Nixentod

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Linthdorf fühlte sich hier in Berlin als einer von vielen Einsamen, das machte die Situation erträglicher.

Irgendwo im Radio hatte er bei einem Gespräch von klugen Leuten erfahren, dass Berlin Deutschlands Single-Stadt Nummer Eins sei, über 800.000 einsame Menschen sollten hier in der Stadt leben. Zählte er seinen Bekanntenkreis durch, musste er dieser Erhebung Recht geben. Fast alle lebten in den Trümmern einstiger Zweisamkeit, führten Fernbeziehungen oder nur ein Wochenendverhältnis mit ebenso gestressten und vereinsamten Menschen. Der unglaublich schnelle Takt des Lebens in dieser Stadt zog zu viel Energie aus den Körpern und Seelen. Die Leere, die dann in den stilleren Momenten des Privaten einzog, war für viele Beziehungen zu einer Falle geworden.

Linthdorf hatte sein Frühstück beendet. Auf dem Tisch lag noch die Wochenendausgabe der Zeitung. Er blätterte darin, ein riesiger Immobilienteil nervte. Er suchte nach dem Kreuzworträtsel. Es war für ihn ein Vergnügen, die Seiten füllenden Wortfragereien zu lösen. Linthdorf hatte inzwischen schon so eine Routine beim Lösen der Kreuzwörter entwickelt, dass er mit fast schlafwandlerischer Sicherheit durch die Kästchen eilte. Die Buchstaben glichen nur noch Krakeln. Die meisten gesuchten Wörter waren Standardabfragen, beim geübten Rater längst abgespeichert irgendwo im Großhirn, wo noch Platz für unnützes Wissen war. Er war erstaunt, wie viel er davon in seinem Kopf zur Verfügung hatte. Manchmal dachte er, dass überhaupt nichts mehr von ihm behalten wurde.

Irgendwelche Daten über Verbrecher und bearbeitete Vorgänge schwirrten in den Tiefen seines Unterbewusstseins herum und plagten ihn dann nachts in seinen Träumen. Das waren die Augenblicke, in denen er an seinem Tun zu zweifeln anfing.

Das Kreuzworträtsel war viel zu einfach. Innerhalb von einer Viertelstunde war es vollständig ausgefüllt. Unzufrieden schob Linthdorf die Zeitung von sich, griff zum Telefon und scrollte den Speicher. Endlich tauchte der Eintrag auf, den er suchte: Krespel.

Er wählte automatisch die Nummer an, ließ es fünf- oder sechsmal klingeln. Eine verschlafene Stimme meldete sich.

»Freddi, du alter Klappstuhl, Mensch! Schläfst du etwa noch?«

»War gestern spät geworden. Hab mir noch den Krimi auf Tele7 reingezogen. War wieder so ein Amifilm mit kaputten Serienmördern. Nur Psychopathen, die da Leute massakrieren.«

»Was guckst du auch so’n Scheiß! Selten mal einen guten Amikrimi gesehn. Und auf den Sendern, die du siehst, schon gar nicht. Was machst du heute? Lust mal wieder auf ne Überlandtour?«

»Okay, holst du mich ab? Knappe Stunde?«

»So gegen Elf. Is jut, bis dann.« Linthdorf legte auf und machte sich reisefertig.

Die singende Nixe

Nixen haben einen Hang zur Tücke. Oftmals spielen sie mit ihren Opfern ein tödliches Spiel. Erst wägen sich diese im Siebten Himmel und Glauben, das große Glück gefunden zu haben. Doch das bittere Ende folgt meist umgehend. Selten nur lassen die Nixen ihre Opfer ziehen. Angezogen von der Liebe der Nixen zu Gesang und Tanz, verfallen ihnen vor allem junge Burschen und Männer. Einem jungen Oderschiffer erging es so:

An einem sonnigen Sommertag saß auf seinem Kahn plötzlich ein bildschönes Mädchen im roten Gewand, das zu den Klängen einer Harfe vor sich hinsang. Vollkommen hingerissen vom Anblick und dem schönen Gesang starrte der Bursche sie an.

Endlich fasste er sich ein Herz und sprach die Schöne an. Diese erschrak, zischte etwas in einer unverständlichen Sprache und verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Ein Jahr später war der Schiffer wieder hier auf der Oder unterwegs. Unter großem Gebrause stieg da aus der Tiefe eine riesige grün geschuppte Nixe herauf, krallte sich am Kahn fest und riss alles mit zu sich hinab.


