Krähwinkeltod

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»Wollen Sie mal probieren? Schmecken echt prima.«

Ehe Linthdorf ablehnen konnte, hatte er zwei leuchtend rote Tomaten in die Hand gedrückt bekommen. Sie rochen wirklich sehr angenehm, genauso wie reife Tomaten duften sollten. Er kannte den Geruch aus seiner Kindheit, als im Garten seiner Großmutter Stabtomaten reiften, deren kleine gelbe Blüten ihn schon damals faszinierten. Wie aus den kleinen Blüten dann erst leuchtend grüne und schließlich sattrote Kugeln wurden, war für den damals zehnjährigen Gartenhelfer ein Wunder. Jetzt war plötzlich dieses wunderbare Gefühl aus seiner Kindheit wieder da. Linthdorf ertappte sich dabei, sentimental zu werden. Für einen Moment waren die Ermittlungen ausgeblendet und die zwei Männer standen sich gegenüber als fachkundige Tomatenliebhaber.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Danke, ja, ich liebe frische Tomaten.«

Erhard Kappenbach war zufrieden. Endlich mal jemand, der sein Gärtnertalent würdigte. Gisela maulte nur immer herum, egal was er ihr auch präsentierte, alles war nicht gut genug für sie. Tomaten mochte sie schon gar nicht, warum, wusste er nicht. Dabei war ein gut gewürzter Tomatensalat doch etwas Herrliches.

»Gut, also, Tomaten, ja, die sind bei Ihnen wirklich in guten Händen. Nochmal vielen Dank. Aber sie ahnen, dass ich nicht wegen ihrer Gartenkünste gekommen bin. Es geht um den Toten.«

Kappenbach seufzte. Ja, natürlich, seit der Tote am Sonnabend von dem Herumtreiber Flachbein gefunden worden war, gab es eigentlich nur ein Gesprächsthema.

Gisela hing seitdem nur noch bei ihrer Schwester herum und hörte sich deren Schauermärchen an. Irene wollte den Todesschrei gehört haben und konnte seither nicht mehr richtig schlafen. Sie hatte panische Angst. Anfangs dachte sie, einer Illusion aufgesessen zu sein, doch der Leichenfund gab ihr recht. Sie hatte wirklich etwas gehört. Jedem erzählte sie nun ihre Geschichte, ob er sie hören wollte oder nicht.

Kappenbach berichtete dem Kommissar von seiner Schwägerin und ihren Nachterlebnissen. Es war ja nicht das erste Mal, dass Irene seltsame Dinge berichtete. Angeblich schlich auch Hubi, ihr Verstorbener nachts durch das Haus. Aus purer Bosheit würde der Geist ihres Mannes das machen, um sie zu kontrollieren. Kappenbach erwähnte das, um dem Polizisten eine Idee von dem Wahrheitsgehalt in Irenes Äußerungen zu geben.

Er war jedenfalls der festen Meinung, dass seine Schwägerin seit dem Tod ihres Gatten Hubert ein wenig gelitten habe. Allein in dem großen Haus …, naja, wundern müsse man sich da nicht. Zumal sie nie allein gelebt habe. Immer war jemand für sie da.

Seit Huberts Tod würde seine Frau Gisela immer mehr die Stellung Huberts bei Irene einnehmen. Täglich fuhr sie mit ihrem Elektroroller zu ihr, betüttelte sie, kümmerte sich um alles und erledigte diverse Botengänge.

Dabei war Gisela im Gegensatz zu Irene gehandicapt. Mit ihrer künstlichen Hüfte könne sie kaum laufen.

Kappenbach war von seiner Schwägerin sichtlich genervt. Wenn Gisela nur ein Zehntel der Energie, die sie für Irene aufbrächte, zu Hause einsetzen würde, wäre das schon okay. Aber da blieb alles an ihm hängen, zusätzlich bekäme er auch noch von dem Sohn und der Schwiegertochter Aufträge.

Als ob er der Hausmeister wäre!

Linthdorf war anfangs noch amüsiert von dem langen Monolog des Tomatenzüchters. Aber je mehr er die Verbitterung des Mannes bemerkte, desto unwohler fühlte er sich.

Ob denn Irene anzutreffen sei?

Kappenbach zuckte mit den Schultern. Möglich, möglich auch nicht. Manchmal fuhren Irene und Gisela einfach in die Stadt zum Einkaufen und Kaffeetrinken.

Und wo das Haus …?

Ach, die Nummer Zehn?

