Der Lebensweg einer blinden Familie

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Kapitel 4

Meike legte den Telefonhörer auf und lehnte sich im Sessel zurück. Es war ein fester Bestandteil in der Familie, dass vor allem sie mindestens einmal in der Woche mit ihrer Tochter telefonierte. Diesmal war das Gespräch sehr kurz ausgefallen. Elke hatte von einem neuen Mitschüler erzählt, dem sie die Gegend zeigen wollte. Meike versank in Gedanken. Ihre Tochter, jetzt sechzehn Jahre alt, hatte zuerst eine Schule für Sehbehinderte in Berlin besucht, bis sie wegen einer Verschlechterung ihres Augenlichts bis hin zur völligen Erblindung in eine Blindenschule außerhalb Berlins hatte wechseln müssen. Dies bedeutete, dass Elke seitdem in einem Internat wohnte. Die Entscheidung dazu war vor allem Uwe sehr schwergefallen. Selbst im Internat aufgewachsen, hatte er sich zuerst dagegen gewehrt, Elke denselben Weg gehen zu lassen. So hatten sie erwogen, in die Nähe der Schule zu ziehen, doch bislang hatte Uwes fester Kundenstamm sie davon abgehalten. Der Entfernung wegen konnte Elke nur in den Ferien nach Hause kommen. Im Laufe der Zeit hatten sie festgestellt, dass sich das Internat stark von dem in Oberlensbach abhob. Elke war in einer Klasse, in der es viel gelöster und freundschaftlicher zuging, als es damals bei Meike und Uwe der Fall gewesen war. Dennoch litt vor allem Meike unter der Trennung. Uwe sah diesen Umstand mittlerweile eher gelassen.

Meikes Gedanken wanderten weiter. Sie war es gewesen, die schon immer ein Kind haben wollte, während Uwe sich in der Anfangsphase ihrer Ehe mit einer Entscheidung zurückgehalten hatte. Seine Behinderung würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf seine Nachkommen vererben, und das kam für ihn nicht infrage. Oft hatten sie sich gestritten – bis die Natur ihr Recht eingefordert hatte und Meike trotz Verhütung schwanger geworden war.

Wie Uwe in seiner Kindheit war auch Elke als kleines Mädchen im Krankenhaus gewesen. Die Ärzte hatten zu einem großen Teil ihr Augenlicht erhalten können, doch das war nur wenige Jahre später verloren gegangen. Dabei war nicht klar, von wem sie ihre Behinderung geerbt hatte. Meike war auch hier stets die Trösterin gewesen und hatte ihren Mann aus seiner Depression herausgeholt. Ihre Kräfte hatten oft versagt, und zu gern hätte sie ihre Tochter immer bei sich gehabt. Zudem wünschte sie sich schon seit Langem ein zweites Kind. Uwe war dagegen und wollte sich sterilisieren lassen, doch Meike hatte ihm diesen Schritt ausreden können. So hoffte sie auf einen weiteren Zufall, wie damals mit Elke. Hatte Uwe nicht gesagt, dass sich seine Behinderung nicht in jedem Fall vererbte, und wenn doch, dass eine Operation des Babys möglich war? Es bestand also immerhin die geringe Chance, dass sie ein sehendes Kind bekamen!

Meikes Gedanken kehrten zu Elke zurück. Ihr schien es im Internat zu gefallen. Vom ideologischen Druck befreit, konnte sie freier aufwachsen. Sie hatte Möglichkeiten, sich zu entfalten, von denen sie selbst und Uwe zu ihrer Zeit nicht zu träumen gewagt hatten. Vier- bis Achtbettzimmer gehörten schon lange der Vergangenheit an. Meike hatte erstaunt zugehört, als Elke ihr am Telefon erzählte, dass sie diesem neuen Jungen helfen wolle. Schon mit sechzehn Jahren stand ihre Tochter besonders schwierigen Schülern bei. Als sie Uwe später davon erzählte, zog er sie an sich und sagte leise: „Wird unsere Tochter eine zweite Meike?“

„Vielleicht“, gab sie lachend zurück. Wieder ernst fuhr sie fort: „Wenn Elke diesen Weg geht, könnte das für andere ein Segen sein.“

Kapitel 5

Hans Timmroth sah von seinen Papieren auf. Sein Gesicht wirkte angespannt. Es stand schlecht um die Kirchengemeinde in Berlin-Neukölln. Auch andere Gemeinden schrieben seit Jahren rote Zahlen. Die Zusammenlegung mehrerer Kirchengemeinden und somit auch das Einsparen von Personal wurde aus diesem Grunde immer wahrscheinlicher. Bisher hatte sich Hans um seine Anstellung keine Sorgen machen müssen, und was die Zukunft bringen würde, war ungewiss.