Unterwegs im Oderbruch

Immer noch Samstag, 21. Januar 2006

Freddi Krespel, eigentlich Siegbert, aber irgendwie hatte sich der Name Freddi für ihn durchgesetzt, war Linthdorfs guter Freund seit nun schon mehr als zwanzig Jahren. Er war ein ebenso begeisterter Amateurfotograf wie Linthdorf, hatte stets die neueste Technik und begeisterte sich vor allem für romantische Birkenwäldchen.

Unzählige Fotos von Birkenbäumchen zierten seine Wände, auf seinem Computer war bestimmt eine Sammlung von mehreren tausend Birkenfotos abgespeichert. Sein Job führte ihn wochentags quer durchs Land, er begutachtete für eine Baufirma alte Bausubstanz und machte dann Pläne, diese alten Bauten wieder fit für den Alltag zu machen.

Eigentlich liebte er ja diese Arbeit, aber der zunehmende Preisdruck im Gewerbe machte auch vor seiner Firma nicht halt. Immer mehr Fahrten bekam er in den Wochenplan gepackt, die Zeit für die eigentliche Arbeit wurde dadurch knapper, oftmals saß er noch spätabends vor dem Computer und tippte seine Gutachten.

Aber Freddi war eine duldsame Seele. Ohne Murren und Knurren bewältigte er den Wust von Arbeit. Linthdorf hatte großen Respekt vor dem kleinen, grauhaarigen Mann und seiner Geduld im Umgang mit den Obrigkeiten.

Oftmals fuhren sie an den wenigen freien Wochenenden raus ins Grüne. Eine Richtung sprachen sie grob ab, dann fuhren sie meist ohne direktes Ziel los, ließen sich auch mal von Ortsnamen verführen, die eine aufregende Geschichte zu verbergen schienen, oder entdeckten kleine Nebenstraßen, die ins Nirgendwo gingen.

Linthdorf und Krespel befuhren diese Wege mit Begeisterung, denn oftmals konnte man gerade entlang solcher Strecken gute Motive finden. Während Linthdorf mehr nach alten, verfallenen Scheunen und Gutshöfen Ausschau hielt, konnte sich Krespel für schöne Naturaufnahmen begeistern.

Linthdorf schlug Krespel vor, doch mal wieder ins Oderbruch zu fahren. Irgendetwas zog ihn noch einmal dorthin, wo er den Plastikbeutel mit den Klamotten und der Handtasche entdeckt hatte.

Der Schnee war inzwischen getaut. Schmutzigweiße Reste allerdings waren noch überall zu sehen. Der vernieselte Nebelmorgen verhieß kein Topwetter zum Fotografieren. Mit dem märkischen Klima hatten sich die beiden längst arrangiert. Krespel hatte es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht. Wie immer hatte er eine große Aktenmappe dabei, darin eine Sammlung von Internet-Ausdrucken zu diversen Ausflugszielen, eine ebenso umfangreiche Kartensammlung und Zubehör für seine digitale Fototechnik.

Linthdorf fotografierte immer noch mit einer altmodischen Filmkamera, einem wahren Ungetüm in einer gut gepolsterten Kameratasche. Der Scheibenwischer schob den dünnen Wasserfilm, der sich dauernd neu bildete, ächzend zur Seite und gestattete für einen kurzen Augenblick eine Aussicht ins Umland. Schemenhaft konnte man die Gegend erahnen. Bäume wuchsen als schwarze Riesen aus dem Nichts.

Auf den mit Schneeresten bedeckten Feldern tummelten sich große schwarze Vögel. Dem Gekrächze nach konnten das nur Raben sein. Linthdorf hielt an und stieg aus. Was diese gefiederten Gesellen so alles zu erzählen hatten, ließ sich nur schwer erahnen. In der tristen Nebelwelt schallte ihr Gekakel durch den Morgen. Linthdorf kramte sein Teleobjektiv hervor und peilte die hopsenden Schwarzröcke an.

Krespel saß kopfschüttelnd im Auto. Das Klacken der Kamera war neben dem Gekrächze der Raben das einzige Geräusch auf der sonst leeren Straße. Wieder im Auto zurück, leuchteten die Augen Linthdorfs auf. Er liebte Vögel in freier Wildbahn. Oft schon hatte er sich an die scheuen Kraniche herangepirscht, auch Reiher, Störche und Wildgänse gehörten zu seinen speziellen Lieblingen. Singvögel waren schon etwas schwieriger. Meist konnte er sie aber an dem Gezwitscher unterscheiden. Tja, und Raben auf weißem Untergrund - das war einfach ein tolles Motiv. Zufrieden lehnte sich Linthdorf zurück.

