Der Lebensweg einer blinden Familie

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Kapitel 7

Erleichtert legte Meike den Telefonhörer auf. Doktor Wieselbach hatte angerufen, um Entwarnung zu geben. Der Hundedieb sei gefasst und geständig. Der Mann hatte den Auftrag gehabt, Labradore einzufangen und an einen Händler weiterzugeben.

Ist das also auch geklärt, dachte Meike. Irgendwie gingen ihr die Hiobsbotschaften der letzten Zeit auf die Nerven. Vom Badezimmer her hörte sie Frau Rehlein, ihre Hauswirtschafterin, schimpfen. Nichts Gutes ahnend, murmelte sie: „Blöde Kuh“, und ging zu ihr.

„Meike!“, rief Frau Rehlein ihr entgegen, und ihre Stimme klang anklagend. „Sie haben Ihre weißen T-Shirts verfärbt.“

„Was haben wir?“, fragte Meike dümmlich.

„Einer von Ihnen hat ein rotes T-Shirt zu der weißen Wäsche gegeben.“

Meike seufzte. „Unser Farberkennungsgerät hat den Geist aufgegeben. Deshalb habe ich versucht, die Wäsche mithilfe meines Sehrests zu sortieren.“

„Der scheint aber diesmal tüchtig versagt zu haben“, blaffte Frau Rehlein. „Da muss man mal jemanden fragen. Ich nehme das Zeug mit und versuche zu retten, was noch zu retten ist.“

Meike nahm sich vor, dieser Frau zu kündigen.

„Wie können auch zwei Blinde zusammenleben?“, keifte Frau Rehlein weiter. „Wenn Sie wenigstens ein sehendes Kind zustande gebracht hätten, das helfen könnte.“

Meike kannte das. Diesen Spruch hörte sie nicht zum ersten Mal, wenn ihr oder Uwe ein Fehler im Haushalt unterlaufen war. Doch jetzt reichte es ihr. „Wir bekommen wenigstens Kinder zustande. Bei Ihnen kann ja nur eine künstliche Befruchtung Abhilfe schaffen.“ Sie griff nach dem Wäschekorb. „Ab sofort lasse ich mir professionell helfen, selbst wenn ich doppelt so viel Geld dafür ausgeben muss wie bisher. Sie sind entlassen!“

Frau Rehlein stand wie versteinert da. „Heißt das, ich bin gefeuert?“

Meike, selbst arbeitslos, tat dieser Schritt zwar leid, aber auch ohne die böswillige Anspielung war die Haushälterin für sie nicht mehr tragbar. „Wenn Sie das so nennen wollen, ja! Mein Mann und ich lassen uns, nur weil wir blind sind, nicht beleidigen. Wir tun unser Bestes und kommen sehr gut klar. Da Sie das offenbar anders sehen, werden Sie sich wohl etwas Neues suchen müssen.“

„Es … es tut mir …“, stammelte Frau Rehlein.

„Leid?“, ergänzte Meike die halbherzige Entschuldigung. Kopfschüttelnd wies sie der Frau die Tür.

*

Wie Meike erwartet hatte, ging Uwe, als sie ihm später von dem Zwischenfall erzählte, an die Decke. „Hab ich dir nicht gesagt, dass eine wie Frau Rehlein hier fehl am Platz ist?“

Meike war inzwischen auch zu dem Schluss gekommen, dass eine Hauswirtschafterin vom freien Markt wohl tatsächlich die falsche Wahl gewesen war. Morgen würde sie beim Roten Kreuz anrufen. Zu Uwe gewandt sagte sie: „Ja, das hast du. Sie kommt ja nun auch nicht mehr wieder.“ Sie hielt kurz inne und sprach dann weiter: „Wir brauchen so schnell wie möglich ein neues Farberkennungsgerät.“

Uwe hob die Schultern. „Wir können versuchen, bei der Krankenkasse eins zu beantragen.“

„Das kann dauern“, entgegnete Meike.