Sein Gesprächstermin mit Manuela Helmhold rückte immer näher. Lange hatte Hans sich vor einem Treffen drücken können. Auch er wollte die Vergangenheit ruhen lassen. Schmerzlich erinnerte er sich an diese Zeit. Oft hatte er in Meikes Wohnung gesessen, um sie zu trösten und ihr Kraft zu schenken. Aufgrund von Uwes Erzählungen nach der Flucht hatte sich puzzleartig ein Film zusammengesetzt, der sich nun vor Hans’ innerem Auge abspulte.

Uwe Jägers Flucht war entscheidend durch diese Frau beeinflusst worden. Er war untergetaucht und mit der Unterstützung eines ehemaligen Klassenlehrers in den Westen geflohen. Für alle Beteiligten war es eine Zeit der Unsicherheit gewesen. Furcht und Anfechtung hatten vor allem Meikes Alltag bestimmt. Wie Manuela Helmhold den Wohnort der Familie Jäger in Erfahrung gebracht hatte, war Hans Timmroth ein Rätsel. Wahrscheinlich war, dass sie an alte Unterlagen der Staatssicherheit oder Uwes Akte herangekommen war. Als Seelsorger und Freund der Familie Jäger sah sich Hans in der Pflicht, ein Treffen unbedingt zu verhindern. Meike, sonst die Sachlichkeit in Person, war in den letzten Jahren immer dann, wenn die Rede auf Manuela Helmhold gekommen war, an die Decke gegangen. Dabei war es ihr nicht darum gegangen, dass Uwe mit dieser Frau im Bett gewesen war. Eher darum, dass sie Uwe auf diesem Wege hatte aushorchen wollen und damit seine Flucht ihren Start genommen hatte. Warum kam die Frau erst jetzt? Was wollte sie nach so langer Zeit von Uwe? Hans ordnete die Papiere und verstaute sie in seinem Schreibtisch.

Im selben Moment klopfte es leise an der Tür. Ohne eine Reaktion abzuwarten, erschienen zwei Frauen im Türrahmen. Hans musterte beide und bat sie schließlich herein. Uwes Angaben zufolge musste die Tochter von Manuela Helmhold neunzehn Jahre alt sein. An der Mutter waren die vielen Jahre nicht spurlos vorbeigegangen, dennoch war ihr Alter unbestimmbar. Beide Frauen machten einen sehr selbstbewussten Eindruck.

„Sie sind Hans Timmroth?“, eröffnete die Ältere der beiden das Gespräch, nachdem der Gastgeber ihnen Platz angeboten hatte.

„Ja, ich bin Hans Timmroth und Freund der Familie Jäger.“

„Mein Name ist Manuela Helmhold, und dies ist“, sie wies auf ihre Begleiterin, „meine Tochter Anke.“

Hans nickte wissend. „Herr Jäger hat mir einiges über Sie erzählt.“

Frau Helmhold schlug die Augen nieder. „Es wird nicht viel Gutes gewesen sein.“

„Uwe hat Sie als Werkzeug der Stasi bezeichnet.“

„Ich weiß. Dabei hat er mich doch vor dem Schlimmsten bewahrt und indirekt Anke aus dem Kinderheim geholt“, entgegnete die Frau leise.

„Sie wollten sich das Leben nehmen?“

„Hat er das gesagt?“ Manuela Helmhold schluckte, bevor sie fortfuhr. „Ja, ich war nahe dran, bis er sich selbst auf die Eisenbahnschienen setzte und damit einen Selbstmordversuch vortäuschte. Dabei wartete doch seine Freundin auf ihn. Da endlich begriff ich. Die Liebe zu meiner Tochter gewann schließlich die Oberhand und hielt mich am Leben.“

Hans überlegte und kam zu einem Entschluss. „Bevor ich Sie zu den Jägers lasse, möchte ich alles von Ihnen wissen. Von Ihrer Bespitzelung hat mir Uwe berichtet. Auch seine Frau weiß alles darüber. Mir geht es mehr darum, was danach geschah.“

„Ich denke, dass das Uwe auch interessieren könnte“, meinte Manuela Helmhold.