»Na, haste es ma wieder jeschafft!« Krespel grinste.

»Wieso jeschafft, das sind einmalige Momente. Weisst du, worüber die sich unterhalten? Ich glaube, wenn wir das verstehen würden, was da so in die Luft hineingekrächzt wird, wären wir um Vieles schlauer. Wer weiss, was die Kollegen hier gesehen haben, vielleicht wissen die was über meine Wasserleiche?«

»Ach, deine olle Wasserleiche. Nu lass ma gut sein damit. Wir hatten ausgemacht, keinen Arbeitsstress auf unserer Tour.«

Linthdorf startete etwas übereilt den Daimler, rollte laut quietschend auf die Landstraße und verscheuchte dabei die Schar Raben, die laut krakeelend davonstoben.

Der dunkelblaue Wagen rollte durch eine etwas trostlose Landschaft, die darauf wartete, endlich wieder Farbe zu bekommen. Überjähriges Gras brachte einen Hauch von warmen Ockertönen in das sonst recht kühl wirkende Oderbruch hinein. Die Äcker glänzten in Rotbraun und Schmutzigweiß. Krespel hielt ab und zu seine Kamera ans Autofenster. Immer, wenn wieder ein kahler Baum seine Äste in den mattgrauen Himmel streckte, drückte er auf den Auslöser.

Linthdorf kannte in einem kleinen Örtchen eine Kneipe zum Einkehren. Das Einkehren hatte Tradition, war immer der Höhepunkt der Überlandfahrten. Meist suchte Linthdorf dazu einen schlichten Landgasthof, der mit bodenständiger Küche und moderaten Preisen punktete.

Hier im Oderbruch war in den letzten Jahren ein jähes Aufblühen des Ausflugstourismus angebrochen. Ökolandhöfe, Künstlercafés und gutbürgerliche Restaurants fand man jetzt häufiger in den kleinen verschlafenen Dörfern, speziell die direkt an der Oder gelegenen Örtchen hatten aufgerüstet.

Die etwas mehr im Land gelegenen Kolonistendörfer mit den typischen einstöckigen Fachwerkhäusern und Dreiseitenhöfen waren allerdings noch verschont geblieben von diesem Boom.

 

Seit Jahren kam Linthdorf immer in eines dieser Dörfer zum Apfelkauf. Ein Obstbauer bot frisch gepflückte Äpfel und auch seinen äußerst wohlschmeckenden naturtrüben Apfelsaft zu erschwinglichen Preisen an. Durch Zufall war Linthdorf darauf aufmerksam geworden, als er sich vor ein paar Jahren im Hochsommer schon einmal hierher verirrt hatte. Seitdem gehörte ein Besuch beim Apfelbauern von Neulietzegöricke mit dazu. Im selben Ort fand sich auch die alte Dorfkneipe mit dem lustigen Namen »Zum feuchten Willi«.

Ein schöner Fachwerkbau, direkt am Dorfanger gelegen, behutsam renoviert, im Innern jedoch noch mit dem Flair eines alten Fünfzigerjahregasthofs. An den Wänden alte Fotos von der Wirtsfamilie, Dorfansichten aus der Vorkriegszeit und Bilder vom letzten Hochwasser, als das halbe Oderbruch unter Wasser stand. Die Speisekarte war übersichtlich, bestand nur aus einem Blatt, darauf fünf Gerichte und eine Vorsuppe. Im Winter reduzierte sich der Ausflugsverkehr auf ein paar Enthusiasten.

Zufrieden saßen die beiden an einem kleinen Ecktisch, vor sich zwei Teller mit gebratenem Oderhecht. Krespel wühlte in seiner Kartenmappe herum, suchte irgendetwas zur Gegend.

Linthdorf winkte ab. »Lass ma, wir können ja von hier aus oderaufwärts zuckeln, und wo es schön ist, machen wir einfach halt.«

In Gedanken war er schon in Kienitz. Irgendetwas war ihm bei den Fundorten nicht ganz geheuer. Die Tüte mit den Klamotten war so weit abgetrieben worden und die Leiche der Frau verblieb fast am Ortseingang von Kienitz.

Wenn die Angaben des etwas verstörten Hansi Kraeft stimmen sollten, wäre das ein noch zu klärendes Rätsel. Er wollte die Strömung der Oder bei Kienitz testen. Dazu hatte er im Kofferraum ein paar leere Plastikflaschen mit Angelsehnen ausgerüstet liegen.