Das ockerfarbene Haus am anderen Ende …?

Linthdorf wurde nachdenklich. Wenn die Schwägerin, die am weitesten entfernt vom Fundort der Leiche wohnte, den Todesschrei gehört hatte, dann musste der Schrei wirklich sehr laut gewesen sein. Konnte man mit einer solchen tödlichen Verletzung überhaupt noch so laut schreien? Er musste dringend mit dem Gerichtsmediziner sprechen.

Und wenn der Schrei nicht von dem Toten, sondern vom Täter stammte? Was für ein Drama hatte sich in der Nacht abgespielt?

Plan der Siedlung Krähwinkel

1

3

2

7

11

8

12

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10

5

6

9

13

14

Haus Nr. 1 altes Vorwerk Krähwinkel, Ruine, steht leer

Haus Nr. 2 Bauernhof, Doppelhaus: Weidenbaums, Gontschoreks

Haus Nr. 3 Bauernhof, Kleinschmidts (Jesko und Wanda)

Haus Nr. 4 Bauernhof, Doppelhaus: Flachbeins, Wüllersbarths

Haus Nr. 5 einfaches Haus: Bachhorn

Haus Nr. 6 einfaches Haus: Baierstedts (sind im Pflegeheim in

Lindow), steht leer

Haus Nr. 7 einfaches Haus: Lehmbecks (verstorben), steht leer

Haus Nr. 8 einfaches Haus: Kruses

Haus Nr. 9 Doppelhaus: Schallerts, Leimdank

Haus Nr. 10 einfaches Haus: Flumming

Haus Nr. 11 Doppelhaus mit Anbau: Humprecht, Spengelraths,

Vasquez-Heumann

Haus Nr. 12 einfaches Haus: Golm

Haus Nr. 13 einfaches Haus: Kleinschmidts (Boris und Nancy)

Haus Nr. 14 Doppelhaus: Kappenbachs Senior und Junior

II

Siedlung Krähwinkel

Dienstag, 2. Oktober 2007


Das Haus Nummer Zehn war eindeutig kein Bauernhaus. Es hätte in jedem beliebigen Vorort einer größeren Stadt stehen können. Ein zweistöckiges Einfamilienhaus, wie es üblicherweise in den Sechziger gebaut wurde. Praktisch, schmucklos und ohne dem sonst für Landhäuser so typischen Charme.

Linthdorf konnte beim Anblick des Hauses sofort verstehen, warum Irene nachts Geister sah. Das Haus hatte etwas Düsteres an sich. War es nun der dunkle Putz oder die hohen, ungeschnittenen Obstbäume, die rings um das Haus wuchsen und so den Fenstern das Licht wegnahmen, Linthdorf konnte es schwer konkretisieren. Es war eher ein unbestimmtes Gefühl.

In den Bäumen im Garten waren ungewöhnlich viele schwarze Vögel zu sehen. Als ob der Garten ein Krähenparadies war. Als Linthdorf sich näherte, flatterten sie aufgeregt schimpfend davon.

Kein Vergleich zu den bisher besuchten Häusern, die eine gewisse ländliche Gelassenheit ausstrahlten. Er würde in so einem Haus spätestens nach einem Jahr depressiv sein. Wer weiß, was die Besitzerin für dunkle Obsessionen hatte, wenn sie es hier aushielt.

Linthdorf suchte die Klingel. Versteckt neben dem Briefkasten war ein kleines Namensschildchen, direkt darunter befand sich ein runder Klingelknopf aus schwarzem Aminoplast. Solche Klingeln waren schon lange nicht mehr üblich. Sie stammte wohl noch aus der Zeit des Hausbaus.

Ein schwerer Gong ertönte. Die Klingel funktionierte. Der Kommissar hatte das kleine Elektrofahrzeug entdeckt, dass im Schatten eines Fliederbaums parkte. Es gehörte sicherlich der Schwester von Irene Flumming, der Gattin von Erhard Kappenbach. Nun, die würde er dann gleich mit kennenlernen.

Wieder vergingen lange Sekunden bis sich die Tür öffnete. Die Dorfbewohner schienen selten Besuch zu bekommen. Aber vielleicht kam es Linthdorf auch nur so langsam vor.

Der Lebensrhythmus hier draußen war von einer zähen Langsamkeit geprägt. Alles wurde bedächtig und mit Ruhe vollzogen. Die wenigen Autos schlichen mit Tempo dreißig durchs Dorf, selbst die Katzen liefen betont langsam, als ob sie wüssten, dass auf den stillen Straßen keine Gefahr drohte.

