verständigt, dass es etwas zu fressen gab.

Nachdenklich stapfte Almtrud hinüber zu ihrer Haushälfte. Vielleicht sollte sie Günni ja noch einmal fragen, was er wirklich gehört hatte.

V

Landstraße Nr. 16, kurz vor dem Dorf

Samstag, 29. September 2007


Mit einem schlechten Gewissen schlenderte Ernst Flachbein Richtung Dorf. Er war seit vier Tagen unterwegs. Auf Tour, nannte er seine monatlichen Ausbrüche aus dem Alltag des Dorflebens. Immer, wenn sein Geld alle war, kam er wieder nach Hause zurück. Manchmal reichte es nicht mal mehr für ein Busticket, dann musste er laufen.

Trotz seiner vierundsiebzig Jahre war Flachbein noch gut zu Fuß. Er war eine Frohnatur. Meistens jedenfalls. Im Dorf waren seine Eskapaden bekannt. Die anderen nannten ihn etwas neidisch auch den ewigen Zigeuner. Naja, das Herumzigeunern, das lag ihm im Blut. Schon vor vierzig Jahren zog es ihn hinaus. Damals war er mit dem alten Trecker losgefahren, tuckerte wochenlang durch die Gegend, machte dabei stets einen großen Bogen ums Dorf. Er wollte eben was erleben.

Seine Frau war Kummer gewöhnt. Oftmals wurde sie von der Polizei benachrichtigt, dass sie ihren Mann abholen könne. Er wäre mal wieder aufgegriffen worden. Mittellos, etwas ungepflegt, aber dennoch gesund wie ein Fisch im Wasser.

Meist lag eine Anzeige wegen öffentlicher Ruhestörung vor, manchmal auch eine wegen sexueller Belästigung. Die konnte jedoch immer abgewehrt werden. Flachbein war harmlos, auch wenn er den Frauen manchmal nachstellte. Angerührt hatte er noch keine.

Immer, wenn es ihm gelungen war, ein paar Euro zusammenzusparen, machte er sich auf den Weg. Je nachdem, wieviel Geld er hatte, fiel seine Tour etwas länger oder kürzer aus. Diesmal hatte es genau für vier Tage gereicht.

Übernachtet hatte er einmal in einem alten Heuschuppen, einmal in einer verfallenen Kaserne und einmal unter freiem Himmel. Seine Geldvorräte reichten immer gerade so, um etwas Essbares zu kaufen und sich mit dem Überlandbus oder dem Regio fortzubewegen.

Das Unterwegssein, das war es, was ihn reizte. Die Landschaft an sich vorbeiziehen zu sehen, alle fünf Minuten einen neuen Horizont zu entdecken, dafür lohnte es sich, die Strapazen auf sich zu nehmen und aus dem sicheren Dorfidyll aufzubrechen.

Seine Tour hatte ihn bis an den Rand Brandenburgs gebracht. Noch ein paar Kilometer weiter und er wäre in Mecklenburg-Vorpommern gelandet. Doch davor schreckte er zurück. Nein, so weit weg wollte er nun doch nicht.

Zufrieden mit sich und der Welt zockelte er an dem Samstagmorgen auf der Landstraße Richtung Dorf. Ein Milchtanklaster hatte ihn bis zur großen Kreuzung mitgenommen. Der Milchtanker fuhr weiter in die Prignitz, er musste jetzt nur noch die paar Kilometer bis zum Dorf laufen. Ein schöner Morgenspaziergang, vielleicht drei Stunden Wanderung …

Und dennoch hatte er ein schlechtes Gewissen. Er hatte vor ein paar Wochen, kurz vor seinem vierundsiebzigsten Geburtstag seiner Frau geschworen, nicht mehr auf Tour zu gehen. Nein, mit dem Herumzigeunern sei jetzt Schluss, versprach er ihr. Elvira war skeptisch, doch sie freute sich. Endlich kam der olle Zausel zur Vernunft.

Tja, und dann war es wieder passiert. Die Sehnsucht nach der Ferne kam über ihn wie bei Zigarettenrauchern die Sucht nach dem Nikotin. Aus Elviras Portemonnaie hatte er sich einen Hunderter stibitzt und war einfach so am Mittwochmorgen mit dem Überlandbus losgefahren. Erst im Bus hatte er sich beruhigt. Sie hatte nichts bemerkt, war wie immer rüber zu Wally Wüllersbarth gegangen, um mit ihr Kaffee zu trinken. Wally, eigentlich Waltraud, war ihre beste Freundin.

Er hatte keine wirklichen Freunde im Dorf. Die meisten Nachbarn waren mit sich selbst beschäftigt, grüßten nur kurz und widmeten sich dann ihrem Hof und Garten. Das war ihm zu langweilig. Dutzende Geschichten konnte er erzählen von seinen Touren. Aber sie schienen niemand wirklich zu interessieren. In den kalten Winternächten hatte er angefangen, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Aus dem Lebensmittelmarkt hatte er sich ein paar linierte Schulhefte mitgebracht. Die kosteten nicht viel.

Da schrieb er alles hinein. Nicht chronologisch geordnet, nein, so, wie es ihm gerade wieder einfiel. Seine Erlebnisse waren vielfältig und aufregend. Er war in einem russischen Panzer mitgefahren und hatte bei Berufsfischern auf dem Kahn geholfen, hatte zwei Tage in einem Kühlhaus verbracht und war zum Helden avanciert, als er einem kleinen Mädchen das Leben rettete. Die Kleine war beim Baden zu weit hinaus ins Tiefe geraten. Sein beherzter Sprung ins Wasser brachte sie wieder zurück. Prustend und heulend lag sie dann im Gras. Die Mutter hatte sich ebenfalls heulend ihm an den Hals geworfen. Naja.

Als Erntehelfer war er auf einem »Gurkenflieger« gefahren und hatte in den Gewächshäusern Tomaten gepflückt, Spargelstechen war nicht so sein Ding, hatte er aber auch eine Woche ausprobiert. Ein Binnenschiffer nahm ihn einmal elbaufwärts von Mühlberg bis nach Wittenberge mit. Das war toll. Die Welt von einem Schiff aus vorüberziehen zu sehen, war noch einmal etwas ganz Anderes als sie durch das Fenster eines Zuges zu beobachten.

Ein aufregendes Leben war das, er war eigentlich zufrieden mit dem, was er erlebt hatte. Und jetzt war er wieder zurück.

Vielleicht noch zweihundert Meter bis zu den ersten Häusern des Dorfes. Die Landstraße war hier schnurgerade. Links und rechts war die große Einöde der abgeernteten Felder, nichts bot sich dem Auge als Ruhepunkt an außer den Dächern des Dorfes. Selten kam ein Fahrzeug vorbei. Die Landstraße verband nur kleine Flecken miteinander. Irgendwo im Norden mündete sie dann auch in eine größere Fernverkehrsstraße. Er kannte die Stelle. Ein gelbes Schild zeigte schon lange vorher den Abzweig an.