Nach dem üblichen Pott Kaffee brachen die beiden auf. Linthdorf schlug einen einspurigen Weg direkt am Oderdeich ein.

Es war derselbe, den er vor ein paar Tagen mit Moser schon einmal befahren hatte. Die Gegend kam ihm jetzt völlig anders vor. Der Oderdeich war nur noch ein schmutzigbrauner Hügel, hatte das Majestätische durch den Verlust der Schneekrone eingebüßt.

Er parkte den Wagen wieder an derselben Stelle wie vor ein paar Tagen, holte die Plastikflaschen aus dem Kofferraum und trabte los. Krespel folgte ihm mit etwas Abstand, die Plastikflaschen waren ihm doch etwas peinlich. Aber Linthdorf war gegen solche Nichtigkeiten immun. Fröhlich pfeifend schlidderte er den Oderdeich hinunter ans Ufer und beobachtete den Fluss.

Gemeinsam trabten sie dann Richtung Kienitz, den Schornstein vom Heizkraftwerk immer im Blickfeld. Nach einer fast vierzigminütigen Strecke waren sie an der Stelle angekommen, wo die Feuerwehr die Leiche entdeckt hatte. Der Fluss hatte hier ein paar Sandbänke gebildet, die den Strömungsverlauf stark veränderten. Strudel bildeten sich, und es gab Stellen im seichten Wasser, in denen keinerlei Strömung mehr zu spüren war. Linthdorf trabte noch ein paar Meter weiter Richtung Dorf, warf an einer flachen Stelle seine Plastikflaschen in den Fluss, darauf achtend, dass die Angelsehnen sich nicht verhedderten. Die bunten Flaschen torkelten auf den Wellen, trieben Richtung Flussmitte. Linthdorf musste sein ganzes Angelsehnenknäuel aufdröseln. Erstaunt über die hohe Fließgeschwindigkeit trabte er auf dem Deich neben den tanzenden Plastikflaschen her.

Fünfhundert Meter flussabwärts tauchte die Sandbank auf, an der die Leiche gefunden wurde, die Flaschen torkelten jedoch im großen Bogen an dieser Sandbank vorbei, hielten sich eher noch Richtung polnisches Ufer. Linthdorf pfiff leise. Er ließ die Flaschen weitertreiben, beobachtete die Strömung dabei. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass der Fluss immer schneller wurde.

Inzwischen war er in einen leichten Trab übergegangen, um mit der kleinen Flotte mithalten zu können. Krespel folgte im großen Abstand und fotografierte die tanzenden Flaschen mit seiner Digitalkamera. Nach knapp einer Viertelstunde trieben die »Schiffchen« wieder Richtung deutsches Ufer, verfingen sich im Geäst einer überhängenden Weide und warteten auf ihren Meister. Linthdorf stellte erstaunt fest, dass hier auch die Plastiktüte mit den Kleidungsstücken und der alten Handtasche gefunden worden war.

Er rollte seine Angelsehne wieder auf, barg die Flaschen und winkte Krespel herbei.

»Irgendwas stimmt hier nicht. Entweder hat sich die Strömung des Flusses in den letzten drei Wochen total geändert oder jemand hat etwas manipuliert. Es sollte so aussehen, als ob die Leiche hier angeschwemmt worden sei. Aber wenn man die Strömung betrachtet, kann an dieser Sandbank nichts angeschwemmt worden sein.«

Krespel schaute zweifelnd zu seinem großen Freund auf: »Kann das durch die Eisschollen nicht ganz anders gelaufen sein?«

»Wir müssen da noch mal einen Experten befragen. Vielleicht gibt es ja Leute, die davon Ahnung haben, Flussschiffer, Wasserpolizei, Zollbeamte, was weiß ich!«

Die Oder hatte durch das trübe Licht eine fast schwarze Farbe angenommen.

Ein Frösteln überkam Linthdorf beim Beobachten des Flusses. Die sonst so gelassene Melancholie, die man bekam, wenn man am Oderufer entlanglief, wollte sich an diesem Samstagmorgen nicht einstellen. Das polnische Ufer war nur zu ahnen als dunkler Streifen im Nebel. Als ob hier die Welt zu Ende war. Leichter Nieselregen durchnässte nach und nach den Mantel und setzte sich auf dem Hut als silberner Wasserfilm ab. Er gab Krespel einen Stups.