Hans nickte. „Das ist anzunehmen. Zunächst aber möchte ich, dass Sie es mir erzählen.“

Die Frau stützte ihr Kinn in die Hände und dachte lange nach. Hans wartete geduldig. Er kannte das. Manchen fiel es schwer, ihr Innerstes preiszugeben. Endlich gab sich Manuela Helmhold einen Ruck und richtete sich auf. Hans spürte, wie das bisher gezeigte Selbstbewusstsein von seiner Gesprächspartnerin abfiel und ihm schon bald ein verängstigtes Mädchen gegenübersaß.

*

Uwe saß am PC und gab die nächsten Kundentermine in eine Datenbank ein. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge erinnerte er sich an die Zeiten der Karteikarten. Die Arbeit am Computer war wirklich ein Fortschritt. Er konnte als Dienstleister den Kunden glaubwürdiger gegenübertreten. Um Rechnungen zu schreiben, brauchte er keinen Mitarbeiter mehr, und auch Briefumschläge ließen sich automatisch beschriften. Am Anfang war es ihm schwergefallen, sich als Kleinunternehmer auf dem Markt zu behaupten. Viele seiner ostdeutschen Kollegen hatten schon bald nach der Wende das Handtuch geworfen. In den meisten Fällen musste Uwe selbst sehen, wie er an neue Kunden kam und bestehende Kunden hielt, denn wenn er sich nicht kümmerte, würden sie bei der Konkurrenz anrufen.

Wendy, die bisher in ihrem Hundebett vor sich hin geschnarcht hatte, stupste ihn in die Seite. Es wurde Zeit, dass sie etwas zu fressen bekam.

„Ich kann jetzt nicht“, knurrte Uwe. Daraufhin brummte der Hund, gab aber bald Ruhe.

Im Nebenzimmer klingelte das Telefon.

„So ein Mist!“, fluchte Uwe und rief: „Meike, kannst du bitte rangehen? Wenn es wieder jemand vom Tierschutz ist, sag ihm, dass ich erst gegen Abend zurückrufen kann.“

Kurz darauf stand Meike mit dem schnurlosen Telefon neben Uwes Schreibtisch. „Hans ist dran. Er will dich unbedingt sprechen.“

Uwe atmete tief durch und nahm das Telefon entgegen. „Hier spricht dein ständig unter Stress stehender Freund Uwe.“

Hans lachte. „Meike sagte mir schon, dass sie jeden Anrufer abwimmeln soll. Nun bin ich aber nicht jeder, sondern euer Freund.“

„Das stimmt. Deswegen kannst du auch einen Ex-Flüchtling aus der Ex-DDR seine Arbeit machen lassen“, frotzelte Uwe. „Du rufst bestimmt nicht an, um mich am Geldverdienen zu hindern.“

 

„Frau Helmhold sitzt mit ihrer Tochter in meinem Büro. Sie möchte euch besuchen.“

Uwe zuckte zusammen, wollte er doch endlich die Vergangenheit ruhen lassen. „Weißt du, was du mir da zumutest?“, fragte er. „Außerdem wird Meike ein Treffen gar nicht erst zulassen.“

„Warum hast du ihr auch alles erzählt?“

„Mein lieber Freund, meine Frau und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Ich weiß schließlich auch, dass sie während meiner Flucht mit einem anderen Mann als mir im Bett war. Gib mir bitte Zeit, mit ihr zu reden. Wir werden einen Weg finden. Manuela hat schließlich auch ein Recht auf Vergangenheitsbewältigung. Sie hat es nach unserem Treffen bestimmt nicht leicht gehabt.“

„Sie hat mir alles erzählt“, sagte Hans. „Glaub mir, ihr Leben war kein Zuckerschlecken.“

„Wo sind die beiden untergebracht?“

„Sie wohnen in einem Hotel.“

„Ich rede mit Meike und rufe dich morgen an.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, unterbrach Uwe die Verbindung.