„Die Dinger sind extrem teuer. Ich klappere morgen die Hilfsmittelstellen ab. Vielleicht können wir eins mieten. Dann rufe ich die Krankenkasse an.“

„Bei Letzterer werden wir kaum Glück haben“, zweifelte Meike. „Die lehnen doch alles ab. Wir mussten auch wegen Wendy und Falko in Widerspruch gehen.“

„Ich versuche es einfach. Sonst müssen wir eins auf Raten kaufen.“

Meike stöhnte. „Hinzu kommt, dass ich das zweifelhafte Glück habe, eine neue Hauswirtschafterin suchen zu müssen.“

Uwe kam zu ihr und küsste sie. „Genau, mein Schatz. Die alte hast du ja gefeuert.“

„Sie hat uns wegen Elke beleidigt“, verteidigte sich Meike. „Ich muss jetzt los.“

„Wohin?“

„Zum Arbeitsamt. Letztens fragten die mich, ob ich einen Führerschein habe. Außerhalb Berlins, genauer gesagt in Potsdam, gäbe es zwei Stellen, die für mich infrage kämen.“

Uwe schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Du solltest dich über deinen Arbeitsvermittler beschweren. Der ist ja wirklich zu blöd!“

Meike rief Falko zu sich und legte ihm das Führgeschirr an. Dabei berichtete sie: „Ich habe ihm erzählt, dass ich mein Auto verschenkt habe, weil mir die Fahrerlaubnis entzogen wurde. Auf seine blöde Frage hin, weswegen dies passiert ist, gestand ich ihm, dass ich als Blinde zu viel Straßenbäume überfahren habe und beim Rückwärtseinparken über den großen Zeh des Verteidigungsministers gerollt bin.“

„Was hat er dazu gesagt?“

„Nichts. Ich bin einfach gegangen.“ Meike wechselte das Thema. „Was tust du heute?“

„Ich muss auch bald los. Frau Streckelmann gibt sich wieder einmal die Ehre, mich an ihren Flügel zu lassen.“

„Ist das die mit dem Tomatensaft und dem Knäckebrot?“

„Genau die.“

„Na, dann guten Appetit.“

„Zu dem Tomatensaft werde ich nicht kommen. Sie wird mir wie immer wegen der Zahnspange ihrer Tochter ihr Weh klagen.“

Meike griff nach dem Führgeschirr, blieb aber nachdenklich stehen. „Wir müssen heute Elke anrufen. Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas passiert ist.“

Kapitel 8

Wie versteinert stand Elke vor dem offenen Fenster. Mit ihren Händen fuhr sie über das Fensterbrett und den Sims. Als sie beides leer fand, entrang sich ihre Kehle ein lauter, fast unmenschlich klingender Hilfeschrei.

Eine Sozialarbeiterin stürmte ins Zimmer und packte das Mädchen an den Schultern. Dann sah sie, dem Handzeichen Elkes folgend, Gerd scheinbar leblos im Gras liegen. „Hat er sich … Ich meine …“

„Ich wollte ihn noch festhalten …“ Elke schluchzte.

„Wir rufen den Notarzt, Gerd ist ins Gras gefallen. Vielleicht lebt er noch.“

*

„Er lebt noch, ist aber ohne Bewusstsein“, stellte wenig später der herbeigerufene Notarzt fest. Er diagnostizierte einen Schädelbasisbruch und einige Rippenbrüche.

*

Wo bin ich? Was ist mit mir los? Ich bin da und auch nicht da. Ich fühle nichts. Wer sind die vielen Menschen um mich herum. Ich kann mich nicht bewegen. Und was ist das? Wessen Hand tastet nach mir. Was will dieser Mann von mir? Ich möchte etwas sagen. Es gelingt mir nicht. Jetzt schwankt der Boden unter mir. Ich falle in die Unendlichkeit.

*

Elke lag in ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie hatte einen Schock erlitten und stand unter der Wirkung starker Beruhigungsmittel. Gerd war ihr bester Freund. Sie fühlte sich für den Jungen verantwortlich. Dabei hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihm zur Seite zu stehen und zu helfen. Sie hatte nicht genug tun können. Konnte sie ihm in ihrem Alter überhaupt eine Familie ersetzen? Konnte oder wollte sie ihm wirklich eine Schwester sein? Jetzt endlich musste Elke feststellen, dass sie dazu nicht in der Lage war.