»Komm weg hier, sonst holt uns noch der Wassernix!«

Im Laufschritt trabten sie zum Auto und tuckerten den Weg zurück in die Zivilisation. Zum Aufwärmen kehrten sie im Dorfkrug von Kienitz ein. Der Wirt erkannte Linthdorf sofort.

»Ah, der Herr Kommissar – wieder mal auf Verbrecherjagd. Haben se denn nun schon was rausbekommen?«

Linthdorf winkte ab.

»Nee, heute bin ich privat hier. Wir waren am Fluss. Ein paar Aufnahmen machen.« Er deutete auf die Fotokameras und ließ sich die Tageskarte geben.

Der Gastraum war menschenleer, nur vorn am Tresen saß eine kleine Gestalt. Am liebsten wollte der kleine Mann gar nicht gesehen werden, so klein machte sie sich. Linthdorf hatte ihn schon beim Eintreten bemerkt. Es war Hansi Kraeft, der als Schatten seiner selbst mehr auf dem Tresen hing, denn danebenstand.

Linthdorf beachtete ihn nicht weiter, schielte aber dennoch immer mal hinüber. Vor Kraeft stand ein großes Glas mit einem roten Saft, konnte Kirsche oder auch Johannisbeere sein. Kraefts Hände zitterten beim Anheben des Glases, welches er in gierigen Schlucken austrank. Er trabte schnellen Schrittes, ohne zu grüßen, zum Ausgang.

Linthdorf wandte sich dem Wirt zu. »Probleme?«

Dabei nickte er mit dem Kopf Richtung Ausgang.

Der Wirt zuckte mit den Schultern.

»Hansi ist die ganze Zeit schon schräg drauf. Keiner weiß, was mit ihm los ist. Er weicht allen aus und scheint nervlich ziemlich angeschlagen zu sein. Hängt wohl mit dem Geburtstag seiner Mutter zusammen, da schleicht er auch immer auf dem Friedhof rum und sitzt stundenlang vorm Grab.«

»Wie war das denn damals mit dem Tod seiner Mutter?«

»Na ja, is ja nu auch schon wieda ne Zeitlang her. Das war im Sommer 97, als wir das große Hochwasser hatten und das ganze Oderbruch unter Wasser stand. Überall in den Häusern stand zwei Meter hoch das Flusswasser, alles was man retten konnte, hatte man nach oben geschafft aufn Dachboden.

Trotzdem war noch viel kaputt gegangen damals. Hansi wohnte damals schon mit Brunhild, det war seine Mutta, drüben aufm Hof. Sie kümmerte sich um allet, hatte den Hof gut im Griff und den Hansi auch. Der war ja schon imma so’n bisschen plemplem, also nicht so plemplem, dass es für die Klapper reichte, aber eben auch nicht normal, der Junge. Man sagte, er habe bei der Geburt für kurze Zeit unter Sauerstoffmangel gelitten.

Na ja, und Brunhilds Mann, der Eddy, da war nich ville zu. Gleich nach der Wende ging der stiften, ab in’n Westen, keiner hat wieda wat von ihm jehört. Nu saß sie da mit dem bekloppten Jungen. Na, und der Eddy, der war ja auch jar nicht Hansis Vater.

Der eijentliche Vater war schon in den späten Sechzigern abhanden jekommen. Man munkelte, dass er ab in den Westen sei. Sie hatte Arbeit früher in Frankfurt im Halbleiterwerk, später dann war sie in der Kantine von der Traktorenstation und dann Verkäuferin aufm Ökohof im Nachbardorf. War nich ville, wat se da vadiente, aber es reichte.

Ja, und um den Hansi hat se sich rührend gekümmert. Schule hat er nur bis achte Klasse geschafft, Beruf gar nicht, hat bei der Post Briefe ausgefahrn mit’m Fahrrad. Als dann das Hochwasser kam, ist sie im Keller gewesen, um noch irgendwelche Sachen rauszuholen.

Irgendwie sind dann die Sandsäcke, die sie am Kellereingang gestapelt hatte, umgefallen und haben die Kellertür blockiert. Sie hat wohl noch gerufen, aba hat nichts genützt, das Wasser strömte zu schnell. Hansi hat von allem nix mitbekommen, der saß mit’m Hund und den beiden Katzen oben uff’m Dach und wartete. Als das Hochwasser wieda zurückging, hat man sie gefunden im Keller. Jämmerlich ertrunken im eijenen Keller. Hansi hat se jefunden. War völlig aus’m Häuschen, der Junge. Wollte gar nich mehr raus aus’m Keller.