Meike trat leise zu ihm. „Was willst du mit mir besprechen?“

„Es geht um die Helmhold.“

„Uwe, ich möchte nicht, dass die Frau hierherkommt. Auch möchte ich nicht, dass du dich mit ihr allein triffst. Ich frage mich, warum diese Stasinutte erst jetzt das Gespräch mit dir sucht.“

„Das kannst du sie selbst fragen.“

Meike schüttelte den Kopf. „Ich werde ihr nie verzeihen, dass sie dich ins Bett gezogen hat, um Informationen über uns herauszubekommen. Oder …“, ihr stockte der Atem, „ist diese Anke deine Tochter?“

Uwe fuhr hoch. „Nun hör aber auf! Ich habe dir schon oft gesagt, dass wir keinen Sex hatten. Ihre Tochter war in der betreffenden Zeit zwei Jahre alt und befand sich in einem Kinderheim.“

„Das will ich von ihr persönlich hören“, brauste Meike auf und verließ, die Tür knallend, das Zimmer.

Erschrocken sah Uwe ihr hinterher. So hatte er seine Frau noch nie erlebt. In dieser Situation konnte nur Hans helfen. In seine Gedanken hinein klingelte das Telefon erneut.

„Jäger.“

„Uwe, bist du das?“

Vor Schreck hätte er beinahe den Hörer fallen lassen. Diese Stimme würde er nie vergessen.

*

Das Kinn in die Hände gestützt, saß Uwe am Schreibtisch. Manuelas Worte klangen in seinem Kopf nach. Sie hatten sich darauf geeinigt, die Geschichte ruhen zu lassen. Uwe konnte, wenn nötig, mit Hans über alles sprechen. Er wollte Meike nicht belasten. Wichtig war ihm aber auch, dass Manuela und ihre Tochter einen guten Weg fanden. Er richtete sich auf und holte seinen Computer aus dem Stand-by-Modus. Einige Sekunden später öffnete sich der Desktop und auf der Braillezeile erschien eine Liste von Ikons. Uwe öffnete den Terminkalender und überflog die nächsten Einträge. Von den Computersounds und der Sprachausgabe angelockt, kam Meike zögernd ins Zimmer und stand schließlich neben ihm.

„War etwas Wichtiges?“

„Was meinst du?“

„Am Telefon.“

„Manuela.“

„Hast du sie etwa eingeladen?“

„Natürlich nicht. Ich habe ihr klargemacht, dass es besser ist, die Geschichte ruhen zu lassen.“

„Kennst du ihre Adresse oder die Telefonnummer?“

„Natürlich nicht. Mein Schatz, glaube mir, ich will mit der Dame nichts zu tun haben. Ich weiß nicht, wie ihr Leben verlaufen ist, habe aber den Eindruck, dass es ihr gut geht.“

„Du kannst ja mit Hans darüber reden“, räumte Meike ein. „Schatz, ich liebe dich und möchte dich nicht an eine ehemalige Stasinutte verlieren.“

Uwe zog sie zu sich auf den Schoß und strich ihr über den Kopf. „Du wirst mich nie verlieren. Nicht an Manuela Helmhold und auch sonst an niemanden. Du bist und bleibst die einzige Frau für mich.“

Kapitel 6

Elke musste sich beeilen. In einer halben Stunde begann der Reitunterricht. Trotz ihrer Blindheit arbeitete sie gern mit Pferden. Schnell ging sie in ihr Schlafzimmer, das sie mit Katrin teilte. Diese hüpfte mitten im Zimmer auf einem Bein herum und versuchte sich ihre enge Reithose anzuziehen.

Elke musste wie jedes Mal darüber lachen. „Du solltest wirklich abnehmen“, riet sie, während sie ihr Reitzeug aus dem Schrank holte.

Katrin stöhnte: „Sie passt mir wirklich nicht mehr.“

„Dann musst du heute eben im Slip reiten. Was sagt unser Reitlehrer immer? Reithosen dürfen keine Falten werfen. Wenn ich mir allerdings deine nackten Beine vorstelle, sind da Falten – Speckfalten.“ Übermütig kniff sie ihrer Mitschülerin in die unbekleidete Wade. „Slips werfen übrigens keine Falten“, setzte sie lachend hinzu.

Die Reitkappe in der einen, den Langstock in der anderen Hand verließ Elke schließlich das Schlafzimmer. Unterwegs holte sie Gerd ein. Die beiden waren sich in letzter Zeit sehr nahegekommen. „Gehst du mit zur Reitstunde?“, fragte sie und boxte ihn fröhlich in die Seite.

„Mal sehen“, kam die mürrische Antwort.