*

Einige Tage später machte sie sich auf den Weg in das Krankenhaus, in das Gerd gebracht worden war. Auf ihr Verlangen hin wurde sie zum Stationsarzt vorgelassen.

Doktor Findeis, ein freundlicher, schon etwas ergrauter Mann, ging mit ihr in sein Sprechzimmer und ließ sie auf einem Besucherstuhl Platz nehmen. Er selbst setzte sich ihr gegenüber. Mit prüfendem Blick betrachtete er sie. Wie alt sie wohl sein mochte? Vielleicht sechzehn oder siebzehn, vermutete er. „Was darf ich für dich tun?“, fragte er schließlich.

„Es geht um Gerd Frohwin“, antwortete sie, und ihre Miene war unendlich traurig.

„Du meinst den Jungen, der vor ein paar Tagen aus dem Fenster gestürzt ist?“ Doktor Findeis vermied das Wort „Selbstmord“.

„Genau.“ Elke nickte. „Ich wollte fragen, wie es ihm geht.“

„Bist du eine Freundin von ihm?“

„Ja … Ich meine … Wir gehen zusammen in eine Klasse. Ich kümmere mich etwas um ihn, weil er keinen richtigen Kontakt zu anderen hat.“

„Und seine Eltern?“

Elke zögerte. „Er hat Eltern, aber …“ Der Arzt kannte die Hintergründe aus den Berichten der Sozialarbeiter und wechselte das Thema. „Gerd ist am Leben. Allerdings ist er schwer verletzt und liegt seit der Aufnahme in unserem Krankenhaus im Koma.“

„Darf ich zu ihm?“

„Im Grunde schon.“ Der Arzt überlegte. „Das wird dir aber nicht viel bringen, denn er ist nicht ansprechbar“, gab er zu bedenken.

„Ich möchte Gerd trotzdem besuchen.“

Doktor Findeis erhob sich und führte seinen Gast aus dem Sprechzimmer auf einen langen Gang.

Als sie wenig später an Gerds Bett stand, nahm der Arzt ihre Hand und legte sie auf die von Gerd. Diese fühlte sich warm an. Bis auf das rhythmische Piepen des Herzmonitors war es still im Raum.

„Gerd.“ Elke erwartete keine Antwort, war sich aber sicher, dass er sie hörte. „Ich bin’s, Elke, und möchte dich gern besuchen.“

„Es hat keinen Zweck“, mahnte der Arzt neben ihr. „Er kann dich nicht hören.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte sie leise.

„Aus medizinischer Sicht jedenfalls ist es nicht möglich.“

„Wie dem auch sei“, begehrte Elke auf. „Ich bin davon überzeugt, dass Gerd mich hört, und werde ab jetzt jeden Tag kommen, bis er aus dem Koma erwacht, oder …“

Doktor Findeis schüttelte den Kopf. Er war die Starrsinnigkeit von Patienten, mehr noch ihrer Angehörigen und Freunde, gewohnt.

 

Im Begriff, das Krankenzimmer zu verlassen, sagte er zu Elke: „Du darfst jeden Tag kommen. Es gibt keine festen Besuchszeiten. Ich frage mich allerdings, was das bringen soll.“

*

Ich höre Schritte. Sie entfernen sich. Eine Tür öffnet sich. Sie schließt sich wieder Jemand nimmt meine Hand. Eine mir irgendwie bekannte Stimme sagt meinen Namen. Was sagt sie? Sie spricht zu mir, meint mich. Mir ist alles egal. Jetzt entfernt auch sie sich.

*

Nachdem Elke eine Weile an Gerds Bett gesessen und zu ihm gesprochen hatte, verließ sie tief durchatmend das Krankenhaus. Ihren Entschluss hatte sie etwas voreilig gefasst. Wie lange würde sie es durchhalten, täglich hierherzukommen? Sie durfte die Schule nicht vernachlässigen, Cora brauchte sie, und auch für ihre Familie musste Zeit bleiben. Sie schüttelte den Kopf. Es musste irgendwie gehen! Wie das zu bewerkstelligen war, wollte sie sich später überlegen. Zunächst waren Hausaufgaben dran.