Wurde dann von Rettungssanitätern mit ner Spritze ruhiggestellt und mitgenommen. Drei Monate später hamsen dann entlassen. Seitdem is mit ihm nich ville mehr los. Bekommt ne Waisenrente und stört ansonsten keinen Menschen im Dorf. Alle kennen ihn und wissen, was mit ihm is. Bei mir isser öfters mal zu gange. Hilft auch ma, Bierfässer rollen, abwaschen und andere kleine Hilfsjobs. Bekommt dann immer wat Jebratenes und seinen Saft, den er so liebt. Is’n harmloser Tropf, ein armet Schwein eijentlich.

Schade, dass seine Mutta so früh schon starb, der Hof drüben wäre dann noch besser in Schwung.«

Linthdorf lauschte der Erzählung des Wirts aufmerksam, nickte ab und zu einmal. Krespel studierte die Speisekarte.

»Was können Sie denn heute empfehlen?« Der Wirt schaute etwas irritiert zu Krespel. »Mögen Sie Fisch?«

»Na klar!«

»Probieren Sie mal Wels, habe gerade welchen reinbekommen von der Fischereigenossenschaft. Sind echt Klasse diese Saison, schönes weißes Fleisch, zergeht wie Butter auf der Zunge ... Und dazu Dillsoße und Kartoffeln.«

Krespel schaute zu Linthdorf. Der nickte begeistert. »Vorneweg noch ein Süppchen?«

»Wir haben ne Fischsoljanka, also echt ein Gedicht.«

Zufrieden stürzten sich die beiden ins zweite Mittagsabenteuer. Linthdorf genoss dieses Ritual jedes Mal aufs Neue. Vor zwei Stunden hatten die beiden zwar schon eine Portion Hecht verputzt, aber der Aufenthalt an der Oder hatte wieder Hunger gemacht. Jedenfalls war noch Platz für eine zweite Fischmahlzeit.

Manchmal vergaß er dabei seinen tristen Alltag und fühlte sich voller Elan und Begeisterung, wie ein König auf Landpartie. Anderthalb Stunden tafelten die beiden im Dorfkrug.

Sie waren die einzigen Gäste geblieben. Krespel hatte seine Mappe herausgeholt und die Karte vom Oderbruch ausgebreitet. »Wollen wir bei der Rückfahrt noch mal auf Schloss Gusow haltmachen?«

Linthdorf kannte Gusow schon. Es gab dort eine erstaunliche Sammlung alter Dinge, die jemand mit großer Akribie aus den alten Hohenzollernschlössern zusammengetragen hatte und als neue Attraktion sogar eine Zinnfigurensammlung. Er wusste, dass Krespel diese kleinen Figürchen liebte. Zu Hause in einer Glasvitrine hatte er eine beträchtliche Anzahl dieser Männchen stehen, alle liebevoll beschriftet, zu welchem alten Preußenregiment sie gehörten und was sie darstellen sollten. Also willigte er schnell ein.

Berlin-Mitte

Montag, 23. Januar 2006


Linthdorf saß in der U-Bahn. Oft fuhr er nicht mit diesen Zügen, ein Gefühl von Platzangst überkam ihn jedes Mal, wenn die gelben Triebwagen im Dunkel der Unterwelt verschwanden. Tröstlich war nur die schwache Beleuchtung der Wagen, die ein angenehm gelbwarmes Licht verbreiteten.

Seit ein paar Jahren gab es jedoch Züge mit moderner Ausstattung. Deren Licht war zwar deutlich intensiver, aber dafür kaltweiß. Diese modernen U-Bahnzüge mit bunter Displaywerbung, kleinen Monitoren, über die irgendwelche Werbespots in endlosen Wiederholungen liefen, und den nervös bunten Bankbezügen aus irgendeinem Superkunststoff, der unkaputtbar zu sein schien, passten in das neue Berlin.

 

So wie die alte Stadt, die Linthdorf einst ans Herz gewachsen war, sich peu à peu aus dem Alltagsleben verabschiedete, verschwand auch Linthdorfs Verbundenheit mit ihr. Das einstmals etwas schmuddelige Image der Stadt mit ihrem morbiden Charme existierte nur noch in der Erinnerung. Die vielen Provisorien und das Flickwerk, welches den Ostteil Berlins charakterisierten, hatten einer neureichen Glitzerwelt Platz machen müssen. Ganze Straßenzüge waren über Nacht verschwunden und durch glasverspiegelte Würfel und Quader ersetzt worden. Moderne Architektur mit edlen Materialien katapultierte innerhalb eines Jahrzehnts Berlin zu einer Boomtown, die Leute aus aller Welt anzog, die hier das große Abenteuer und schnelles Geld erhofften.