In der Tür erschien eine ältere Dame mit kupferrot gefärbtem Haar. Sie schaute skeptisch auf den großen Mann am Gartentor. Wer war das denn?

»Haben sie geklingelt?«

Linthdorf fand die Frage dumm. Wer denn sonst?

Er ignorierte die Frage und ging in die Offensive. »Sind Sie Frau Irene Flumming?«

Die Frau zögerte einen Moment bevor sie antwortete.

»Ja, bin ich. Und wer sind Sie?«

Linthdorf zückte seinen Ausweis. »Linthdorf, LKA Potsdam. Ich untersuche den Todesfall. Sie erinnern sich? Samstags wurde bei Ihnen vor dem Dorf ein Toter im Straßengraben gefunden.«

Natürlich erinnerte sich Irene Flumming. Das Ereignis verfolgte sie sogar bis nachts in ihre Träume, die einen erholsamen Schlaf unmöglich machten.

Hinter Irene Flumming tauchte eine zweite Frau auf. Etwas kleiner, dafür deutlich kompakter. Das musste Gisela Kappenbach sein, die Schwester Irenes.

»Was ist denn los? Mit wem sprichst du denn?«

Irene schaute zu ihrer Schwester, die sich gerade so unwillig zu Wort gemeldet hatte.

»Polizei, die Polizei will etwas von mir. Wohl wegen der Leiche vom Sonnabend …«

»Siehste, das hast davon, dass du überall rumposaunt hast mit deinen Fantastereien. Ach, Renchen!«

Gisela ignorierte den Kommissar vollkommen. Sie hatte nur Augen für ihre Schwester. Linthdorf fühlte sich trotz seiner körperlichen Präsenz wie ein überflüssiges Wesen. Die Schwestern schienen in ihrer eigenen Welt zu leben.

»Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Die beiden Frauen stutzten. Ja, der Mann stand immer noch vor dem Gartentor. Irene schaute zu Gisela, die mit den Schultern zuckte. »Das haste dir selber eingebrockt.«

Linthdorf hatte sich inzwischen schon Richtung Haustür bewegt. Erstaunt stellten die beiden Frauen fest, was für ein Riese sich da vor ihnen aufbaute. Beeindruckt durch die Größe, die durch den schwarzen Hut noch um ein paar Zentimeter höher erschien, duckten sich die beiden Frauen unwillkürlich.

 

»Kann ich reinkommen? Oder wollen wir die Befragung hier an der Haustür fortsetzen?«

Ungehalten über so viel Ignoranz und Ablehnung trat Linthdorf einfach ins Haus. Die beiden Frauen trabten hinterher. Irene ergriff endlich das Wort, unsicher, wie man mit einem solchen Gast denn zu verfahren habe.

»Ja, die Sache mit dem Schrei … Keiner wollte es mir glauben. Aber ich habe ihn gehört. Ganz sicher.«

»Wann haben Sie den Schrei gehört?«

»In der Nacht zum Donnerstag, letzte Woche. Ich konnte wieder einmal nicht schlafen. Wissen Sie, seit Hubi, also Hubert, mein Mann, also, seit Hubi tot ist, da kann ich nicht mehr gut schlafen. Immer habe ich das Gefühl …«, sie stockte für einen Moment, sah zu ihrer Schwester, die gelangweilt zum Küchenfenster hinausschaute, als ob sie das alles gar nichts anginge.

Linthdorf bemerkte den Blick. »Also, sie konnten nicht einschlafen. Was für ein Gefühl hatten Sie?«

Irene schluckte und fuhr mit leiser Stimme fort.

»Naja, manchmal denke ich, dass Hubi noch da ist und leise im Haus umgeht.«

Linthdorf war dieses Phänomen bekannt. Speziell bei Menschen, die lange Zeit zusammengelebt hatten, war das ein übliches Symptom der Verarbeitung des Verlustes. Es hatte nichts mit etwaigen Sinnesstörungen oder beginnender Verrücktheit zu tun.

Verständnisvoll nickte er und schaute Irene mitfühlend an. Die schien, durch die Zustimmung ermutigt, wieder etwas selbstsicherer zu werden.