Im Internat angekommen, wurde Elke zur diensthabenden Sozialarbeiterin gerufen. Dort wartete ein Polizeibeamter auf sie.

Kapitel 9

Wie verloren stand Uwe auf einer großen Bühne in der Stadthalle. Einen Tag zuvor hatten er und Meike nach vielen erfolglosen Versuchen ihre Tochter erreicht. Was sie vom Sozialdienst erfahren hatten, bereitete ihm Kopfzerbrechen. Immer dann, wenn Elke zu Hause von ihrem Schulfreund gesprochen hatte, war er an Meikes fürsorgliche Art erinnert worden, die ebenfalls mit einer bedingungslosen Opferbereitschaft einherging. Elke war in Gefahr, die Schule, ja sich selbst für diesen Jungen aufs Spiel zu setzen. So weit war Meike nie gegangen. Sie hatte sich bisher stets zu schützen gewusst.

Uwe gab sich einen Ruck. Er befand sich auf dieser Bühne, um seinen Job zu machen, nicht um seinen Gedanken nachzuhängen. Jetzt war der Konzertflügel dran. Diesen zu stimmen war keine Kleinigkeit. Zu groß war zudem die Verantwortung, denn in weniger als vier Stunden sollte hier ein Klavierkonzert stattfinden. Wenn das schiefging, konnte er sich auf etwas gefasst machen. Er hatte schon mehrmals zu spüren bekommen, dass Konzertpianisten fachlich ebenso wie menschlich oft nicht einfach zu nehmen waren. Schon der Weg auf diese Bühne war für ihn voller Stolpersteine gewesen. In der Stadthalle hatte niemand gewusst, dass ein Klavierstimmer beauftragt worden war. Erst nach langem Suchen hatte man einen Verantwortlichen gefunden, der wiederum nur telefonisch erreichbar gewesen war. Bis dann endlich alles geklärt werden konnte, waren noch einmal wertvolle Minuten vergangen. Nun stand Uwe unter Zeitdruck. Für eine Konzertstimmung brauchte er mindestens zwei Stunden. Eine Stunde vor dem ersten Ton würde Einlass sein, und der Pianist stand bestimmt schon vorher auf der Matte. Entschlossen, die knappe Zeit zu nutzen, nahm Uwe endlich seinen Stimmschlüssel, zwei Filzkeile und eine Stimmgabel aus seinem Werkzeugkoffer und begann mit der Arbeit.

Nach einer Stunde kamen zwei Bühnenarbeiter zu ihm. „Sie sind ja schon bei der Arbeit!“, stellte der eine fest. „Wir müssen das Instrument auf die andere Seite schieben.“

Uwe glaubte, sich verhört zu haben. „Wollen Sie mir tatsächlich zumuten, die Kiste auf ihrem neuen Platz ein zweites Mal zu stimmen? Warten Sie mit dem Umbau, bis ich weg bin. Dann ist das nicht mehr meine Sache.“

„Tut uns leid, wir müssen das Ding jetzt umräumen.“

Uwe seufzte. „Dann schieben Sie eben die Kiste an eine andere Stelle, und ich fange noch einmal an. Das kostet, wen auch immer, das Doppelte, und ich berechne einen Erschwerniszuschlag. Und für den Fall, dass ich nicht rechtzeitig fertig werde, schiebe ich alle Verantwortung auf Sie.“

„Wir machen auch nur unseren Job“, entgegnete der eine.

„So wie ich“, gab Uwe genervt zurück. „Allerdings steht für mich mehr auf dem Spiel.“ Innerlich fluchend ging er dem davonrollenden Flügel hinterher.