Irgendwo blieben die alten Bewohner dabei auf der Strecke. Linthdorf sah im Stadtzentrum kaum noch Menschen über sechzig Jahre. Auch die sonst immer zahlreichen Großfamilien mit Kinderwagen und Hund an der Leine waren verschwunden.

Dafür waren die Straßen voll mit Rucksacktypen, die meist in Englisch oder Spanisch laut parlierend ganz selbstverständlich inmitten der neuen Pracht umherzogen. In die gesichtslosen Neubauten waren coole Yuppies in Designerklamotten eingezogen, die alles ganz locker im Griff zu haben schienen. Diese Menschen strotzten vor Selbstbewusstsein, rannten zielstrebig zwischen den Rucksackträgern herum, telefonierten dabei noch laut über ihre winzig kleinen Handys mit ominösen Geschäftspartnern und beachteten den Rest der Welt kaum.

Hier in der U-Bahn hatte Linthdorf jedoch noch ein bisschen das Gefühl, in seiner alten Stadt unterwegs zu sein. Jedenfalls dann, wenn es sich um einen alten Zug handelte. Tief sog er den speziellen Geruch dieser Triebwagen ein. Eine Mischung, die er immer als »Berliner Luft« bezeichnete. Darin vermischten sich die Ausdünstungen zigtausender Fahrgäste mit dem Geruch alten Leders, einer süßlichen Note alten Maschinenöls, dazu ein Hauch heißgelaufenen Metalls, der etwas modrige Duft der Spree, der es vor allem in den Sommermonaten schaffte, jede Ritze zu durchdringen, und den Abgasen der Autos.

Auch die Geräuschkulisse wirkte beruhigend in diesen Zügen. Die alten Züge ratterten noch, der Summton beim Türenschließen und die schnarrenden Rufe des Lautsprechers am Bahnsteig waren eine eigenartige Melodie, die für Linthdorf immer eng mit dem Lebensgefühl hier verbunden war.

Die neuen Züge waren geräumiger und irgendwie resistent gegen alle Gerüche. Es roch immer gleich darin. Ein wenig erinnerte ihn der Geruch dieser Züge an neu gekaufte Gummistiefel.

Der Zug war nur spärlich voll. Linthdorf hatte genügend Platz für seine langen Beine, musste sich nicht verrenken auf seiner Sitzbank. Draußen folgten die Stationen im Minutentakt: Frankfurter Tor, Samariterstraße, Weberwiese, Strausberger Platz, Schillingstrasse, Alexanderplatz – Endstation.

Linthdorf eilte durch das Labyrinth der unterirdischen Gänge unterm Alex, treppauf, treppab, vorbei an ratlos herumstehenden Touristen, die hier unten seltsam verloren wirkten, und an den inzwischen hier heimisch gewordenen Schnorrern und Bettlern, die jeden halbwegs freundlich aussehenden Passanten bedrängten. Er kannte diese kleinen Showeinlagen zur Genüge, wich geschickt den Schnorrern aus und setzte dazu ein total finsteres Gesicht auf. Die imposante Größe flößte dabei genügend Respekt ein, so dass er nahezu unbehelligt durch die Unterwelt kam.

Endlich tauchte die Oberwelt wieder auf. Linthdorf atmete tief durch. Sein Ziel war das Berliner Polizeipräsidium. Hier residierte sein guter Freund Voßwinkel. Bernd Voßwinkel war zuständig für Gewaltverbrechen in der Hauptstadt, das heißt, er gehörte zu der recht großen Truppe von Ermittlern der 3. Mordkommission, die hier halbwegs für Recht und Ordnung zu sorgen hatten. Allein sein Dezernat umfasste mehr als dreißig Mitarbeiter. Zahlen, von denen Linthdorf in Potsdam nur träumen konnte.

Das riesige Gebäude in der Keibelstrasse beherbergte mehrere hundert Büros, in denen über tausend Beamte beschäftigt waren. Da es oft zu Koordinierungsproblemen zwischen Berlin und Brandenburg kam bei der Jagd nach den Tätern, die sich aus den jeweiligen Zuständigkeitsbereichen überhaupt nichts machten und munter über Landesgrenzen hinweg ihre Fährten hinterließen, war die Zusammenarbeit der Dienststellen von vitalem Interesse für alle.