»Ich mache mir dann immer den Radio an, um abgelenkt zu werden und setze mich in die Küche. Auch letzten Mittwoch war es so. Hubis Geist war mir begegnet. Draußen vorm Haus sitzen die Krähen im Baum und machen Krach. Es sind Totenvögel. Sie haben die Seelen der Verstorbenen in sich. Huberts Seele ist auch dabei. Er kontrolliert mich, schaut nach mir, ob alles in Ordnung ist. Dennoch ist es mir immer nicht geheuer. Also, ich saß da im Dunkeln und hörte Radio, als plötzlich ein langgezogener Schrei ertönte, so als ob jemand großen Schmerz erleidet. Ich kann bis heute nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war.«

»Wann genau haben Sie den Schrei gehört?«

»Es war so gegen Drei. Die Nachrichten kamen gerade im Radio. Die kommen immer nachts jede volle Stunde, weiß ich ganz sicher.«

Linthdorf nickte. Die Frau hatte wirklich denselben Schrei gehört, den auch Golm gehört hatte. Ihre Angaben deckten sich.

»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«

Irene schüttelte den Kopf. Es war für ihre angegriffenen Nerven schon genug. Der Schrei verfolgte sie. Gisela verstand das nicht. Für Gisela war sie eine Spinnerin.

»Haste dem Polizisten auch von deinen Gespenstern erzählt? Die du drüben in der Sieben immer siehst?«, Gisela war unwillig. Sie hatte dem kurzen Dialog gelauscht und fand die ganze Fragerei für ziemlich albern. Was sollten die nächtlichen Alpträume einer überspannten, alten Frau mit dem Mord zu tun haben?

Der Polizist sollte ruhig merken, was für eine vertrauenswürdige Person Irene war. Irene tickte doch nicht mehr ganz richtig!

Linthdorf schaute fragend zu der zu einem Häufchen Elend zusammengeschrumpften Frau auf dem Küchenstuhl. Ihr war es sichtlich peinlich, dass ihre Schwester das Thema angesprochen hatte. Seit ein paar Wochen glaubte sie, schräg über die Straße in dem leerstehenden Haus Nummer sieben Stimmen gehört zu haben. Mitten in der Nacht. Auch Licht brannte dort, obwohl die Jalousien heruntergelassen waren. Es war ihr unheimlich.

Nur Gisela hatte sie davon erzählt. Die hatte nur den Kopf geschüttelt. Seit Jahren war keine Menschenseele mehr in der Sieben zugange. Das wüsste sie doch. Sie sehe eben schon Gespenster.

Linthdorf bedankte sich bei Irene Flumming für ihre Mitarbeit, grüßte mit einem Kopfnicken Richtung Gisela Kappenbach und verließ das Haus Nummer Zehn.

Es war an der Zeit, sich dem verlassenen Haus Nummer Sieben zu widmen. Möglicherweise gab es dort Spuren, die auf den Mord hinwiesen. Abwegig war es nicht.

III

Siedlung Krähwinkel, Haus Nr. 7

Dienstag, 2. Oktober 2007


Das Haus Nummer sieben war ein unscheinbarer Bau. Es machte einen ärmlichen Eindruck. Nur einstöckig, kleine Fenster und mit einem schmalen Garten. Die der Straße zugekehrte Seite war verputzt, grau, allerdings schon stark nachgedunkelt. Alte hölzerne Jalousien verhinderten den Blick ins Innere. Auch die Haustür war mit einer Jalousie versehen. Unnahbar wirkte das kleine Gehöft. Zwei kleine Rotdornbäumchen zierten den Eingangsbereich, das war alles. Kein Vorgarten, keine schattigen Bäume, nichts.

Hinter dem Haus gab es einen schmalen Garten, der inzwischen vollkommen verwildert war. Brennnesseln standen meterhoch, der windschiefe Zaun war von Kletterpflanzen überwuchert. Eine alte Wanne war mit Regenwasser randvoll gefüllt.

Möglicherweise waren schon seit Jahren keine ordnenden Hände mehr tätig gewesen. Linthdorf hatte in seiner Liste eine Besitzerin aus Schwalbach in Hessen ausgewiesen. Die schien sich aber nicht weiter um ihren Besitz im Brandenburgischen zu kümmern.

Er hatte das Anwesen einmal umrundet. Auf der Rückseite gab es eine zweite Tür, die nicht mit einer Jalousie verhangen war. Auch die Fenster auf der Rückseite waren frei. Vorsichtig schaute Linthdorf hinein. Er musste sich dazu nicht weiter anstrengen mit seinen zwei Metern Körpergröße.