*

Gerade noch rechtzeitig wurde Uwe mit seiner Arbeit fertig. Als er sein Werkzeug einpackte, bemerkte er, wie sich der Saal füllte. Zum Glück hatte sich der Hauptdarsteller des Abends noch nicht blicken lassen. Allerdings zeigte sich auch niemand, der Uwe abholen würde. So langsam wurde es ihm zu dumm. Er stand hier sozusagen auf dem Präsentierteller. Schließlich machte er gute Miene zum bösen Spiel, rief Wendy, die mitten auf der Bühne lag und sich die ganze Zeit nicht gerührt hatte, und legte ihr das Geschirr an. Dabei fühlte er sich, als wäre er die Hauptperson des Abends. Mit leiser Stimme wies er Wendy an, den Ausgang zu suchen, und hoffte, dass es tatsächlich einen gab und seine Hündin ihn nicht von der Bühne weg durch die bereits gefüllten Sitzreihen führte.

Zum Glück fand Wendy einen Seitenausgang. Uwe folgte ihr, ohne dabei auf irgendjemanden zu treffen. Ihm war jetzt auch alles egal. Sollten die ihn ruhig suchen. Er würde in den nächsten Tagen mit seiner Rechnung aufwarten und eine Beschwerde an die Stadt schicken, die sich gewaschen hatte.

*

Zu Hause angekommen, fand er Meike mit der Vorlesekraft im Wohnzimmer sitzend. Strahlend kam sie zu ihm in den Flur. „Ich muss dir etwas Freudiges erzählen!“

„Das muss ja was ganz Besonderes sein“, vermutete Uwe, der sich noch immer über seine Kundschaft ärgerte.

„Ich bekomme vielleicht bald einen Job.“

„Du bekommst was?“

„Begreifst du nicht? Ich bekomme möglicherweise eine Arbeitsstelle.“

„Wann?“, fragte Uwe, der mit seinen Gedanken noch nicht wieder in der Gegenwart angekommen war.

„Ich war beim Arbeitsamt“, entgegnete Meike, ohne auf seine Frage einzugehen. „Dort hat man mir von einer freien Stelle erzählt, die zu mir passen würde. Jetzt bin ich gerade dabei, eine Bewerbung aufzusetzen.“ Plötzlich wurde sie ernst. „Bevor ich die abschicke, müssen wir miteinander reden.“

„Was ist das für eine Stelle?“

„Eine Telefonzentrale in einem Krankenhaus.“

Uwe hakte nach: „Und wo steht dieses Krankenhaus?“

„In der Nähe unserer Tochter.“

„Wir müssten also umziehen.“ Uwe überlegte. „Mit einiger Mühe könnte ich die Berliner Kundschaft behalten.“

„Ich darf also die Bewerbung abschicken?“ Meikes Stimme klang hoffnungsvoll.

Uwe nahm sie in seine Arme. „Natürlich darfst du das. Ich möchte auch mal allein zu Hause sein.“

Meike gab ihm einen Klaps und ging wieder ins Wohnzimmer, wo die Vorlesekraft schon ungeduldig auf sie wartete.

Uwe eilte in die Werkstatt, um seinen Werkzeugkoffer auszuräumen. Dieser Raum war sein Reich. Er dachte an seine Werkstatt in der DDR zurück – ein schmutziger Kellerraum mit einem alten Ladentisch als Werkbank. Der jetzige Raum war viel moderner und befand sich in ihrem eigenen Heim. Er und Meike hatten das Haus mit Garten vor einigen Jahren gekauft. Während des Einrichtens der Räume hatten sie darauf geachtet, dass jeder seine Rückzugsmöglichkeit bekam. Für Uwe war es die Werkstatt. Er stutzte: Wenn Meike die Arbeitsstelle bekam, würden sie auch ihr Haus aufgeben müssen. Tief durchatmend überlegte er, was das bedeuten würde, und kam zu dem Schluss, dass es für alles eine Lösung gab. Er schüttelte seine Gedanken ab und verglich die Liste seiner Bestellungen mit dem bereits eingegangenen Material. Die Tastenbeläge waren immer noch nicht eingetroffen. Der Firma, die diese anbot, würde Uwe schon Beine machen!

Kapitel 10

Verzweifelt sah Katja Nieß auf das Telefon.

„Was ist?“, fragte Bianka Riker, die ihr gegenübersaß.