Mit Voßwinkel hatte Linthdorf einen kompetenten Partner bei der Berliner Kripo, der schon oft schnell und unbürokratisch geholfen hatte. Gestern hatte er bereits mit ihm telefoniert und kurz angedeutet, dass er mal wieder Hilfe brauchte.

Voßwinkel nickte verständnisvoll und machte gleich einen Termin für Linthdorf frei.

Das Büro von Voßwinkel war ein großer Raum, in dem sechs Schreibtische paarweise aufgestellt waren, dazu jede Menge Regale mit Aktenordnern und ständig schrillenden Telefonen. Linthdorf grüßte die drei im Raume anwesenden Mitarbeiter flüchtig, man kannte sich eben.

Voßwinkel kam auf ihn zu, schüttelte ihm energisch die Hand und bat Linthdorf an seinen Schreibtisch. Der sportlich durchtrainierte Voßwinkel wirkte neben dem massigen Linthdorf wie ein aufgezogenes Rumpelstilzchen. Seine grauen Haare zu bändigen war für Voßwinkel ein Kunststück, das ihm an jedem neu angebrochenen Tag misslang. Früh am Morgen schaffte er es noch, die wirre Pracht mit Wasser und Kamm zu ordnen, im Laufe des Tages jedoch machten sich die störrischen Haare nach jeder Richtung auf und verliehen ihm ein verwegenes Aussehen. Sein etwas lang gezogenes Gesicht mit der randlosen Brille und der Sesamstraßenfrisur ließen ihn als Intellektuellen erscheinen, auch sein Kleidungsstil ließ Rückschlüsse auf seinen eigentlichen Beruf nicht zu. Meist sprang er im T-Shirt und Jeans im Büro herum sein Pistolenhalfter in Wildwestmanier umgeschnallt. Jetzt im Winter trug er noch eine dünne Jeansweste als Kälteschutz.

Linthdorf wirkte dagegen wie aus einem bürgerlichen Gesellschaftsstück. Stets trug er ein dezent kariertes Sakko, T-Shirts waren für ihn tabu, dafür gab es Hemden. Ein Schal, der schwarze Mantel und der schwarze Hut vervollständigten sein Outfit. Ihm nahm man den Polizeibeamten schon ab. Wenn die Beiden sich gegenübersaßen, konnte man den Eindruck bekommen, dass hier zwei Welten aufeinanderprallten. Dabei harmonierten sie wunderbar.

»Na, was haste auf’m Herzen?«, eröffnete Voßwinkel das Gespräch.

»Tja, ne ganze Menge, wenn du mich so fragst«, Linthdorf holte seine Mappe hervor, schilderte kurz den bisherigen Verlauf und erwähnte auch, dass er in der Weddinger Wohnung der Toten war.

»Ich brauch deine Hilfe. Kannst du ermitteln, wo sich die Mutter der Brakel gegenwärtig aufhält? Auch den Freund der Brakel müssten wir finden. Irgendetwas scheint da nicht mehr im Lot zu sein. Die Wohnung wurde seit Wochen nicht betreten, als ob alle aus dem Umfeld der Brakel spurlos verschwunden sind. Mir ist das suspekt.

Ich bin auch der Meinung, dass in der Wohnung ein Kind gelebt haben muss. Die Brakel kann aber nicht die Mutter sein. Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass sie niemals schwanger war.«

Voßwinkel nickte nur, notierte eifrig die Daten aus den Akten.

»Tja, und wenn du das Umfeld vielleicht auch mal etwas beleuchten könntest. Wovon hat sie gelebt, mit wem hatte sie Umgang, na du weißt ja.

Ich glaube, da könnte ein Ansatz für weitere Ermittlungen liegen, die etwas erfolgsversprechender sein können als unser bisheriges Tun.

Nägelein drängt darauf, das Umfeld an der Oder im Auge zu behalten. Er hält fest an seiner Theorie mit Menschenschmuggel und Prostitution. Aber da ist meiner Meinung nach die Brakel nicht die passende Person.«

»Na mal schau’n, was wir da so rausbekommen.«

»Außerdem müssten die nächsten Angehörigen der Brakel benachrichtigt werden. Meines Erachtens sind das ihre vier Schwestern, allesamt in Süddeutschland lebend. Sie ist ja eigentlich eine Berlinerin, aber der ganze Vorgang liegt nun mal in unseren Händen.