Dämmeriges Licht im Innern. Die Räume waren leer. Viel konnte er nicht erkennen. Alles machte den Eindruck von Dornröschenschlaf. Auf dem Fußboden sah er etwas Schwarzes liegen. Linthdorf schaute noch einmal genauer hin. Es war eine tote Krähe.

Wahrscheinlich war sie über den Schornstein ins Haus gelangt und fand nicht mehr hinaus. Sie war jämmerlich verhungert. Er seufzte. »Armes Tier.«

Als Linthdorf wieder auf die Straße zurückkam, stand ein älterer Mann vor ihm. Er schien gewartet zu haben.

»Da wohnt schon lange keiner mehr.«

»Wissen sie, wann das Haus verlassen wurde?«

Der alte Mann kratzte sich am Kopf.

»Elli und Karl sind nun schon seit drei Jahren tot. Kurz hintereinander gestorben, erst Elli, drei Monate später Karl. Davor waren sie vier Jahre im Pflegeheim. Naja, waren ja auch beide über Achtzig. Ja, so sieben Jahre wird es her sein … Warum wollen Sie das wissen? Möchten Sie es kaufen?«

»Nein, nein. Linthdorf mein Name, LKA Potsdam. Ich interessiere mich beruflich für das Haus. Wer sind Sie, wenn ich fragen darf? Wohnen Sie hier in der Nähe?«

»Nö, ich wohn‘ drü’m in der Fünf. Bachhorn mein Name.«

Von dem alten Mann ging ein strenger Geruch aus. Nikotin. Alles roch nach Zigarettenqualm an ihm. Er selbst sah von dem vielen Rauch aus wie vorzeitig mumifiziert. Die Haut war gelblich und voller Fältchen. Schwer einzuschätzen, wie alt er wirklich war.

Linthdorf bemerkte, dass er sich nur schleichend vorwärtsbewegte. Jeder Schritt schien ihm viel Kraft zu kosten. Alle drei Schritte blieb er stehen.

Ein trockener Husten schüttelte den alten Mann. Linthdorf wartete, bis er sich wieder gefangen hatte.

»Wohnt ab und zu noch mal jemand in dem Haus?«

»Wieso? Da gibt’s nix, absolut gar nix.«

»Wer kümmert sich denn um das Haus?«

»Na niemand. Es steht leer. Irgendwo in Hessen wohnt eine Nichte der beiden … Aber die war noch nie hier gewesen.«

»Wer hat das Haus denn leergeräumt?«

»Na, als die beiden ins Pflegeheim kamen, konnten sie doch ihre Möbel mitnehmen. Den Rest haben sie entsorgt. Sperrmüll …War ja nicht viel Zeugs, was da wegzuholen war.«

Wieder hustete und spuckte der Mann. Längeres Sprechen viel ihm ebenfalls schwer.

Linthdorf hatte Mühe alles zu verstehen, was der Raucher von sich gab, da fast nach jedem Satz ein Hustenanfall folgte.

»Die beiden alten Leute hatten keine Kinder?«

»Doch, hattense, Dorchen. Die ist aber schon lange tot. Verkehrsunfall. War gegen einen Baum gefahren. Nicht mal fuffzich geworden.«

»Ach!«

»Ja, das ist jetzt bestimmt schon zehn Jahre her.«

»Und Dorchen lebte hier mit im Haus?«

»Nee, nee! Dorchen war schon lange ausgezogen. In Neuruppin war die untergekommen. Arbeitete auch dort. Irgendwas im Büro. Hatte auch Pech mit den Männern. Naja, den Jungen hattse dann ja auch allein großgezogen.«

»Den Jungen?«

»Ja, sie hatte doch nen Sohn, der war immer mal in den Ferien hier bei seinen Großeltern. So nen kleines, schmales Bürschchen.«

Linthdorf wurde hellwach. Er holte das Foto hervor.

»Sah der Junge so aus?«

Bachhorn starrte lange auf das Foto. Dann zuckte er mit den Schultern. »Könnte möglich sein. Hab den Jungen schon lange nicht mehr geseh’n.«

»Wissen Sie, wie er hieß?«

»Rico, so habensen immer gerufen. Aber ich glaub‘, der richtige Name war Enrico. Nachnahmen weiß ich nicht. Könnte aber derselbe sein wie von Elli und Karl. Dorchen hatte ja nie geheiratet. Lehmbeck, so hießen die wohl.«

»Danke, Sie haben mir sehr geholfen.«

Linthdorf schüttelte dem Raucher die Hand. Seltsam kraftlos fasste die sich an, als ob kaum noch Energie in dem Mann war.