„Was ist denn mit dir?“

„Ich will hier weg. Zu Hause ist es viel schöner.“

Elke wandte sich Gerd zu. „Das sagst du dauernd. Glaub mir, ich finde es zu Hause auch besser, doch was nützt das? Auch hier gibt es Schönes zu erleben. Los! Sei kein Frosch und komm mit zum Reiten. Du darfst auch mein Pferd striegeln. Das ist nicht so störrisch wie deins.“

Jetzt strahlte Gerd über das ganze Gesicht. Elke, für ihr Alter schon sehr verständig, versuchte ihn immer wieder aus seiner Gleichgültigkeit zu holen. Oft mangelte es ihr zwar an Kraft, doch obwohl sie selbst unter der Trennung von ihren Eltern litt, gelang es ihr, auf ihre manchmal noch kindliche Weise anderen zu helfen. Jetzt, mit sechzehn Jahren, konnte sie noch nicht ahnen, welch große Aufgabe im Dienst an den Schwachen in dieser Welt auf sie wartete.

*

Der Reitlehrer beobachtete Elke, die gerade mit Gerd auf den Hof gekommen war. Die beiden waren die einzigen blinden Reiter in ihrer aus sechs Jungen und Mädchen bestehenden Gruppe. Elke zog die Sattelgurte ihres Pferdes fest und stellte die Bügellänge ein. Dann ermunterte sie Gerd, Coras Hufe auszukratzen. Doch das Tier wirkte schon bald in höchstem Maße unruhig, weshalb Elke sich davorstellte. Sofort beruhigte es sich.

„Gerd, wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragte Elke. „Du musst dich voll auf Cora einstellen, sonst wird das nie etwas. Sie ist hier das friedlichste Pferd.“ Sie hielt einen Moment inne und trat schließlich an die linke Flanke des Tieres. Entschlossen nahm sie Gerd den Hufkratzer aus der Hand und bestand darauf, dass er ihr sagte, was mit ihm los sei.

„Nichts ist mit mir los“, behauptete Gerd.

Meike fasste den Jungen am Arm. „Ich erkenne das Pferd nicht wieder. Geh zur Seite, ich rede kurz mit ihm.“

Scheinbar erleichtert folgte Gerd ihrer Aufforderung.

Elke trat in wenigen Metern Entfernung vor das Pferd und richtete sich hoch auf. Augenblicklich senkte es den Kopf. Langsam breitete das Mädchen die Arme aus und ging auf Cora zu. Diese wich mit gesenktem Kopf zurück. Nun blieb Elke stehen, und es sah aus, als würden Mensch und Tier Zwiesprache halten. Wie in Zeitlupe trat Cora auf Elke zu. Sofort breitete diese wieder die Arme aus und ging dem Tier erneut ein Stück entgegen. Dabei wich das Pferd rückwärtsgehend aus. Nach einer Weile offensichtlicher Unterwürfigkeit hob es wieder den Kopf und sah das Mädchen an. Zum wiederholten Male schienen beide einen mentalen Dialog zu führen, bis das Tier dem Mädchen das schwere Maul auf die Schulter legte. Elke drückte ihre Wange an den weichen Hals des Pferdes. Dies alles spielte sich innerhalb gerade mal einer Minute ab. Coras lange Mähne streichelnd, trat Elke zur Seite und bat Gerd heran. Staunend beobachtete der Reitlehrer, wie sich Cora von dem Jungen ohne zu scheuen einen Huf nach dem anderen auskratzen ließ.

*

Später, im Haus angekommen, nahm Elke Gerd zur Seite. „Was ist mit dir?“

„Nichts. Das sagte ich dir doch schon.“

„Das glaube ich dir nicht.“

„Ich mache Schluss“, sagte der Junge endlich.

Elke erschrak. „Weshalb?“

Gerd antwortete nicht.

Sie fuhr ihn an: „Du kannst ruhig Schluss machen. Denk dabei aber bitte an andere, die ähnliche Probleme haben. Bist du wirklich ein solcher Egoist, dass du sie zurücklassen kannst? Willst du auch mich allein lassen? Ich mag dich und möchte dir helfen.“

„Lass mich in Frieden!“

Elke zog ihren Schulfreund an sich und strich mit ihrer Hand über seinen Kopf. „Lass mich nicht allein. Und überhaupt: Hast du deine Familie vergessen? Du wolltest doch für sie da sein.“

„Ich kann denen nicht helfen, so wie mir keiner helfen kann. Auch du nicht.“ Gerds Stimme klang gleichgültig.