„Es gibt einhundertneunzehn bundesweite Telefonbucheinträge mit dem Namen ‚Uwe Jäger‘.“

„Hast du es mit ‚Meike Zieling‘ versucht?“

„Davon gibt es deutlich weniger, nämlich zehn bundesweite Einträge. Die habe ich gestern schon versucht. Keine von denen ging in unsere Klasse. Wir wissen ja nicht einmal, ob Meike noch lebt. Seit 1980 ist sie spurlos verschwunden.“

„Was Uwe betrifft, müssen wir versuchen, ihn über seinen Beruf zu finden“, entschied Bianka nach einiger Zeit des Nachdenkens.

„Bist du dir sicher, dass er noch als Klavierstimmer arbeitet?“, fragte Katja zweifelnd.

„Da müssten wir mal recherchieren. Fragt sich nur, ob er überhaupt Interesse an einem Klassentreffen hat. Meike können wir wahrscheinlich vergessen. Wer weiß, wie die jetzt heißt.“

Katja stöhnte: „Bianka, wir haben 1979 die Schule verlassen. Jetzt ist es 1999. Ein Versuch schadet doch nicht. Ich probiere es noch mal mit Uwe.“ Damit rief sie erneut die telefonische Auskunft an. Diesmal schien sie Glück zu haben. Die Suche ergab nur einen Anschluss. „Bingo“, rief Katja aus. „Uwe Jäger, Klavierstimmer, Berlin-Neukölln.“

*

Meike war gerade dabei, Falko zu putzen, als das Telefon klingelte. Sie ließ, der Störung wegen fluchend, den Kamm fallen und rannte ins Wohnzimmer.

„Hallo, ich bin Frau Nieß“, meldete sich eine ihr von irgendwo her bekannte Frauenstimme. „Könnte ich bitte Herrn Uwe Jäger sprechen?“

Meike vermutete eine Kundin und bat um etwas Geduld. Nach einigem Suchen fand sie Uwe in der Werkstatt. „Kennst du eine Frau Nieß?“

„Nein, weswegen?“

„Sie möchte dich sprechen.“

„Wer möchte das nicht?“ Uwe lachte. „Selbst du möchtest mich ab und zu mal sprechen.“

„Rede nicht so viel, sondern komm mit. Vielleicht ist es eine heimliche Verehrerin.“

„Ich habe nur eine Verehrerin.“

Meike boxte ihren Mann in die Seite. „Das diskutieren wir später aus.“

„Jäger“, meldete sich Uwe knapp. Er verspürte keine Lust, freundlich zu sein.

„Uwe, bist du das?“

„Bisher ja. Darf ich jetzt wissen, wer Sie sind?“

„Erkennst du mich denn nicht?“

Uwe beschlich ein dumpfes Gefühl. Meike kam zu ihm und betätigte die Lauthörtaste.

„Ich bin Katja Nieß.“

Meike zog fauchend die Luft ein. Katja hatte im Internat oft versucht, sich zwischen sie und Uwe zu stellen. „Was wollte diese Frau nach zwanzig Jahren?“

Erstaunt fragte Uwe: „Wie hast du mich gefunden?“

„Mithilfe der Telefonauskunft. Bianka und ich planen ein Klassentreffen und wollten dich fragen, ob du kommen würdest. Wir haben fast alle zusammen.“

„Was heißt ‚fast‘?“

„Außer uns sind Sonja, Dietrich und Katrin dabei. Anita möchte nicht kommen. Und wo Meike ist, wissen wir nicht. In ganz Deutschland gibt es zehn Einträge mit dem Namen ‚Meike Zieling‘, aber keine ist die richtige.“

Uwe grinste und stieß Meike an, die ein Lachen kaum unterdrücken konnte. „Ich kann sie ja mal suchen“, schlug er vor und versprach, schon bald zurückzurufen. Nachdem er Katjas Nummer notiert hatte, legte er auf und drehte sich zu Meike um. „Was meinst du dazu?“

„Wozu?“

„Zu der Idee mit dem Klassentreffen.“

„Du hast doch selbst gehört, dass es mich nicht gibt. Dann ist meine Meinung doch nicht wichtig.“ Ihre Miene war ausdruckslos. „Bei der Sache stört mich, dass ausgerechnet Katja anruft. Deshalb überlege ich, ob es mich vielleicht doch geben soll. Immerhin hat sie jetzt unsere Telefonnummer.“

„Was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragte Uwe.