Dann marschierte er Richtung Vorwerk davon. Es wurde Zeit, zurückzufahren nach Wittstock. Jetzt begannen die Recherchen. Er würde einige Stunden in diversen Registern herumsuchen müssen um die mögliche Identität des Toten zu klären.

Drei Unfälle


Der Geist der Raubritter

Wind heult übers flache Land,

Regenwolken jagen hinweg über die Köpfe,

im Sturmgeheul plötzlich ein paar schrille Töne,

nicht von dieser Welt.

Schaudernd blicke ich mich um,

Schattenwesen am Horizont.

Etwas blinkt, gehämmerter Stahl! Sind’s Lanzen?

Oder gar Schwerter? Jagen wieder die Quitzowbrüder?

Oder ist’s ein Edler Gans von Putlitz gar?

Alles nicht wahr! Ich schütt’le den Kopf,

was für ein törichter Tropf,

Erleichterung macht sich in mir breit.

Es sind nur Windräder, die leise sirren im Takt.

I

Siedlung Krähwinkel, Haus Nr. 10

Mittwoch, 3. Oktober 2007

Der Mittwoch war frei. Es war der dritte Oktober – Nationalfeiertag. Im Dorf war davon nicht viel zu spüren, außer dass alle Bewohner zu Hause waren und viele Autos einfach vor den Häusern parkten.

Der Tag begann mit einem erfrischenden Nieselregen. Nieselregen gehörte in der Prignitz zum Alltag. Selbst, wenn im restlichen Brandenburg trockenes Wetter war, konnte die Prignitz immer mal wieder mit einem leichten Regenschauer aufwarten. Die Prignitzer hatten sich mit ihrem feuchten Klima arrangiert, hatten immer einen Schirm griffbereit oder wenigstens eine Kopfbedeckung parat. Sie wussten, dass der Regen nie lange dauerte und der ständig wehende Wind die Wolken wegblasen würde.

Gisela Kappenbach wollte an diesem Morgen gleich nach dem Frühstück zu ihrer Schwester um mit ihr nach Wittstock zu fahren. Dort war Volksfest. Naja, eigentlich mochte sie die Volksfeste nicht so sehr, es waren einfach zu viele Menschen und die Verkaufsstände und Bratwurstbuden waren auch immer dieselben. Aber heute gab es ein Kulturprogramm mit Schlagersängern und Musicalstarlets.

In der Zeitung waren sie schon groß angekündigt worden: Regina Doll, Moni & Klaus-Dieter, Andy Lübke, Mischa Koslowski, Rita Windell und Bruno & Benno. Alles Stars aus den Siebzigern, die immer noch auf Tour waren und gerade in den kleineren Provinzstädten ein dankbares Publikum hatten. Außerdem war ihr Lieblingsmoderator Siggi-Keule Paschulke engagiert worden. Der war eine feste Bank, wenn es um gute Stimmung ging.

 

Man fühlte sich noch einmal zurückversetzt in seine Jugend, klatschte und schunkelte zu den alten Ohrwürmern und bekam einfach gute Laune. Gisela konnte gute Laune gebrauchen. Sie war seit Tagen nur noch genervt. Vor allem von ihrer Schwiegertochter, die es immer wieder schaffte, mit kleinen giftigen Bemerkungen über Marius‘ Fähigkeiten als Ehemann Gisela zur Weißglut zu bringen. Aber auch über Erhard, der immer nur in seinem grauen Kittel herumrannte und sich einzig um seine blöden Tomatenpflanzen zu kümmern schien.

Ja, und seit einer Woche spann auch Irene. Ihre Schlaflosigkeit und ihr Tick mit dem toten Hubi brachten Gisela langsam um die letzten Nerven. Irene musste raus aus dem Haus, sonst drehte sie noch ganz durch.

Wittstock und das Volksfest wären da genau richtig, zumal Irene auf die ollen Schlager von früher noch viel mehr abfuhr als sie selbst. Immer hatte sie in ihrem Radio »Antenne Brandenburg« eingestellt, ein Sender, der speziell für sein reiferes Publikum die Hits von früher spielte.

»Da war Sand in deinen Augen …«, »Sieben Mal Abendrot, sieben Mal Morgenrot«, »Ein himmelblauer Trabant« und »Kleiner Vogel, komm …« waren ihre Lieblingshits, die sie auch immer in der Küche leise vor sich hin trällerte.

Naja, Reni war eben eine romantische Seele, war sie schon immer, seit ihrer Kindheit war die größere Schwester eine Träumerin.