Elke überlegte. Sie verfügte über die Willenskraft, sich gegen ein scheuendes Pferd zu stellen. Dazu gehörten starke Nerven, und man musste einiges darüber wissen, wie sich ein Pferd einem Menschen unterordnete, und das, wo sie doch viel kleiner war als Cora. An Gerd kam sie jedenfalls so, wie sie es bisher versucht hatte, nicht ran. Bei ihm war genau das Gegenteil gefragt. Elke musste versuchen, seinen Willen zu stärken. Sie mochte den sensiblen Jungen, und tief in ihrem Innern spürte sie, dass diese Zuneigung der Schlüssel zu Gerds Herzen sein konnte. Andererseits wusste sie um ihre Ohnmacht. Elke hatte sich von ihrem Vater aus seiner Internatszeit erzählen lassen und wie ihre Mutter ihm in schlechten Zeiten eine Stütze gewesen war. War sie, Elke, jetzt das für Gerd, was ihre Mutter früher für ihren Vater gewesen war?

Sie zog ihren Schulfreund noch fester an sich. „Lass mich dir helfen. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.“

Gerd versuchte, sich loszureißen. „Mich will keiner, warum soll ich dann andere brauchen?“

„Bin ich keiner?“, brauste das Mädchen auf. „Du denkst nur an dich, Gerd! Ich möchte auch lieber zu Hause sein als hier. Aber wenn es schon sein muss, dass ich hier die Schulbank drücke, möchte ich jemandem neben mir haben, den ich mag und dem ich vertrauen kann. Ich bin nicht gern allein.“

„Dafür bin ich der Falsche“, entgegnete Gerd.

„Nein!“, sagte Elke, und ihre Stimme klang trotzig. „Du bist genau der Richtige.“

Gerd sah sie an. „Elke, ich bin ein Teenager, der mit ansehen muss, wie der eigene Vater die Mutter halb totschlägt. Ich habe zu Hause keine Freunde, weil sich alle von diesem asozialen Haus fernhalten. Trotzdem liebe ich meine Familie. Vor allem meine Schwester.“

Das alles kannte Elke schon. Gerd hatte es ihr oft genug erzählt. Sie hatte Angst um diesen Jungen, der sich Stück für Stück aufgab. Einerseits wollte er nicht mehr leben, andererseits sehnte er sich nach seiner Familie. Elke begriff das nicht. Wenn man sich nach jemandem sehnte, ging man doch zu ihm, nicht von ihm weg. Sie wollte nichts lieber, als ihm helfen. War das Freundschaftsband zwischen ihr und Gerd so schwach, dass es nur noch wenig bedurfte, bis es riss?

Gerd befreite sich aus ihren Armen und entfernte sich wortlos. Wie versteinert stand Elke da. Sie hatte verloren, das war ihr klar. Oder? So leicht wollte sie nicht aufgeben.

Fest entschlossen lief sie hinter Gerd her. Ihre Gedanken rasten. War sie, wenn ihr Mitschüler sich tatsächlich das Leben nehmen wollte, überhaupt in der Lage, ihn daran zu hindern? Mit geistiger Kommunikation, wie bei Cora, war hier nichts anzufangen. Während sie über den Flur lief, spürte sie auf einmal einen Luftzug. Gleichzeitig bemerkte sie, dass die Tür zu dem Raum neben ihr offen stand. Jetzt war ihr alles klar. Jegliche Vorsicht missachtend, stürmte sie in den Raum und registrierte das offene Fenster. Davor, das wurde ihr in diesem Moment klar, stand kein anderer als Gerd und war im Begriff, sich auf das Fensterbrett zu knien. Wie in Zeitlupe schob er sich nach vorn. Elke schlich sich zu ihm und überlegte. Sollte sie ihn ansprechen? Womöglich würde er sich erschrecken und den Halt verlieren. Würde ihre Kraft dann ausreichen, ihn festzuhalten? Er durfte nicht springen. Bis hinunter in den Hof waren es vier, wenn nicht sogar fünf Meter! Fieberhaft überlegte sie, was jetzt das Beste wäre. Ja, sie musste ihn festhalten, aber nicht erst, wenn er fiel! Ihr Puls raste, als sie näher an das Fenster herantrat und beide Hände ausstreckte, um Gerds Beine zu packen. Doch sie griff ins Leere.