Meike überlegte: „Lass Katja etwas zappeln. Fest steht, dass ich bei einem Klassentreffen nie mitmachen werde.“

Uwe knurrte. „Ich habe auch keine Lust, die Leute wiederzusehen.“

„Dann ruf sie morgen an und sag, dass du kein Interesse hast. Und mach am besten dieser Katja klar, dass es sehr wohl eine Meike Zieling gibt, die jetzt allerdings Jäger heißt und deine Frau ist.“ Meike atmete tief durch. „Wann hört das endlich auf?“

Uwe sah sie erstaunt an. „Was meinst du?“

„Ach, ich habe die Schnauze voll von der Vergangenheit. Erst taucht Manuela wieder auf, dann auch noch die halbe Klasse. Und warum ruft ausgerechnet jetzt Katja an, die dir damals ständig nachgelaufen ist? Hau doch ab und geh zu deinen Weibern!“

„Das sind nicht meine Weiber!“, begehrte Uwe auf. „Was regst du dich überhaupt so auf?“

Meike ließ nicht locker. „Was wollte Manuela nach so langer Zeit wirklich von dir? Ist diese Anke vielleicht doch deine Tochter? Von der Zeit her würde es passen.“

 

„Meike, komm zu dir!“ Uwe schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich frage dich nicht, wie viele Männer du hattest, während ich mich auf der Flucht befand. Und wer weiß schon, von wem Elke ist. Also lass Manuela aus dem Spiel. Ankes Vater heißt Helmut. Als ich damals bei Manuela war, war Anke ein Kleinkind und befand sich im Kinderheim. Aber was sag ich da? Das habe ich dir doch lang und breit erzählt. Außerdem hatte ich keinen Sex mit Manuela, aber auch das weißt du bereits.“

„Du warst mit dieser Stasinutte im Bett. Das reicht mir.“

„Ach, und was war mit dir?“ Uwes Augen funkelten und seine Stimme klang zornig. „Du warst auch mit einem Kerl im Bett. Angeblich wollte er dich vergewaltigen. War es schön unter ihm?“ Mit hochrotem Gesicht rannte er aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

*

Wendy sprang aus ihrem Korb und rieb sich an Uwes Bein. Nachdem Uwe ihr Geschirr geholt und es ihr angelegt hatte, verließ er mit Wendy das Haus. Es regnete in Strömen, aber er spürte es nicht. Tief in Gedanken versunken zog er los. Auch ihn störte die ständige Wiederkehr der Vergangenheit. Katjas Anruf hätte wirklich nicht sein müssen. Meike war schon in der Schule auf sie eifersüchtig gewesen, weil Katja alles darangesetzt hatte, sie und Uwe auseinanderzubringen. Während der Berufsausbildung hatte sich Katjas Verhalten jedoch schlagartig geändert. Je fester die Verbindung zwischen ihm und Meike geworden war, desto weiter hatte sich die Rivalin entfernt. Es gab also keinen Grund für Meike, jetzt wieder eifersüchtig zu sein.

Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, nahm Uwe Wendy das Geschirr ab und ließ sie frei laufen. Zögernd blieb er stehen, nahm sein Handy und gab die Nummer von Timmroths ein. Nach einigen Rufzeichen wurde das Gespräch angenommen. Uwe unterhielt sich lange mit seinem Freund, den Regen spürte er nicht. Eine Weile schon stand Wendy an seiner Seite. Sie spürte die Stimmung ihres Herrchens und wartete geduldig. Endlich schob er das Handy in die Tasche und legte seiner Hündin das Geschirr wieder an. Dem Ratschlag des Freundes folgend, ging er nach Hause. Dort würde er mit Meike reden. Er fand sie im Schlafzimmer neben einem offenen Koffer.

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