Wohingegen sie die praktische Pragmatikerin war.

Reni musste ja unbedingt den verdusselten Hubert Flumming heiraten, der den lieben langen Tag im Sessel abhing und seine Zeitung las.

Da hatte sie mit Erhard schon eine weitaus bessere Partie gemacht. Aber Erhard, der einst so schneidige Ingenieur, war inzwischen auch vollkommen vertrottelt. Das Rentnerdasein bekam ihm nicht. Früher war er immer mit Schlips und Anzug unterwegs, aber jetzt hatte er es sich mit seinem grauen Kittel und den Trainingshosen arrangiert und züchtete Grünzeug. Gisela seufzte. Nein, so hatte sie sich ihren Ruhestand nicht vorgestellt.

Gestern Abend hatte sie bei Reni angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie am Morgen komme um mit ihr nach Wittstock zu fahren. Reni war auch ganz angetan von der Idee, speziell von dem Freiluftkonzert.

Gisela hatte einen Schlüssel zur Nummer Zehn, musste daher auch nicht klingeln. Sie wusste, dass Irene den Klingelton nicht mochte, erschrak immer furchtbar, wenn der Gong ertönte.

Etwas war an diesem Morgen anders als sonst. Üblicherweise wurde sie immer von dem Gekrächze der vielen Raben in den Bäumen begrüßt. Doch heute war es still, nicht eine einzige Krähe war zu sehen. Als ob sie alle vor etwas geflohen waren oder sogar verscheucht wurden. Seltsam.

Die Haustür war offen. Es roch unangenehm, als ob auf dem Herd Reste angebrannt waren. Hatte Reni etwa wieder mal die Herdplatte vergessen?

Mühsam humpelte Gisela die kleine Treppe hinauf zur Tür. Der Geruch wurde stärker. Stechend drang er ihr in die Nase, dunkler Qualm kam aus der Küche. Mit drei Schritten war sie dort. Vor lauter Qualm konnte man nichts sehen. Gisela hielt sich die Nase zu und stürzte zum Fenster. Luft!

Endlich lichtete sich der Qualm. Doch Gisela war entsetzt. Am Herd waren die beiden Cerankochfelder an, glühten in einem seltsamen Zinnoberrot in voller Stärke. Auf den kreisrunden Feldern lag Irenes Kopf. Die kupferroten Haare waren verschmort, die Haut der linken Gesichtshälfte verbrannt, richtig schwarz verkohlt. Irene starrte aus ihren dummen Unschuldsaugen ins Leere. Eine Hand lag auf dem zweiten Kochfeld, stank fürchterlich, da sie schon weitestgehend schwarz verbrannt war. Irenes Haut war hochrot, so als ob sie zu lange in der Sauna gewesen wäre.

Gisela musste sich übergeben, rang nach Luft. Für einen Moment war sie vollkommen paralysiert.

Sie musste die Kochplatten ausmachen!

Schnell!

Mit aller Energie, die ihr im Augenblick noch verblieben war, zwang sie sich, die zwei Schritte bis zum Herd zu gehen und die Reglerknöpfe zurückzudrehen. Beide Platten waren bis zum Anschlag auf volle Hitze eingeschaltet.

Was hatte Irene da nur kochen wollen?

War sie ausgerutscht?

Oder hatte sie einen Infarkt oder Schlaganfall erlitten und war dann auf die Platten gefallen?

Oder hatte sie versucht, sich umzubringen?

Gisela fiel die offene Haustür ein. Wieso hatte Irene die Haustür offengelassen?

Zumal sie doch sonst immer Angst vor Einbrechern hatte.

Da stimmte doch etwas nicht. Vorsichtig zog sie die Frau vom Herd weg. Ganze Fetzen verbrannten Gewebes blieben auf den Ceranfeldern zurück und rochen unangenehm. Gisela traute sich gar nicht, die Verletzungen in Irenes Gesicht und an ihrer Handfläche anzuschauen. Das einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass Irene tot war.

Fieberhaft suchte sie ihr Handy. Zuerst musste sie Erhard Bescheid geben, dass sie heute doch nicht nach Wittstock fahren könne. Und dann müsse sie dringend einen Arzt rufen. Der würde schon wissen, was zu tun sei.

Müde und verstört ließ sie sich auf einen Küchenstuhl fallen. Der Körper der unglücklichen Irene war auf den Küchenboden geglitten. Dunkles But bildete eine Lache, aber das war Gisela im Moment egal. Sie atmete tief durch. Aus dem Fenster kam kühle, feuchte Luft herein, milderte den durchdringenden Gestank nach verbranntem Fleisch.

Mein Gott! Was für ein Ende!

So wollte sie nicht aus dem Leben scheiden. Gut, dass sie nicht allein leben musste. Nein, so wollte sie wirklich nicht enden. Ein kurzer Moment der Schwäche reichte aus, um einen tödlichen Unfall zu erleiden.

Vielleicht hatte sie ja noch gerufen?

Konnte sich möglicherweise nicht mehr bewegen?

Ach, wenn sie diese schmerzlichen Gedanken … Nur nicht zu Ende denken! Das war ja schlimmer als jeder Horrorfilm!

Was hatte Irene noch gespürt?

Gisela schaute immer wieder in die weitaufgerissenen Augen der Toten, die inzwischen in einer dunklen Blutlache auf dem Küchenboden lag. Die Fliesen waren fast vollständig von Blut bedeckt. Unwillkürlich zog Gisela die Beine an.

Grässlich!

Sie musste hier raus!

Außerdem sah sie an sich herab. Erbrochenes klebte an ihrem Pullover und ihrer Hose. So konnte sie dem Arzt doch nicht unter die Augen treten. Sie humpelte ins Bad, das gleich neben der Küche war. Draußen hielt ein Auto. Durchs Fenster erkannte sie einen Krankenwagen.

Den Pullover hatte sie schnell ausgezogen. Im Bad hingen immer ein paar alte Dederon-Kittelschürzen, die von Irene sorgsam aufgehoben worden waren. Relikte aus dem alten Osten. Immer hatte sie sich lustig gemacht über die nostalgischen Anwandlungen ihrer Schwester. Jetzt war sie froh, eine der buntgemusterten Kittelschürzen überziehen zu können, egal was der Arzt von ihr dachte. Sie hörte Schritte und die fluchende Stimme der beiden Rettungssanitäter. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Sie hatte einen Schock.

II

Siedlung Krähwinkel, Haus Nr. 2

Mittwoch, 3. Oktober 2007


Der Feiertag war bei Weidenbaums kein wirklicher Feiertag. Sie waren sowieso schon Rentner, naja, Frührentner, aber das war ja auch egal. Auf alle Fälle mussten sie nicht mehr im »Hamsterrad treten«, so nannte Almtrud die Arbeit.

Sie war früher in einem kleinen Handwerksbetrieb als Schreibkraft tätig, dann kam die Wende und sie wurde freigesetzt. Eine Odyssee von diversen Zeitarbeitsbeschäftigungen folgte. Alle maximal auf zwei Jahre ausgelegt. Almtrud war genervt. Aber sie hatte ja auch nie etwas richtig gelernt, das war ja früher auch nicht so wichtig, denn einen Job bekam man immer.

Nach der Wende erwies sich genau das jedoch als entscheidendes Manko. Auf dem Arbeitsamt wurden ihr diverse Umschulungsmaßnahmen angeboten. Sie wurschtelte sich so durch, half in einer Gärtnerei aus, war im Städtischen Museum von Wittstock in der alten Bischofsburg als Aufpasserin tätig, half mit bei Aktionen des Grünflächenamtes und grillte Würstchen in einer Kantine.

Almtrud war heilfroh, endlich in Rente gehen zu können und nahm dankbar das Angebot des Arbeitsamtes zur Frühberentung an. Ihr Mann Günter, genannt Günni, hatte mehr Glück. Auch er hatte seine Stelle gleich nach der Wende verloren. Aber er wurde als Hausmeister in eine Schule vermittelt, wo er bis zu seinem achtundfünfzigsten Geburtstag blieb. Dann wurde auch er frühverrentet.

Jetzt waren die Weidenbaums schon über ein Jahr zu Hause. Jeder Tag war Feiertag, so nannte es Günni jedenfalls immer. Er war eine schlichte Frohnatur, der sich immer an seiner gewichtigen Frau orientierte und brav tat, was sie ihm sagte. So war er bisher ganz gut durchs Leben gekommen.

An diesem Feiertagsmorgen saßen die beiden Weidenbaums vor ihrem Frühstückstisch und überlegten, ob sie zum Volksfest nach Wittstock fahren sollten. Almtrud las Günni vor, wer alles auf der Freiluftbühne auftreten sollte. Günni war es eigentlich egal. Aber er spürte schon, dass seine Frau ganz gern hinwollte.